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Lass Mich Los!
Lass Mich Los!
Da stand ich nun einsam und verlassen vor dem großen gusseisernen Tor zu einer Welt, in deren Klostermauern das Leben streng geregelt verlief. Ein Tor, durch das ich die nächsten neun Jahre so oft gehen würde. Und wenn ich es eines Tages das letzte Mal verlasse —bin ich dann erwachsen? Bin ich dann klug und schön und fromm? Papa winkte mir ein letztes Mal und verschwand hinter der nächsten Ecke. „Staatliches Gymnasium an der Stadtmauer“. Der große fremde Schriftzug sah mich streng an und ich musste unwillkürlich an die Vergangenheit dieses Gemäuers denken… ursprünglich ein Franziskanerkloster. Vor der Turnhalle ist schon so manches Mal der ein oder andere Schädel aufgetaucht und diente der Belustigung in Form eines Fußballs. Später unter Dr. Faust ein Gymnasium, wurde es in beiden Weltkriegen zerstört und wieder aufgebaut. Am Quadratischen Grundriss hatte sich nichts geändert. Der Kreuzgang, jetzt zubetoniert, diente den Jüngsten als Refugium, zu dem die älteren Schüler keinen Zugang hatten. Minute um Minute verstrich, bis der Schulhof sich füllte und eine laute Menschenmasse mich verschlang. Ich fühlte mich klein und verloren zwischen anderen Kindern, großen Kindern und vielen, vielen Erwachsenen und manchen sehr alten Menschen. Omas und Opas oder Lehrer? 13-Schüler oder junge Lehrer? Oder sogar Eltern? Ich wollte mich ganz klein machen und von niemand gesehen werden. Am liebsten hätte ich mein Gesicht in Mamas blonden Haaren versteckt. Aber Mama war nicht da. Und ich wollte weinen. Nein, das darf ich nicht! Tapfer schluckte ich die Tränen runter, so wie ich es schon oft gemacht hab, immer wenn Mama wegging und mich allein bei ihren Eltern lies.
Ich mochte sie nie leiden. Dafür, dass ich immer Rechenübungen machen musste, dafür, dass ich nie spielen durfte, dafür, dass ich immer irgendwo helfen musste, dafür dass sie sich immer nur anschrieen. Jede Rebellion wurde unterdrückt. Ich war ein Musterkind, einwandfrei dressiert wie die englische Spanielhündin Juliette.
Da kullerte auch schon eine widerspenstige Träne meine Wange herunter. Verstohlen wischte ich sie weg und schlich wie ein kleiner Hund hinter dem großen grünen Schild her: „Klasse 5d“. „Du bist maßlos verweichlicht“, sagte ich mir streng.
Eine alte Frau mit grauen Haaren und einem unfreundlichen Gesicht trug das Schild. Trocken kontrollierte sie die Anwesenheit und begann eine lange Rede herunterzuleiern, während ich meinen Blick durch meinen neuen Klassenraum schweifen lies: riesig und kahl, mit bröckelndem Putz, alten Leuchtstoffröhren und einer Tafel, die mit weißen Staub überzogen war.
Die heiße, staubige Luft flimmerte. Zwei Augen warfen mir einen schnellen Blick zu. Dann blieben sie an mir hängen und sahen mich unverwandt an. Sie waren gelb und grün gesprenkelt, schräg geschnitten. Eine lange Lidfalte zog sich über Zentimeter hin. Ich konnte die seltsamen Augen nicht loslassen. Sie sahen nicht weg. Sanft, und verträumt und zugleich lebhaft blickten sie mich an. Sie suchten nicht, sie musterten nicht, sie fragten nicht. Keine Neugier, keine Überraschung, keine Scheu. Und ich verspürte kein Bedürfnis, mich umzudrehen. Sie hatten mich an die Hand genommen und aus dem Strom der Zeit gezogen. Wir standen daneben. Alle anderen durften Fremde bleiben. Und wir brauchten unsere Namen nicht.
Die fremde Flut freudig jubelnder Kinder spülte mich mit sich hinaus, und ich war wieder allein. „Die Jungs fangen die Määääädchen!“ schrie jemand und kreischend stürzten die Mädchen auseinander. Ich blieb stehen. Mir war jetzt ganz und gar nicht rennen, ich würde nur schwitzen und meine Kleider würden kleben und – ich schreckte zusammen. Direkt vor mir stand eine Gestalt. Sie stand so nah an mir, dass sie mich fast berührte, zwischen uns nur wenig fingerbreiten Abstand. Die gelben Augen hatten mich wieder. Sie strahlten aus einem blassen Gesicht mit rosa Wangen, einer Stupsnase und Sommersprossen, umgeben von kurzem, wasserstoffblondem Haar. Er streckte langsam seine Hand aus und legte sie an meinen Halsansatz. „Vollmond“ sagte er und schob mich nach hinten. „Laufen Sie um ihr Leben.“. Und ich begann zu laufen. Immer schneller, lief ohne zu wissen wohin, warum, kreuz, quer durch die Massen fremder Menschen, fremder Mauern. Ich lief und wusste, dass er nur wenige Schritte hinter mir war. Ich lief, bis ich ganz außer Atem war, mein Puls raste und ich nicht mehr weiterlaufen konnte. Da griff auch schon eine Hand nach meinem Handgelenk, nach einem und dann nach dem anderen. Zwei große helle Hände hielten meine Handgelenke fest, dass es wehtat. „Ich hab Sie. Jetzt kommen Sie ins Gefängnis.“ Erschöpft fügte ich mich seinem Willen. Ein bizarrer Kick. Ich lasse jemanden einfach bestimmen was ich tue. Er entscheidet. Und ich darf die Beute sein. Ich die Gejagte und er der Jäger. Gefangen! Meine Handgelenke schmerzten. Schmerzten anders als sonst. Ein süßer Strom Schmerzen strebte durch meine Adern in den ganzen Körper. Das Spiel gefiel mir. Erschöpft aneinandergelehnt saßen wir beide im „Gefängnis“, einer kleinen Gruppe Bäume an einer kleinen Mauer. Atmeten schnell und tief, noch ganz erhitzt und feucht geschwitzt. Er hielt zufrieden meine Hand fest und wir sprachen kein Wort. Wir brauchten keine Worte. Worte brauchen Menschen, wenn sie sich nicht verstehen können aber es versuchen. Aber sie bewirken nur das Gegenteil.
Du hast mich damals gefangen genommen. Meinen Geist, meinen Verstand, mein Fühlen, meine Sinne, mein Wesen, und meinen Körper. All die Jahre hab ich dich bei mir getragen, und dein Schatten wird mich nicht verlassen.