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La'Raina - Geburt
Ich stehe in der Tür unserer Hütte, als Rashim mit dem Abendessen nach Hause kommt. Diesmal ist es ein Hirsch, den er über der Schulter trägt. Davon können wir gut ein bis zwei Wochen leben. Ich lächele Rashim an. „Wie war die Jagd?“
Er sieht mich an. Liebevoll. „Sie war gut. Alle, die dabei waren, haben etwas gefangen. Schade, dass du nicht mitkonntest, Miria.“
Dazu nicke ich nur. Ich bin heilfroh, dass mein von der Schwangerschaft gerundeter Bauch mir die Entschuldigung gibt, von der Jagd fernzubleiben. Familien jagen eigentlich immer gemeinsam. Jeder nimmt an der Jagd teil, sobald er fünfzehn Monde erlebt hat. Und allen macht es Spaß. Nur mir nicht. Rashim weiß das auch, aber er zieht es vor, meine Abnormität weitestgehend zu ignorieren, was ihm meist auch recht gut gelingt. Nur ich selbst kann mich vor meiner Abscheu vor der Jagd nicht verschließen. Mir wird schlecht bei dem Gedanken daran, dass alle von mir erwarten, dass ich wieder daran teilnehme, sobald ich entbunden habe.
Ich beobachte Rashim, wie er den Hirsch hinter dem Haus an den Hinterbeinen aufhängt und ihn dann zum Ausbluten vom Bauch bis zur Kehle aufschneidet. Als Rashim fertig ist, sagt er nur: „Ich gehe mich waschen,“ und läuft mit zügigen Schritten in Richtung Bach. Ich hole ein scharfes Messer aus der Hütte und schneide zwei Portionen Fleisch vom Schenkel des Hirsches. Dabei bemerke ich, dass Rashim auf dem Heimweg schon genascht hat. An der Flanke des Tieres ist ein Stück herausgerissen. Mich schüttelt es. Je weiter meine Schwangerschaft fortschreitet, desto mehr Probleme bekomme ich mit so etwas. Gezwungen nicke ich unseren Nachbarn zu, die ihr frisches Wildschwein bereits roh verschlingen. Essen im Kreis der Familie nennt man das bei uns im Dorf. Ich verstehe gar nicht, wieso mir bei diesem Gedanken so übel wird, schließlich machen das alle so. Es ist normal. Lediglich ich bin nicht normal. Gelegentlich wird das Fleisch auch gebraten, zum Beispiel auf den vielen Dorffesten, auf denen es Fleisch vom Lagerfeuer gibt, aber Rashim und ich sind eine der ganz wenigen Familien, die überhaupt eine Pfanne besitzen. Ich habe sie von meinen Eltern, die sie nicht mehr brauchen, seit ich mit Rashim zusammenwohnen. Ich glaube, sie haben die Pfanne von einem fahrenden Händler, der sich vor Jahren in unser Dorf verirrt hat. Ich nehme die von mir abgetrennten Fleischstücke und gehe in unsere Hütte, wo ich anfange, sie zu braten. Der Geruch lässt meinen Magen knurren. Ich habe wirklich Hunger.
Ohne mich umzudrehen weiß ich, dass Rashim wieder da ist. Er tritt hinter mich und umarmt mich, während er demonstrativ schnuppert. Dann murmelt er in mein Ohr: „Das riecht köstlich, Miria.“
Ich lächele und nicke. Ich weiß, dass er das nur sagt, um mir eine Freude zu machen. Ihm wäre es lieber, wenn ich das Fleisch überhaupt nicht braten würde, aber er toleriert meine Eigenheiten. Sowieso nimmt er mehr und mehr Rücksicht auf mich in letzter Zeit. Er schiebt alles auf die Schwangerschaft, aber ich weiß, dass sie die Probleme nur verstärkt und nicht verursacht. Ich war schon immer anders als alle anderen in unserem Dorf, und ich schäme mich dafür. Zeit meines Lebens habe ich versucht, mich anzupassen, aber es will mir einfach nicht gelingen. Mit Absicht nehme ich Rashims Fleisch aus der Pfanne, nachdem ich es von beiden Seiten ganz kurz angebraten habe. Meines brate ich gut durch. Dann setzen wir uns gemeinsam an den Tisch und essen.
Rashim blickt bedeutungsvoll auf meinen Bauch und meint: „Was meinst du, ob es noch lange dauert?“
Ich lächele. Er ist so ungeduldig, während ich am liebsten gar nicht entbinden würde, um die Konfrontation mit meinen Problemen möglichst weit von mir zu wissen. Rashim jedoch kann es kaum erwarten, unser erstes Kind in seinen Armen zu halten. „Nein, es dauert bestimmt nicht mehr lange. Sie dir doch an, wie rund ich geworden bin. Es kann eigentlich jeden Moment soweit sein.“
„Hast du dir schon einen Namen überlegt?“
In unserem Dorf ist es Sitte, dass die Mutter den Namen für ihr Neugeborenes wählt. Ich weiß natürlich schon, wie mein Kind heißen wird. Einen Jungen werde ich Tashan nennen und ein Mädchen Siris, allerdings werde ich das Rashim natürlich nicht verraten. Er wird es erst am Tag der Geburt erfahren, wie jeder andere Vater auch.
Fröhlich lache ich Rashim an. „Du weißt doch, dass ich es dir nicht sagen darf. Du solltest gar nicht danach fragen.“
Er lächelt, während er sanft meine Hand nimmt und sie zärtlich streichelt. „Ich weiß, aber ich bin so neugierig. Meinst du nicht ... ?“
„Nein. Ende der Diskussion.“
Energisch entziehe ich ihm meine Hand, bevor er auf die Idee kommt, seine Zärtlichkeiten zu erweitern und ich vielleicht doch noch schwach werde. Dieser Mann weiß verdammt genau, wie er mit mir umzugehen hat. Und ich liebe ihn dafür. Eine Weile sitzen wir einfach lächelnd am Tisch, jeder versunken in den Anblick des anderen. Wir sind noch nicht lange verheiratet, gerade so lange, wie es braucht, um ein Kind zu zeugen und – beinahe – auszutragen.
„Fühlst du dich auch bestimmt wohl?“
Die Frage reißt mich aus meinen Gedanken. Verwirrt nicke ich. „Warum fragst du mich das?“
Rashim druckst eine Weile herum, bevor er schließlich doch ausspricht, was ihn beschäftigt: „Na ja, Sora war noch auf der Jagd, zwei Tage bevor sie Urion zur Welt gebracht hat, und auch die anderen Frauen haben nie so früh damit aufgehört wie du. Es wird geredet im Dorf. Sie sagen, du seihst krank, schwach.“
Schwach ist ein verpöntes Wort in unserem Dorf. Erstaunlich, dass Rashim dieses Thema jetzt erst anspricht, es ist immerhin über zwei Monate her, dass ich das letzte Mal mit ihm jagen war. Ich mache eine abwinkende Handbewegung, von der ich hoffe, dass sie lässig aussieht. „Ich bin keineswegs schwach. Ich war nur sowieso noch nie gut im Jagen, und in diesem Zustand hätte ich wahrscheinlich deine Beute auch noch verscheucht, wenn ich dich weiterhin begleitet hätte. Und da ich dieses Baby mit irgendetwas füttern will ...“
Rashim lacht leise. „Da ist wohl was dran. Ich glaube, ich kann an einer Hand abzählen, wie oft du Beute nach Hause gebracht hast.“
Wie gut, dass er meine Erklärung schluckt. Er hätte nie verstanden, dass ich die Jagd einfach hasse. Wie sollte er auch? Ich verstehe es ja selbst nicht. In meinem Versuch, mich überall möglichst anzupassen, bin ich natürlich immer mit auf die Jagd gegangen, erst mit meinen Eltern und jetzt mit Rashim. Und seit meiner ersten Jagd bin ich als die miserabelste Jägerin des Dorfes verschrien. Das macht mir nicht das geringste aus. Viel schlimmer wäre es, wenn irgendjemand ahnen würde, dass ich aus voller Absicht nie Beute schlage. Ich habe erst dreimal ein Tier getötet, und das auch nur, weil die anderen es mir praktisch in die Arme getrieben haben und ich mich, hätte ich die Tiere nicht erlegt, selbst mit völliger Unfähigkeit nicht mehr hätte herausreden können.
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Mitten in der Nacht schrecke ich auf. Ich fühle mich ein wenig orientierungslos, weiß nicht, was mich geweckt hat. Dann spüre ich es wieder, dieses Ziehen im Bauch. Es ist soweit. Ich weiß nicht recht, ob ich mich freuen soll. Die Schwangerschaft war eine gute Ausrede, mich vor meinen Pflichten zu drücken. Eine Weile bleibe ich ruhig liegen und starre die Decke an, während Rashim neben mir schläft. Ich weiß von den anderen Frauen, dass ich noch Zeit habe. Die Wehen schmerzen nicht einmal sehr, es sticht nur ein wenig.
Ich konzentriere mich darauf, ruhig zu atmen, als es plötzlich geschieht. Irgendetwas ergreift Besitz von mir, strebt danach, mich zu kontrollieren. Ich wehre mich, kämpfe dagegen an, gegen den dunklen Strudel, der versucht, mich herabzuziehen. Die Schmerzen werden schlimmer, fast schon grausam, als zerreiße mir etwas den Leib. Mein Wille wird schwächer, Angst, fast schon Panik steigt in mir auf. Ich will neben mich greifen, Rashim wecken, um Hilfe rufen, aber irgendetwas lässt mich nicht. Ich kann mich nicht rühren, und das Baby kommt. Ich keuche, mein Atem geht rasselnd, viel zu schnell. Ich bekomme keine Luft mehr, kämpfe verzweifelt um jeden Atemzug, während mir vor Schmerz schwarz vor Augen wird. Ich spüre, wie ich meinen Kampf verliere, dabei weiß ich nicht einmal, wogegen ich kämpfe, was so düster ist, dass es mich herabzuziehen droht. Was so stark ist, dass ich nicht dagegen ankomme.
Ich spüre, wie ich mich verwandle. Nicht weil ich es will, wie sonst, sondern weil mich etwas dazu zwingt. Es geht auch nicht schnell und geschmeidig, wie sonst, sondern langsam und schmerzhaft. Die Form meines Schädels verändert sich, meine Ohren werden größer und meine Augen verengen sich zu Schlitzen. An meinem ganzen Körper sprießt Fell und ich spüre qualvoll jedes einzelne Haar. Meine Hände und Füße werden zu Tatzen, meine Nägel zu Krallen. Es macht mir Angst, dass ich mich ausgerechnet jetzt verwandle. Es ist in unserem Dorf noch nie vorgekommen, dass eine Frau nicht in ihrer menschlichen Gestalt entbunden hat, und ich weiß nicht, warum das bei mir anders ist. Doch sosehr ich diese andere Gestalt auch hasse, ich kann nichts gegen meine Verwandlung tun. Ich habe keine Macht mehr über meinen Körper.
Ganz plötzlich hören die Schmerzen auf. Es ist der einzige Hinweis darauf, dass die Verwandlung abgeschlossen ist. Auch die Wehen schmerzen kaum noch, obwohl sie schon in sehr kurzen, regelmäßigen Abständen kommen. Ich will mich bewegen, aber ich kann es nicht. Es ist, als wäre ich eine Gefangene in meinem eigenen Körper, vollkommen hilflos. Ich spüre das Ding, das mich kontrolliert, immer noch in mir. Geschmeidig erhebt sich mein Körper auf alle viere. Ich sehe kurz Rashim in meine Blickfeld, der tief und fest schläft, dann verlasse ich die Hütte. Die Nachtluft ist kalt, erfrischend. Ich habe Angst. Wer oder was kontrolliert meinen Körper? Unmengen Fragen in meinem Kopf, auf die ich keine Antwort habe. Wir rennen in den Wald. Düster und gespenstig ist es hier. Immer weiter laufen wir, immer tiefer. Die Kontraktionen in meinem Leib werden immer heftiger, immer schneller, und ich weiß, dass ich nicht mehr viel Zeit habe. Wir laufen weiter, immer weiter, bis wir auf eine Lichtung geraten. Dort legen wir uns hin, und kaum liegen wir, da spüre ich es auch schon, das Baby, das kommt. Ich bete darum, dass alles gut geht, ich habe hier niemanden, der mir hilft, bin ganz alleine. Ich habe panische Angst, vor der Dunkelheit des Waldes und vor allem vor dem Ding, das Besitz von mir ergriffen hat. Ich zwinge mich dazu, an etwas anderes zu denken, an etwas schönes. An Rashim, der immer für mich da ist, an meine Eltern, die mich sehr lieben. Ich spüre, wie meine Kraft mich verlässt, der Kampf um meinen Körper hat mich ausgelaugt. Als die Bewusstlosigkeit kommt, nehme ich sie fast schon dankbar an.
Ich werde wach davon, dass mich etwas in den Bauch stupst. Mühsam öffne ich die Augen, froh, dass dieser Alptraum ein Ende hat. Ich liege zusammengerollt in der Fötushaltung, und als ich mich umsehe, stelle ich mit Schrecken fest, dass ich noch immer auf der Lichtung im Wald bin. Und ich habe noch immer nicht meine menschliche Gestalt, wie mir ein Blick auf meine Tatze verrät. Ich habe nicht geträumt. Dennoch atme ich erleichtert aus, denn ich habe die Kontrolle über meinen Körper wieder.
Etwas orientierungslos stütze ich mich auf meine Vorderbeine, und da ist es wieder, dieses Stupsen an meinem Bauch. Ich blicke herunter und da ist es, mein Baby. Verlangend, durstig, sucht es nach einer Zitze. Auch das Kleine hat keine menschliche Gestalt, und das ist es, was mich letztlich aus meinem tranceartigen Zustand reißt. In unserem Dorf lernen die Kinder frühestens nach drei oder vier Monden, sich zu verwandeln. Ich verstehe das nicht. Warum hat mein Baby diese Gestalt? Während ich verstört nachdenke, hat das Kleine schließlich eine Zitze gefunden und beginnt, gierig daran zu saugen. Sofort verwandle ich mich zurück in einem Menschen, ich will dieses Baby dazu zwingen, es mir gleichzutun. Ich will es in dieser Gestalt nicht ernähren. Doch das Kleine bleibt wie es ist. Seine Augen sind noch nicht geöffnet, doch als ich versuche, es zu streicheln, schnappt es mit scharfen kleinen Zähnen nach meiner Hand. Als sei ich eine Bedrohung und nicht seine Mutter. Erschrocken ziehe ich mich zurück, dabei bemerke ich die kleinen Blutflecken auf meinem nackten Bauch. Wie von einer Schnauze. Gedankenverloren blicke ich auf die Nachgeburt, dann auf das Baby. Als ich näher hinsehe, erkenne ich das rote Blut im schwarzen Fell des Kleinen. Es hat an der Nachgeburt geleckt, oder damit gespielt, angezogen vom Geruch des Blutes. Bei dem Gedanken wird mir übel, ich muss mich übergeben.
Was ist das für ein Ding, das ich da geboren habe? Ich strecke meine Hand erneut nach dem Kleinen aus, zucke diesmal nicht zurück, als es nach mir schnappt. Kleine Zähne bohren sich in meine Hand, es tut ein wenig weh, ist aber nicht wirklich schmerzhaft. Ich blute ein bisschen und das Baby schnurrt, scheint den Geschmack von Blut zu mögen. Mir wird wieder schlecht, diesmal jedoch habe ich mich besser unter Kontrolle und hebe das Kleine vorsichtig in meine Arme. Es faucht und die kleinen Krallen bohren sich in meine Haut, auch das jedoch nicht wirklich schmerzhaft bei einem so jungen Wesen. Es ist ein Mädchen, stelle ich fest. Ich weiß nicht, wie ich es dazu bringen soll, sich zu verwandeln, doch ich weiß, ich werde nicht mit diesem Ding auf dem Arm den Wald verlassen. Ich setze mich auf den Boden, an einen Baum gelehnt, und warte. Ich friere, doch es ist mir egal. Ich halte die Kleine warm, so gut ich es eben ohne Kleidung kann. Ich warte. Nach einer Weile beruhigt sich das Wesen in meinen Armen, kurze Zeit darauf schläft es ein. Auch ich döse ein wenig, erschöpft von der Geburt, meinen Kopf an den Stamm des Baumes hinter mir gelehnt.
Ein lauter, durchdringender Schrei lässt mich aufschrecken. Hastig sehe ich mich um, doch da ist niemand. Nur das kleine Mädchen in meinen Armen, und aufgrund meiner schläfrigen Benommenheit brauche ich einen kurzen Moment, bis ich realisiere, dass sie es ist, die schreit. Ihr Anblick erleichtert mich. Rosa Haut, winzige, zierliche Finger und Zehen, pechschwarzer Flaum auf dem Kopf. Als ich jedoch in ihre Augen blicke, stockt mir der Atem. Ihre Augen sind gelb. Raubkatzengelb. Niemand von uns hat gelbe Augen, nicht in seiner menschlichen Form. In diesen Augen steht ein unbeschreiblicher Hunger, die Gier nach etwas, was ich nicht zu deuten vermag. Ihre Augen sind nicht menschlich, und obwohl ihre Gestalt die eines Menschen ist, weiß ich, dass ihr Inneres es nicht ist und auch nie sein wird. Ich weiß es einfach.
Eine weitere Erkenntnis trifft mich wie ein Blitz. Sie war es! Sie war es, die mich kontrolliert hat, die meinen Körper verwandelt hat und mich in den Wald geführt hat. Sie hat dafür gesorgt, dass sie nicht im Bett von einem Menschen geboren wird, sondern im Wald von einem Raubtier. Bei diesem Gedanken werfe ich sie beinahe von meinem Schoß, kann mich gerade noch davon abhalten. Hungrig sucht ihr Mund nach Milch, doch ich will sie ihr nicht geben, weiß nicht mal, ob ich es überhaupt könnte. Das hier ist ein Alptraum, doch ich weiß, es gibt kein Erwachen. Ich habe ein Monster geboren und ich kann nicht damit leben. Ich stehe auf und lege das Ding auf den Boden, gehe dann zurück und setze mich wieder an meinen Baum. Ich betrachte das Wesen und ich habe kein Mitleid mit ihm, wie es dort so nackt und hilflos im Laub liegt.
Alles kommt in mir hoch, alles, was ich bisher unterdrückt habe. Ich hasse die Jagd, aber das ist nicht alles. Beim Geruch von frischem Blut wird mir schlecht, ich habe noch nie in meinem Leben rohes Fleisch essen können, ich verwandle mich nicht gerne, fühle mich nicht wohl in meiner anderen Gestalt. Ich mag es nicht, ein Tier zu sein, ich wäre viel lieber einfach nur ein ganz normaler Mensch. Ich weiß, dass es niemandem im Dorf so geht wie mir, aber ich weiß, dass es vor langer Zeit einmal jemanden gegeben hat, der das Dorf verlassen hat, aus dem gleichen Grund, aus dem ich ihm den Rücken kehren möchte. Ich stelle fest, dass dieser Gedanke mich erleichtert, dieser mögliche Ausweg. Ich möchte nicht mehr hier leben, unter diesen Gestaltwandlern, die ich genauso wenig verstehe wie sie mich. Und vor allem nicht bei diesem Wesen, das ich geboren habe. In meinem Kopf rumort es, ich erinnere mich an uralte Geschichten, die die alte Suru immer erzählt hat, bevor sie schließlich eines Tages gestorben ist. Es waren Erzählungen von Ritualen so alt, dass ich mir nicht sicher bin, ob die Ältesten, unsere Anführer, sie überhaupt noch kennen, geschweige denn durchführen können. Geschichten von Wandlern wie mir, die ihr Leben hier im Dorf hassten. Die fortgegangen sind. Dieser Gedanke setzt sich in mir fest. Fortgehen. Ich fühle mich hier nicht wohl. Ich bin unglücklich. Mein einziger Lichtpunkt ist Rashim, und selbst der versteht mich nicht. Wird mich auch nie verstehen. Vielleicht muss ich einfach mein Glück woanders suchen. Fortgehen. Zu den Menschen. Weg von hier.
Ein lautes Fauchen schreckt mich auf, sie suchen mich. Erstaunt stelle ich fest, dass es bereits hell geworden ist. Hastig stehe ich auf, laufe zu dem Säugling und nehme ihn auf den Arm. Dann warte ich, sicher, dass Rashim mich finden wird. Ich habe nicht die entfernteste Ahnung, wo ich bin. Schließlich höre ich ein Rascheln, und dann steht sie vor mir, eine riesige schwarze Raubkatze. Die gelben Augen blicken mich liebevoll an, dann verwandelt Rashim sich. Bevor er etwas sagen kann, drücke ich ihm das Baby in die Arme. Ich will es nicht. „Zeig mir den Weg nach Hause,“ flüstere ich.
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Ich bedaure meine Entscheidung nicht. Gerade haben wir das Baby getauft. Ich habe den Namen Tara gewählt, er schien mir passend. In unserer Sprache ist dieses Wort zweideutig, heißt sowohl Mut als auch, mit einer etwas anderen Betonung, Gewissenlosigkeit. Rashim gefällt der Name. Vielleicht wird er ihm irgendwann nicht mehr gefallen, wenn er begreift, warum ich das Mädchen so genannt habe.
Jetzt trage ich ein weißes Kleid und stehe in der Mitte des Dorfplatzes. Die sechs Ältesten bilden einen Kreis um mich. Ein wenig Angst habe ich schon, dieses Ritual wurde schon lange nicht mehr praktiziert. Nur durch Überlieferungen wissen die Ältesten, wie es funktioniert. Oder funktionieren sollte. Aber das Risiko gehe ich ein, denn ich kann hier nicht mehr länger leben. Laut und deutlich sage ich: „Dies ist meine freie Entscheidung.“
Ich lasse meinen Blick über die Menge schreiten, lese Unverständnis und Verwirrung in ihren Gesichtern. Ich weiß, was sie denken. Sie glauben, ich sei schwach. Nicht stark genug für ihre Welt. Nun, immerhin bin ich stark genug, ihrer Welt den Rücken zu kehren. Meine Eltern sehe ich nicht, sie weigern sich, von mir Abschied zu nehmen. Sie wollen dem Ritual nicht beiwohnen. Ich kann es ihnen nicht einmal übel nehmen. Meine Augen bleiben an Rashim hängen und ich sehe, wie ihm eine Träne die Wange herunter rinnt. Das Wesen, das er liebevoll in seinen Armen hält, ignoriere ich, will es nicht ansehen. Will nichts damit zu tun haben. Mit meiner Weigerung, es bei der Taufe zu halten, habe ich das ganze Dorf schockiert. Ich habe es in den zwei Wochen, seit ich es geboren habe, nicht mehr angerührt.
Endlich beginnen die Ältesten mit dem Ritual. Sie summen erst leise, dann immer lauter und rhythmischer, bis es in meinen Ohren brummt. Die Musik nimmt mich gefangen, hält mich fest. Jeder Gedanke an das Hier und Jetzt geht verloren, während ich mich unmerklich hin und her wiege. Schließlich bricht der Gesang abrupt ab. Benommen öffne ich meine Augen, realisiere erst jetzt, dass ich sie geschlossen hatte. Der Älteste tritt vor, sagt mit lauter Stimme: „Du hast es vorgezogen, als Mensch zu leben und nicht als Raubtier. So sei es.“
Ich habe lange gebraucht, ihn und die anderen davon zu überzeugen, dass dies hier wirklich mein Wunsch ist. Das Echo der anderen fünf Ältesten ertönt: „So sei es.“
Einer nach dem anderen tritt auf mich zu, sie verengen den Kreis um mich. Jeder legt eine Hand auf meinen Kopf, dann beginnen sie wieder zu singen. Die Melodie reißt mich erneut in ihren Bann. Die Worte sind fremd, ihre Bedeutung bleibt vor mir verborgen, aber ich freue mich dennoch, denn sie werden mich zu dem machen, was ich sein will. Ich spüre die Magie, die mich wie ein Netz umspannt, mich durchwirkt, in jede meiner Poren eindringt. Es kribbelt, aber es ist kein unangenehmes Gefühl. Die Stimmen schwellen an, bis sie ihren Höhepunkt erreichen, dann hören sie auf zu singen und ich weiß, dass es vollbracht ist. Mein Äußeres ist gleich geblieben, aber mein Inneres hat sich verändert, für immer. Ich bin ein Mensch. Nur ein Mensch. Der Älteste blickt mich ernst an und sagt: „Miria, du bist in diesem Dorf nicht mehr willkommen. Du bist verpflichtet, über uns Schweigen zu bewahren. Niemand darf je von unserer Existenz erfahren. Schwörst du das?“
Feierlich antworte ich: „Ich schwöre.“
Dann blicke ich mich um, alle sehen betreten in eine andere Richtung, nur Rashim nicht. Ich gehe auf ihn zu, blicke ihn traurig an. Ich werde ihn vermissen. Leise verabschiede ich mich: „Leb wohl, Rashim. Pass gut auf Tara auf.“
Dann drehe ich mich um und verlasse den Dorfplatz, verlasse das Dorf, gehe den Pfad entlang, der mich irgendwann in eine Stadt bringen wird. Ich weiß selbst nicht, was ich Rashim mit meinen letzten Worten sagen wollte. Soll er aufpassen, dass Tara nichts geschieht? Oder soll er aufpassen, dass sie nicht zu einem Monster wird? Oder beides? Ich weiß es wirklich nicht.
Am Waldrand angekommen, blicke ich noch einmal zurück. Betrachte ein letztes Mal Rashim, meinen geliebten Ehemann. Er hält das Ding auf dem Arm, das meine Tochter sein soll. Bei dem Gedanken läuft mir ein Schauer über den Rücken. Es – sie – ist nicht normal. Was anders ist, weiß ich nicht, aber irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Ich bereue es nicht, mein Neugeborenes zu verlassen. Ich bereue nur, dass ich Rashim nie wiedersehen werde. Aber das ist der Preis, den ich für meine Freiheit zahlen muss. Versunken betrachte ich meine blasse, feingliedrige Hand mit den Bissspuren von kleinen, aber scharfen Zähnen. Nie mehr wird sie eine Tatze sein, nie mehr werde ich meine Krallen in lebendes Fleisch schlagen müssen. Ich lächele, dann kehre ich Rashim und allem, was ich kenne, den Rücken.