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La'Raina - Die Ausgestoßene
Es brodelt dieser ständige Kampf in mir. Mensch gegen Tier. Vernunft gegen Instinkt. Heute Abend hat das Tier gewonnen. Ich habe es gewinnen lassen. Genüsslich schlecke ich das Blut von meinen Lippen. Beiläufig betrachte ich den am Boden liegenden Leichnam. Das, was von ihm übrig geblieben ist. Auftrag ausgeführt.
***
Leise klimpern die Münzen in dem Beutel an meinem Gürtel. Die wohlverdiente Bezahlung. Lächelnd schlendere ich durch die Stadt. Es ist dreckig hier, und es stinkt. Hass, Gewalt und Mord sind Teil dieser Stadt, gehören genauso zu ihr wie die engen, verwinkelten Gassen, die Theater, Schausteller und Reisenden. Ich fühle mich wohl hier. Das Dorf, aus dem ich komme, liegt abgeschieden in einem Gebirge. Es ist ruhig dort. Die Leute sagen, es ist friedlich. Ich fand es schon immer langweilig. Und als ein verirrter Fremder endlich etwas Aufregung brachte, haben sie mich verstoßen. La’Raina bin ich nun: die Ausgestoßene. Dies ist schon seit langer Zeit mein Name. Weil ich etwas getan hatte, was die Menschen aus meinem Dorf nie tun würden, obwohl sie es theoretisch könnten. Doch auch wenn wir alle von der gleichen Art sind, bin ich doch anders. Ich habe mich damals damit abgefunden.
Für Außenstehende mag ich harmlos wirken, wie ich hier des Nachts scheinbar unbedarft die Hauptstraße entlang schlendere. Eine zierliche, schlanke Frau, pechschwarze, lange Haare und schwarze Augen. Schutzlos, hilflos, naiv. So wirke ich für die Menschen um mich herum, das weiß ich. Ich habe es nicht eilig. Die einfachen Straßendiebe, Räuber und ähnliche Gesellen machen mir keine Angst. Ich kann mich schützen. Einer von ihnen verfolgt mich, doch es ist mir egal. Sollte er wirklich so dumm sein, es mit mir aufzunehmen, werde ich ihn töten.
Er hat mich beobachtet, seit ich die Villa des Fürsten verließ. Er weiß, was sich in dem Beutel an meinem Gürtel befindet. Ich weiß, was in ihm vorgeht. Er denkt, ich sei unvorsichtig, den Beutel nicht besser zu verbergen. Er weiß ja nicht, womit ich diese Münzen verdient habe. Ich lächele. Menschen sind so dumm. Sie sehen die Dinge nur so, wie sie scheinen. Blicken nicht tiefer unter die Oberfläche. Erkennen nicht, was sich dort verbirgt. Einige wenige Menschen wissen, was ich bin. Alte, weise Menschen. Erkennen mich an der Art, wie ich mich bewege, lautlos, elegant. Erkennen mich an meinem Körper, den für eine Frau ungewöhnlichen Muskeln, die ich nicht verbergen kann und will. Doch der junge Dieb, der mich verfolgt, kennt die alten Geschichten nicht. Geschichten von Wesen so sonderbar und fremd, dass sie den Menschen Angst machen. Geschichten von Wesen wie ich eines bin.
Ich mag keine Menschen, die sich an den Wehrlosen und Schwachen vergreifen, wie dieser Dieb es tut. Ich mag generell keine Menschen. Ich weiß, mein Verfolger wartet nur darauf, dass ich in einer dunklen Gasse verschwinde, wo er mich überfallen und bestehlen kann. Ich glaube, ich werde ihm den Gefallen tun. Er ist ein schlechter Mensch, der von der harten Arbeit der anderen lebt. Wahrscheinlich hat er sogar vor, mich zu töten, oder sich mit mir zu amüsieren. Er verdient eine Bestrafung. Ich lächele kalt. Er weiß noch nicht, wer hier wen jagt. Ich schon.
Ich blicke mich hastig um, wie jemand, der bemerkt, dass er verfolgt wird. Innerlich lache ich über den dummen Dieb, der mit jedem Schritt weiter in sein Verderben läuft. Ich beschleunige meine Schritte, blicke über meine Schulter. Er ist mir schon sehr nah. Ich laufe in eine schmale Seitengasse. Es ist düster hier. Und einsam. Meine Augen haben sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt, als der Dieb um die Ecke biegt. Ich laufe weiter durch die engen, verwinkelten Gassen, immer darauf achtend, dass er einen Teil meines weißen Kleides um die nächste Ecke verschwinden sieht, oder einen Arm oder Fuß. Darauf achtend, dass er mir weiterhin folgt. Schließlich bin ich sicher, dass wir unbeobachtet sind. Ich bleibe stehen. Als er um die Ecke biegt, sehe ich das Messer, das in seiner Hand blitzt. Ich ducke mich und warte. Der Dieb sieht sich vorsichtig um. Er bemerkt mich nicht. Wie sollte er auch? Bin ich doch nicht mehr das, wonach seine Augen noch immer Ausschau halten. Noch ist er nicht nah genug. Noch ein paar Schritte, noch einen Schritt weiter in die Gasse hinein…
Endlich ist er in meiner Reichweite. Ich fauche und springe ihn an, werfe ihn mit meinem Gewicht zu Boden. Der Aufprall nimmt ihm den Atem. Ich weiß, er wird nicht schreien. Er kann es nicht. Ich genieße diesen wundervollen Moment, in dem in seinen Augen die Verwirrung zu Entsetzen wandelt. Das Letzte, was er sieht, sind schwarzes Fell, gelbe Augen und große weiße Zähne. Dann beiße ich in seine Kehle. Sein Genick knackt geräuschvoll, seine Augen verlieren ihren Glanz. Einen Moment lang blicke ich ihn an. Im Grunde habe ich gar keinen Hunger. Seine gerechte Strafe hat ihn ereilt. Das Töten macht mir Spaß. Ich brauche eigentlich keinen Grund dafür. Dennoch – ein letzter Rest meines Gewissens sorgt dafür, dass ich nur solche töte, die es verdient haben. Für Diebe wie ihn erhalte ich keinen Gegenwert. Aber für den Tod eines reichen Ausbeuters, der Sklaven hält und Menschen wie Vieh behandelt, findet sich immer jemand, der zahlt. Solche Menschen haben immer auch Feinde, man muss nur wissen, wie man sie findet. Wie viele habe ich schon getötet? Ich weiß es nicht mehr. Ich liebe diese Stadt voller Hass, Gewalt und Verrat. Ich schlecke das Blut aus meinem Fell und wende mich von der Leiche ab.
Plötzlich richten sich meine Nackenhaare auf. Ich bin nicht allein! Meine Blicke durchdringen die Dunkelheit um mich herum, auf der Suche nach der Ursache für mein Unwohlsein. Mein Schwanz zuckt nervös hin und her. Ich fauche laut, kann es nicht unterdrücken. Ich wirbele herum, als ich eine Antwort erhalte. Eine ganz andere Antwort, als ich erwartet hatte. Im Schatten der Gebäude sehe ich ein paar gelb schimmernde Augen. Ich kenne diese Augen. ER hat mich gefunden. Ich wusste, es würde irgendwann soweit sein. Er hatte geschworen, mich aufzuhalten, damals. Ich erkenne seinen schlanken, schwarzen Körper, als er sich aus dem Schatten löst und mir entgegenkommt. Eine mächtige Raubkatze, lautlos und tödlich, und doch sehe ich den Abscheu in seinen Augen, als sein Blick den Leichnam am Boden streift. Ich weiß, er will mich dafür bestrafen. Und ich weiß auch, es wird ihm nicht gelingen.
Warum tötest du Menschen? Verachtung spiegelt sich bei dieser Frage in seinem Blick. Wir kommunizieren lautlos, zwei Wesen der gleichen Art, wie sie verschiedener nicht sein könnten.
Weil sie es nicht anders verdienen! Meine Antwort lässt ihn erbost den Kopf schütteln.
Das ist doch nur eine Ausrede! Du tötest sie, weil es dir Spaß macht. Weil du es kannst. Warum nur begreifst du nicht, dass man nicht immer alles tun sollte, nur weil man die Fähigkeit dazu besitzt?
Jetzt schüttele ich den Kopf, will seine Worte nicht hören. Er hat Unrecht. Ich bin ein Racheengel. Ich bestrafe nur solche, die es verdient haben. Unwillig verdränge ich das Bild des toten Fremden in unserem Dorf. Ich tue nur das, wozu wir geboren wurden!, antworte ich ihm. Wir sind nicht umsonst halb Mensch und halb Tier, Gestaltwandler. Das Raubtier ist ein Teil von mir. Ich werde es nicht unterdrücken, so wie du es tust!
Bedauern tritt in seine Augen. Ich kann nicht länger zulassen, dass du das tust.
Ich beobachte, wie sich seine pechschwarzen Nackenhaare aufstellen. Er wird mich angreifen. Bitte, ich will dir nicht wehtun. Ich weiß, meine Gedanken erreichen ihn wie das Flüstern des Windes.
Zu spät. Seine Antwort.
Wir umkreisen einander, suchen die Schwachstellen des anderen. Beobachten, warten ab. Er ist größer als ich, kräftiger. Dafür bin ich wendiger, schneller. Er ist älter, erfahrener als ich. Dennoch habe ich keine Angst. Ich kenne seine größte Schwäche bereits. Ich sehe das Bedauern in seinen Augen, als er angreift. Seine Pranken schlagen nach mir, geschickt weiche ich aus. Der tote Dieb liegt neben uns. Der Geruch seines Blutes steigt mir in die Nase, benebelt mich. Ich blicke meinen Gegner an und weiß, es geht ihm ebenso. Er faucht, schlägt erneut nach mir. Ich weiche aus, schlage zurück. Treffe ihn an der Schulter. Meine Krallen hinterlassen rote Striemen. Ein lautes Grummeln in seiner Kehle, ich kann seine Wut förmlich spüren. Wir umkreisen uns weiter, ich warte auf seinen Angriff. Geduldig.
Als er mich anspringt, bin ich vorbereitet. Stelle mich ihm entgegen. Als er auf mich trifft, taumele ich zwei Schritte rückwärts, dann fange ich mich wieder. Seine Pranken umschließen meinen Nacken. Ich umklammere ihn auf die gleiche Weise. Wir stehen beide auf unseren Hinterbeinen. Eine tödliche Umarmung, jedenfalls für einen von uns beiden. Für einen kurzen Moment blicke ich ihm in die Augen. Ich sehe Bedauern, sehe, wie es sich schlagartig in Angst verwandelt. Ich weiß, wovor er Angst hat. Vor dem, was er in meinen Augen sieht. Vor der Mordlust darin. Dieser Kampf berauscht mich; es endlich mit einem gleichwertigen Gegner zu tun zu haben. Ich fauche erneut. Das Tier in mir will sein Blut sehen. Es ist stark, ich kann ihm nichts entgegenstellen. Ich will ihn töten, wie die Menschen vor ihm. Will ihn bestrafen, dafür, dass er es wagt, mich anzugreifen.
Er dreht seinen Kopf leicht, zielt auf meine Kehle. Seine Angst lässt ihn zögern. Seine Angst, mich zu töten. Ich bin schneller, beiße zu. Ein leises Jaulen entfährt ihm, mehr nicht, während sich meine Zähne tiefer in seine Kehle bohren. Ich schmecke das Blut, das in Strömen fließt. Er ist stärker als die Menschen. Ich schaffe es nicht, sein Genick zu brechen. Für einen kurzen Moment durchströmt mich Bedauern. Ich hätte ihm einen schnellen Tod gegönnt. Dann jedoch … der Geschmack von Blut berauscht mich, macht mich wild. Kraftvoll schüttele ich meinen Kopf, genieße das Strömen seines Blutes. Nach kurzer Zeit löst sich der harte Griff seiner Pranken um meinen Nacken. Sein zuckender Körper gleitet zu Boden. Keuchend stehe ich neben ihm, meine Flanken heben und senken sich schnell.
Ich beobachte, wie sich seine Gestalt verändert, während er langsam stirbt. Die Pranken werden zu Händen, der stolze Raubtierkopf zu einem menschlichen. Er hat mittlerweile graue Haare, ist alt geworden. Seine dunklen Augen verengen sich vor Schmerz. Das schwarze Fell verschwindet und schließlich liegt er vor mir, nackt und verletzlich. Das ist der Unterschied zwischen uns beiden. Darum habe ich gewonnen. Im Grunde seines Herzens war er ein Mensch, während ich ein Tier bin. Ein Raubtier. In dem Moment, in dem ich das begriff, vor Jahren schon, habe ich meine Heimat verlassen. Und ihn. Seine Augen blicken mich bedauernd an, er streckt mir seinen Arm entgegen.
„Tara …“, flüstert er, dann sackt er in sich zusammen. Beim Klang meines alten Namens zucke ich zusammen. Zu lange schon bin ich La’Raina, die Ausgestoßene. Schmerz durchfährt mich wie ein Blitz. Was habe ich getan? Warum nur musste er mich angreifen? Wahrscheinlich, weil er sich für meine Taten verantwortlich fühlte. Das war schon damals so, bei dem Fremden, der unser Dorf besuchte. Ich hatte nicht widerstehen können, hatte ihn gejagt und getötet, zum ersten Mal Menschenfleisch gekostet. Und er fühlte sich verantwortlich. Schwor, dass es nicht noch einmal geschehen würde, dass er auf mich Acht geben würde. Er wollte mich einsperren, mich ändern. Darum haben die Ältesten mich nur ausgestoßen und nicht mit dem Tode bestraft, wie der Mord an einem Menschen normalerweise bestraft wird.
Ach, Vater, warum musstest du nur einen Schwur leisten, den du nicht halten konntest? In der gleichen Nacht, in der ich zu La’Raina wurde, verließ ich das Dorf. Es hat lange gedauert, bis er mich gefunden hat. Ich verwandele mich, kauere mich neben seinen Leichnam. Ziehe seinen Kopf auf meinen Schoß, sanft, fast zärtlich. Ich weine um ihn, Schluchzer lösen sich tief in mir und ich kann sie nicht aufhalten. Die Trauer überkommt mich. Warum nur musste er mich verfolgen? In seiner Welt war kein Platz für mich, warum konnte er mich nicht einfach gehen lassen? Zorn durchzuckt mich. Es ist alles seine eigene Schuld! Hätte er mich nicht verfolgt, dann hätte ich ihn nicht töten müssen. Schließlich hat er mich angegriffen! Ich lasse seinen Kopf auf den Boden gleiten und stehe auf. Was geschehen ist, ist nicht meine Schuld. Er allein trägt die Verantwortung. Trauer und Wut kämpfen in mir, während ich bewegungslos neben den sterblichen Überresten meines Vaters stehe. Nach einer Zeit, die mir ewig vorkommt, bewege ich mich wieder. Ich klaube mein abgelegtes Kleid vom Boden auf, ziehe mich an, greife mir meinen Geldbeutel und gehe langsam in die Dunkelheit hinein. „Leb wohl“, flüstere ich leise.
***
Seit dem unglücklichen Tod meines Vaters sind drei Jahre vergangen. Ich bin viel gereist, konnte nicht bleiben in meiner geliebten Stadt. Mein Volk will mit Sicherheit meinen Vater rächen. Sie verstehen mich nicht. Verstehen nicht, dass es seine Schuld war. Ich weiß, dass sie mich suchen, verfolgen. Darum bleibe ich nie lange an einem Ort. Ich ziehe durch die Welt, schütze weiter die Schwachen und verteidige die Wehrlosen. Meist gegen Geld.
Fröhlich lächelnd schlendere ich durch die dunkle Gasse. Die Jagd war erfolgreich gewesen, und ich habe viel Geld dafür erhalten. Vor allem dafür, dass man keinen Leichnam finden wird. Bei diesem Gedanken lecke ich mir über die Lippen. Hunger habe ich jetzt keinen mehr.
***
„Onkel, Onkel, die Tara hat sich wieder verwandelt!“ Die anklagende Stimme eines Spielkameraden.
„So, hat sie das?“ Vaters Augen ruhen ärgerlich auf mir. Er nimmt mich bei der Hand und zerrt mich hinter sich her, in unsere kleine Hütte. Ich kann kaum Schritt halten, er nimmt keine Rücksicht auf mich. Drinnen setzt er mich auf den Tisch, sieht mir ernst in die Augen. „Tara, du weißt doch, dass du dich nicht verwandeln darfst, ohne mich vorher zu fragen. Wie oft muss ich dir das noch erklären?“
Ich weiß, dass er wütend ist, aber ich verstehe den Grund für seinen Zorn nicht. Ich wollte doch nur beim Versteckspielen gewinnen …
Ich öffne kurz die Augen. Meine Umgebung verschwimmt, wird nicht klar. Alles dreht sich. Ich spüre einen kleinen Stich in meinem Arm und versinke wieder in Bewusstlosigkeit.
„Tara!“ Beim Klang meines Namens zucke ich zusammen. Schuldbewusst drehe ich mich um, das getötete Reh liegt zu meinen Füßen. Mein Vater kommt auf mich zu, eine große Raubkatze. Seine gelben Augen blitzen zornig. „Wann lernst du endlich, nur so viel zu töten, wie du essen kannst? Wir jagen nur, um zu essen. Nicht zum Spaß! Und du hast schon ein ganzes Wildschwein getötet, du kannst unmöglich noch Hunger haben.“
„Vater, ich verstehe einfach nicht, warum wir uns nur zum Jagen verwandeln dürfen. Es macht doch so viel Spaß, als Jäger durch die Wälder zu streifen.“
Ich weiß, es hat keinen Zweck, mit ihm zu diskutieren. Dennoch, heute bin ich in einer rebellischen Stimmung. „Es macht mir halt Spaß, zu jagen. Was ist so schlimm daran?“
Mein Vater seufzt resigniert. „Tara, das habe ich dir doch schon so oft erklärt. Ich habe keine Lust mehr, mich immer zu wiederholen. Wir sind Jäger, keine Mörder. Wenn du ein Tier tötest, das du gar nicht essen willst, dann ist das Mord. Und darum wirst du dieses Reh jetzt aufessen!“
Meinen Widerspruch erstickt er im Keim. „Keine Widerworte! Du hast es gejagt, und jetzt wirst du es essen! Das ist mein letztes Wort. Ich werde nicht zulassen, dass du weiterhin unsere Regeln missachtest.“
Ich schrecke auf. Nur ein Traum. Wo bin ich? Was ist geschehen? Vorsichtig richte ich mich auf, zucke zusammen. Mein Kopf dröhnt. Ich blicke mich um. Ein Verlies, das erkenne ich trotz der Dunkelheit. Ein kleines Fenster, ein wenig Mondlicht. Gitterstäbe vor dem Fenster. Eine massive stählerne Tür. Ein kleines Türchen darin, geschlossen. Kein Ausgang. Kein Ausweg. Ich laufe an der Wand entlang, hin und her. Kein Ausgang. Wie komme ich hierher? Ich reiße mich zusammen, unterdrücke das wilde Tier, das sich eingesperrt fühlt. Meine Gestalt ändere ich nicht. Als Mensch würde ich frieren.
Ein dumpfes Gefühl sagt mir, dass sie mich gefunden haben. Ich erinnere mich nicht, was geschehen ist. Ich war in einer dunklen Gasse, satt und zufrieden nach der Jagd. Ein Schmerz in meinem Kopf … Mehr weiß ich nicht. Das Türchen in der Tür klappert, schwingt auf. Jemand stellt Essen hinein und schließt es wieder. Rohes Fleisch. Es riecht gut. Ich habe Hunger. Wie lange bin ich schon hier? Mein Magen knurrt. Ich stürze mich auf das Essen, schlinge es hinunter. Schäme mich, dass ich gefüttert werde wie eine Hauskatze. Ich habe mein Essen immer selbst gejagt.
Ich habe kaum drei Bissen auf, da fangen meine Muskeln an zu zucken. Wütend fauche ich, erkenne zu spät die hinterlistige Falle. Ich zucke, falle zu Boden. Hilflos. Kann mich nicht mehr rühren. Was war das für ein Gift? Meine Gedanken rasen. Wollen sie mich auf diese Weise töten? So feige? Dann kommen sie, holen mich. Ich kenne alle. Sie waren einst meine Familie. Ich korrigiere mich. Taras Familie. Nicht La’Rainas. Was haben sie vor? Ich kann die Fragen nicht stellen, die mir auf der Zunge brennen. Ich bin gelähmt. Schweigend tragen sie mich auf unseren Dorfplatz. Unseren Dorfplatz? Wie komme ich hierher? Wie lange war ich ohne Bewusstsein? Von meinem letzten Aufenthaltsort zu unserem Dorf waren es gut zehn Tagesreisen. Was haben sie mit mir gemacht?
Es ist dunkel, um den runden Dorfplatz stehen Fackeln. Sie blenden meine empfindlichen Augen. Ich erkenne die Menschen um mich herum. Es ist schon lange her, dass ich sie gesehen habe. Was haben sie mit mir vor? Meine Träger legen mich in die Mitte des Platzes, verlassen dann den Kreis. Langsam tritt ein Mensch nach dem nächsten vor. Es sind die Ältesten, die einen Kreis um mich bilden und sich an den Händen fassen. Sie beginnen leise zu summen, seltsame Laute. Sie machen mir Angst. Ich würde weglaufen, wenn ich mich bewegen könnte. So liege ich hilflos in ihrer Mitte, ihnen völlig ausgeliefert. Ausdruckslos blicken sie mich an, während ihr Summen langsam zu einer Melodie wird, die regelmäßig anschwillt und abschwillt. Ich spüre, wie etwas mit mir geschieht, kann es nicht begreifen. Panik erfasst mich, während sie immer lauter singen. Magie liegt in der Luft, ich habe Angst davor. Abrupt brechen sie ab. Der Älteste unter ihnen tritt vor.
„Du hast es vorgezogen, als Raubtier zu leben und nicht als Mensch. So sei es.“ Seine Stimme zittert. Was auch immer er vorhat, es scheint ihm nicht leicht zu fallen. Er kommt zu mir, kniet sich hin und berührt mit seiner rechten Hand meinen Kopf.
„So sei es.“ Ein Echo der anderen Ältesten.
Einer nach dem anderen tritt vor, kniet sich neben den Ältesten und berührt mich, bis sie schließlich vollzählig sind. Alle sechs. Mittlerweile würde ich vor Angst zittern, wenn ich könnte. Stimmen flüstern in meinem Kopf, von Ritualen so alt, dass sich nur noch die wenigsten ihrer entsinnen. Von Ritualen so grausam, dass sie seit Generationen nicht mehr durchgeführt wurden. Geschichten, die mir mein Vater erzählt hatte, als ich noch klein war, um mich zu erschrecken. Um dafür zu sorgen, dass ich mich so benehme, wie es sich gehört.
Vater! Ein verzweifelter Schrei ertönt in meinem Schädel. Es tut mir leid!
Zu spät! Zu spät! Zu spät! Ein Echo seiner letzten Worte.
Ich habe Angst. Sie spüren meine Panik, genauso wie ich ihre Reue spüre. Aber dennoch hören sie nicht auf. Der Gesang erklingt wieder, die Hände auf meinem Körper werden warm, es kribbelt. Ich rieche sie, ich rieche ihre Ausdünstungen. Auch sie fürchten, was sie tun. Ich träume davon, meine Zähne in ihre Hände zu schlagen, die Berührung zu vertreiben. Jeden einzelnen von ihnen in die Kehle zu beißen, Blut zu schmecken, Menschenblut. Ich erinnere mich an den Geschmack des Blutes meines Vaters. Es war anders, nicht menschlich, nicht tierisch. Ich will es wieder schmecken. Ich will sie jagen und töten. Ich will fauchen, jedoch entrinnt kein Laut meiner gelähmten Kehle. Was geschieht mit mir? Ich will schreien! Vater! Warum ist mir dieses Wort so wichtig? Die Bedeutung ist mir entglitten. Wer bin ich? Was bin ich? Irgendwas berührt mich, lässt mich nicht los. Ich will es töten. Zerreißen. Hunger. Angst. Zorn …