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Langweiliges Leben
Der Rucksack war gepackt. Selbst das hat er mit Hilfe einer Internetanleitung gemacht. Schlafsack, Zelt, Messer, Fitnessmatte, Gasbrenner, warme Klamotten… das Ganze war alles andere als günstig. Rund fünf Hundert Euro hat der Equipment gekostet. Aber das war es sicher wert. Das Herz rastete in einer Tour. Ab jetzt wird alles anders sein, jetzt beginnt das wahre Abenteuer...
Letztes Wochenende.
Die letzten fünf Jahre von Marks Leben konnte man am besten mit dem Wort „Koma“ beschreiben. Aufstehen, frühstücken, dreißig Minuten mit dem Auto in die Arbeit, acht bis zehn Stunden vor dem PC, dreißig Minuten mit dem Auto nach Hause, Abendessen, fernsehen, schlafen...von vorne... Eine blasse Kopie der Realität. Auch die seltenen Treffen mit den alten Freunden am Wochenende in der Kneipe haben ihn nicht mehr gereizt. Immer wieder dieselben Themen, immer wieder die gleichen Scherze. Aber das Schlimmste war, dass auch seine Freunde hatten keinen Spaß an diesen Treffen. Natürlich versuchten sie das zu verbergen jedoch kannte er sie viel zu lange und entsprechend viel zu gut, um das nicht merken zu können.
Letztes Wochenende war allerdings anders. Letztes Wochenende, wo er durch Zufall zum ersten Mal in seinem Leben Marihuana probiert hat. Das passierte auf einer kleinen Grillparty, die sein bester Freund Fabian auf dem Hinterhof veranstaltet hat. Der Fabian lebte mit 30 Jahren immer noch bei seinen Eltern, studierte seit 7 Jahren Politologie an der Universität und das Ende von diesem vielversprechenden Studium war noch lange nicht in Sicht. Der Fabian lud ein Paar Freunde ein und sobald seine Eltern sich gegen dreiundzwanzig Uhr verabschiedet haben und schlafen gegangen sind, hat sein jüngerer Cousin eine Joint-Zigarette angezündet. Fünf Minuten später rauchte der Mark schon mit.
Wie es sich angefühlt hat? Naja. Begonnen hat alles mit dem enttäuschenden Gedanken: “Auf mich hat es überhaupt keine Wirkung.” allerdings hat dieses Gefühl nicht lange gedauert. Noch ein Paar Zigarettenzüge und Mark hat klar und deutlich gespürt, wie sein Gehirn anfängt schneller und präziser zu arbeiten. Plötzlich konnte er sich mit Fabians Cousin unterhalten, dem Gespräch von Nachbarn zuzuhören und über einen Dokumentarfilm über Rumänien nachdenken, den er neulich im Fernsehen gesehen hat. Und das alles gleichzeitig. Man musste sich nicht mal anstrengen um das Ganze zu machen. Es lief ganz von alleine und hat richtig Spaß gemacht. “Wer nie geraucht hat, hat nicht mal die geringste Ahnung vom Multitasking”, lief durch seinen Kopf. Dieser Gedanke hat ihn sofort zum Lachen gebracht und Fabians Cousin nickte zufrieden mit dem Kopf, als hätte er sagen wollen: “Willkommen in meiner Welt, Kumpel.”
Auf dem Weg nach Hause hat sich die Stimmung geändert. Er musste drüber nachdenken, dass es bis jetzt, wahrscheinlich, der Interessanteste Abend in diesem Sommer war und dieser Gedanke hat ihm Angst eingejagt. Guter Schulabschluss, Hochschulstudium, unzählige Bewerbungen bei verschiedenen Unternehmen, unbefristeter Arbeitsvertrag… Alle seine Wünsche sind in Erfüllung gegangen und trotzdem war er Meilenweit vom Glück entfernt. Der ist an einem Punkt angelandet, wo etwas geändert werden musste. Sonst vergehen so auch die nächsten 30 Jahre und wenn er mal am Sterben in seinem Bett liegt, wird er sich selber nicht beantworten können, warum er damals, als er noch jung war, es nie gewagt hat etwas zu ändern.
Das waren bunte Träume, die er in der Nacht nach der Party gesehen hat. Er fuhr in einem alten Zug durch rumänische Dörfer. Es sah nicht ganz so aus, wie in dem Doku von neulich, aber wie es in einem Traum üblich ist, wusste er zu hundert Prozent, dass der Zug durch Transsilvanien fuhr und an dem Moment war es auch die natürlichste Sache der Welt, dass er in diesem Zug saß. Holzbänke, ziemlich dreckig, in manchen Fenstern fehlten die Glasscheiben. Ein Junge, der zwei Bänke weiter am Fenster saß, rauchte direkt im Zugwaggon. Sein Gesicht konnte der Mark nicht sehen, da der Junge zu ihm mit dem Rücken saß. Der Mark schaute aus dem Fenster heraus. Benebelte Berge hatten was Magisches in sich. Draußen hat es leicht geregnet und er spürte eine kalte Luftströmung an seinem Gesicht.
Letzter Tag.
Hätte ihm jemand vor einer Woche noch gesagt, dass er über das Wochenende mal alleine nach Rumänien fährt, um da ins Gebirge zu gehen, hätte er das mit Sicherheit nicht geglaubt. Und das war ein schönes Gefühl, feststellen zu können, dass man immer noch sich selbst überraschen kann. Dienstag nach dem Wochenende war ein Feiertag. Brückentag hat er auch ohne Probleme bekommen. Alles in allem - vier Tage frei. Wenn alles nach dem Plan läuft ist er am Dienstagabend wieder daheim.
Das Auto hat er in der Stadt Baia Mare gelassen. Aus den geplanten zehn Stunden am Steuer sind zwölf geworden. Der Parkplatzbetreiber verlangte von Ihm fünfzehn Euro pro Tag. Mark wusste, dass er mächtig verarscht wurde, aber es war nicht einfach sich durchzusetzen, wenn man die Sprache nicht verstanden hat. Letztendlich hat er die von ihm verlangte Summe bezahlt und beschloss sich mit solchen Kleinigkeiten den Urlaub nicht verderben zu lassen.
Ab jetzt nur noch zwei Stunden mit dem Zug und dann geht es los. Alle relevanten Karten und Informationen hat er noch daheim vorbereitet und ausgedruckt. Die ausgewählte Route, versprach ein unvergessliches Erlebnis und einzigartige Ausblicke. Laut einem Internet-Forum war sie unter den Touristen nicht sonderlich verbreitet, weil es da keine Hütten zum Übernachten gab, aber das hat den Mark nicht abgeschreckt. Letztendlich war er auf der Suche nach einem Abenteuer und die zweihundert Euro für das Zelt der Marke “Salewa” hat er gerne ausgegeben. Selbst die Tatsache, dass er zum Startpunkt mit dem Zug fahren musste hat er in Kauf genommen.
Letzte Stunde
Eine pauschale Antwort auf die Frage was ein Menschenleben kostet gibt es wahrscheinlich nicht, aber es kommt meistens darauf an, welchen Status in der Gesellschaft man hat und in welchem Land man sich gerade befindet. Das Leben eines Buchhalters in Rumänien kostete anscheinend weniger als zwanzig tausend Euro und das musste der Mark an eigenem Leib erfahren. So viel hat er vor ungefähr einem Jahr für sein neues Auto bezahlt, nachdem seine damalige Freundin mit seinem alten Peugeot einen Unfall gebaut hat. Die Reparatur hätte mehr als das Peugeot selbst gekostet und darum beschloss er sich ein neues Auto zu holen. Nach geschätzten tausend Stunden von Internet-Recherchen und ein Paar Probefahrten ist die Wahl damals auf einen zwei Jahre alten BMW gefallen.
Angefangen hat alles mitten in der Nacht. Er wachte auf, nachdem er eine Männerstimme draußen gehört hat. Die ersten paar Sekunden konnte er nicht verstehen, ob da draußen tatsächlich gerade jemand etwas gesagt hat, oder ob es noch die Reste von seinem Traum waren. Mark stieg aus dem Zelt aus und sah drei Jungen vor sich. Zwei von denen wühlten in seinen Sachen rum und der Dritte - der etwas ältere - stand direkt vor ihm. Noch bevor der Mark verstanden hat, was passiert ist lag er schon auf dem Boden. Ein kräftiger Schlag des Älteren hat ihn direkt am Kiefer getroffen. Mit seiner großen Hand zeigte der Junge, dass er am besten gar nicht versuchen sollte aufzustehen. Messer, Gasbrenner, kleine Säge, Stirnlampe, Handy, Portmonee - alles landete in fünf Minuten in einem schwarz-roten Rucksack, den die unerwarteten Nachtgäste mitgebracht haben. An diesem Moment hat der Mark sogar gedacht, dass in höchstens zwei Minuten alles vorbei sein wird. Anscheinend waren das die Jugendlichen aus irgendeinem Nachbardorf, die auch am besten möglichst schnell hier verschwinden würden, nachdem die Sache erledigt war. Die hätten mit Sicherheit es auch getan, wenn einer von denen nicht plötzlich Marks Autoschlüssel im Zelt gefunden hätte.
Ende
Nun saß er irgendwo in einer Holzhütte, gefesselt an einem alten Holzstuhl. Gerade zeigte er auf der Karte, die einer von den Jungen mitgebracht hat, wo genau er das Auto gelassen hat. Das Gesicht war angeschwollen und er konnte nur noch mit dem linken Auge sehen. Das Blut tropfte auf seine Beine und die blaue Jeans wurde dunkelrot. Die haben ihn eine halbe Stunde verprügeln müssen, bis er zugegeben hat, dass das Auto in Baia Mare steht...
Die Jungs haben die Losen gezogen und da der Rothaarige mit der Karte auch ein altes Gewehr mitgebracht hat, war auch absolut klar, dass sie auf diese Weise versucht haben zu entscheiden, wer dem Mark eine Kugel gibt. Einen kurzen hat der Ältere gezogen. Er nahm das Gewehr und zündete eine Zigarette an. Die anderen zwei schauten zu. Komisch, aber gerade an diesem Moment hörten Marks Beine auf zu zittern und er konnte plötzlich wieder frei atmen. Bewusst oder unbewusst hat er sein Schicksal akzeptiert und sein ganzes Wesen hat sich beruhigt. Er schaute aus dem Fenster der Hüte heraus. Benebelte Berge hatten was Magisches in sich. Draußen hat es leicht geregnet und er spürte eine kalte Luftströmung an seinem Gesicht...