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Langeweile
Das Ticken seiner Armbanduhr hielt ihn vom Einschlafen ab. Er hielt sie sich ans Ohr und lauschte dem eintönigen Klang, während seine Augen immer kleiner und schläfriger wurden.
Seinen Kommilitonen ging es ähnlich. Gelangweilt saßen sie auf ihren Stühlen und vertrieben sich die Zeit mit ihren Smartphones oder Tischkritzeleien.
Der Professor stand vorne an seinem Pult und redete. Er bediente sich eines Katalogs an Fremdwörtern und ließ jeden seiner Studenten wissen, dass er ihnen intellektuell über war. Sein Geschwätz ergab keinen Sinn, da war er sich sicher, es ging ihm allein darum, sie alle zu erniedrigen. Dreißig Minuten ging das schon so und ein Ende war noch lange nicht in Sicht. Kann man vor Langeweile sterben?
Er änderte seine Sitzposition und begann seine Kommilitonen zu beobachten.
Ganz hinten saß Raphael, ein sportlicher Kerl mit breitem Grinsen, und bastelte Papierknöllchen. Sein ganzer Tisch war bereits voll davon. Doch er riss immer weiter Blätter aus seinem Block , knüllte sie zu kleinen Kugeln zusammen und wirkte dabei so konzentriert wie ein Fließbandarbeiter.
Er schaute ihm noch eine Weile dabei zu, dann verlor er das Interesse und wagte einen letzten Versuch den Sinn dieser Vorlesung zu verstehen. „Langweilig!“, klang es plötzlich aus der hintersten Reihe: „Lang-wei-lig!“ Sofort waren alle Augen auf Raphael gerichtet. Dieser nahm ein Papierkügelchen in die Hand und warf es in Richtung des Professors. „Langweilig!“, stimmten die anderen mit ein; ein Knittern und Reißen von Blättern war zu hören und bald ergoss sich ein wahrer Papierkugelregen auf den Professor, der nun hilflos zur Tür flüchten wollte. „Sie bleiben hier!“ Ein breiter Kerl baute sich vor ihm auf und versperrte den Weg. „Sie wollen wissen, was wir von ihrem Geschwätz halten? Da haben Sie ihre Antwort!“ „Langweilig, langweilig!“, klang es immer lauter von den Rängen. Eine lang angestaute Wut brach nun endlich los. Die Wut auf die vielen Stunden Zeitverschwendung. Der Ärger über die Mengen an Hausaufgaben und die viel zu strenge Benotung dieser. Auch er ließ seine Knöllchen niederregnen. Irgendwann waren die Blätter aufgebraucht, man suchte nach Alternativen. Zuerst fiel ein Flaschenöffner, dann regnete es Kaffeebecher und Schlüsselanhänger. Die Menge kam immer näher. Der Professor wurde eingekesselt. Noch zwanzig Minuten bis zum Pausenklang. Flaschen wurden geworfen, zunächst aus Plastik, dann auch aus Glas. Der Professor schrie und hielt sich schützend den Kopf.
Zusammen gekrümmt kauerte er auf dem Boden, umringt von hundert wütenden Studenten.
Noch fünf Minuten bis zum Gong. „Es reicht, schrie jemand, lassen wir es gut sein.“ Der Schrei ging in der Masse unter. Weitere Objekte rieselten auf den Professor nieder. Die hitzige Stimmung erreichte ihren Höhepunkt. „Schluss jetzt, Leute. Es ist genug!“, klang es erneut aus der wütenden Masse. Noch eine Minute. Die Menge löste sich und gab den Blick auf ein zusammengekrümmtes, lebloses Wesen frei.
Überall in dem Körper des Professors steckten Glassplitter, ein spitzer Flaschenhals hatte sich in seinen Kopf gebohrt. Er rührte sich nicht mehr. Eine riesige Blutlache umhüllte den verstümmelten Körper. „Was haben wir getan?“, kam es fassungslos aus der Menge. „Haben wir ihn umgebracht?“, flüsterte eine Mädchenstimme. Der Pausenklang ertönte. Er schaute auf seine Armbanduhr. Die Stunde war pünktlich vorüber.