Lang lebe der König!
„Lang lebe der König!“
„Wo Avignion steht, steht es auf ewig,“ rief der Kommandant von den Zinnen der Festung herab, und hunderte Kehlen erwiderten den Schwur; trotzig und lauthals, denn sie schrieen gegen ihre eigene Angst an. „Wo Avignion steht, steht es auf ewig!“
„Heil dem König!“
„Lang lebe Avignion!“
Ihre verzweifelten Schreie bestärkten nur um so mehr ihre Verlorenheit. Als sich der eiserne Würgegriff der Belagerer endgültig schloss, verstummten sie für immer.
Die trotzigen Mauern wurden zerschlagen. Sie boten keinen Schutz mehr. Sie bildeten eine infernalische Falle für diejenigen, welche den Ansturm auf die Wälle überstanden hatten. Ihr Blut sollte sich knöchelhoch an den kalten Steinen stauen.
Der alte Mann schien eins zu bilden mit dem wuchtigen Thron aus goldüberzogenem Ebenholz. Es machte den Anschein, als habe sich die Zeit in sein müdes Gesicht geschnitten, so wie sie sich in jenes Gestein furcht, welches nicht hart genug ist ihr zu trotzen. Seine müden Augen waren kaum geöffnet, noch geschlossen, sie wirkten kalt und erloschen, trübe und grau. Die schwere Krone beugte sein Haupt. Der alte Mann schien eins zu sein mit seinem Thron, so würdig und leblos wartete er.
Das Hauen, Stechen und Erschlagen drang nicht durch die dicken Marmorwände des königlichen Palastes. Während das Ende der Zeit über die Stadt hereinzubrechen schien, hatte sie zugleich ihre Bedeutung verloren in diesem Saale, setzte einen Moment aus.
Es war die Ruhe vor dem Sturm, der dem alten Mann galt und ringsherum tobte.
Die Zeit dehnte sich fast zur Ewigkeit, bis endlich ein dumpfes, gleichmäßiges Schlagen einsetzte. Als die riesigen Tore zum Königssaal schließlich unter den Stößen des Rammbocks zersplitterten, war der Sturm an seinem Ziel angekommen.
Der alte Mann hob langsam den Kopf, um ihm ins Auge zu blicken.
„Mein Sohn...?“
„Vater.“
Man muss nicht König sein, um am Verrat des eigenen Nachfolgers zu zerbrechen. Der Kronprinz hatte den Thron von Avignion endgültig erstürmt. Mit blutigem Schwert stand er vor dem alten Mann. Der Wahnsinn seiner Tat brannte in seinen Augen. Mit einer knappen, herrischen Geste befahl er seinen Mannen, ihn alleine zu lassen – dies war eine Sache zwischen Vater und Sohn.
„Bring es zuende, Alerion. Schlag mir die Krone von den Schultern.“
Die Stimme des Alten war klar und spröde zugleich.
Der Usurpator trat zwar näher an den Thron, ganz nahe, erhob jedoch die Klinge nicht. Lange trafen sich ihre Blicke, die trüben und die feurigen Augen.
Von draußen hörte man bereits das Geschrei der Sieger: der König ist tot, lang lebe der König.
„Ist das alles, Vater?“
„Das ist alles. Alles, was du so sehr wolltest. Alles, was du selbst deiner Gier geopfert hast. Bring es zuende. Denke immer daran: du hast dir alles genommen, was einst mein war.“
Die Schwertspitze schliff für einen Augenblick unschlüssig über den kalten Marmorboden. Das scharfe metallerne Geräusch schmerzte weniger als die Erkenntnis, die sich kurz in den jungen Augen brach. Er selber hatte sich alles genommen. Alles, was er wollte, das Königreich.
Trotzdem starb Avignion mit dem gekrönten Haupt.
Man spießte es auf den Giebel des Palastes, in dessen Thronsaal bald darauf Prinz Alerion die Krone erhielt. Die Krone über ein Avignion, welches er selbst zerschlagen hatte.
[ 01.06.2002, 01:16: Beitrag editiert von: Paranova ]