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Landtermin
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So viel Luft hatte er lange nicht gehabt. Das Gas war überall und wie von selbst saugte es sich in seine Lungen. Shein ging auf die Knie, keuchend. Seit er aus dem Meer gestiegen war, fühlte er sich miserabel. Sein Körper war schwer und seltsam verkrümmt.
Er war nackt und was schlimmer war, er fühlte sich auch so. Die Luft war vom Monsun geschwängert, bald würde es Regen geben, hoffentlich.
Shein schleppte sich ein paar Schritte weiter, eine Zentnerlast lag auf seinen Schultern. Überall dieses Nichts! Kein friedliches Wasser, das ihn sanft umspülte, stattdessen lichtdurchflutete Leere.
'Mein Gott!' Shein ging wieder auf die Knie. Die Grelle machte ihm zu schaffen, die eigene Schwere drückte ihn zu Boden. Luft war kein Medium. Der Tag hatte so gut begonnen, jetzt hasste er ihn.
Er sah den Mann auf sich zukommen. Er sah grob aus.
"Shein Tensing?"
"Ja. Natürlich. Wer denn sonst."
Der Mann warf ihm einen Bademantel hin.
"Hier, ziehen Sie sich das über. Der Wagen steht vorn am Strandweg. Kommen Sie!"
Shein richtete sich auf, zog sich den Mantel an und versuchte dem Mann zu folgen, der schon wieder gegangen war. Am Auto angekommen, riss er die Tür auf und ließ sich auf die lederne Rückbank sinken. Es war ein Geländewagen, sauber, klimatisiert, viel zu kalt.
Der Fahrer ließ den Motor an. Shein zog die Beine an die Brust und betrachtete ihn. Er hatte ein stoppeliges Gesicht mit mürrischen Zügen, sein Bauch war imposant, die Füße klein. Obwohl er so wabbelig war, bewegte er sich mühelos. Shein hatte noch nie darüber nachgedacht. Er fasste sich an seinen Brustkorb, der ihm nun wie eine unförmige Tonne erschien. Ihm war noch immer schwindlig von der Überdosis Sauerstoff, doch es gelang ihm jetzt besser, seine Atmung zu kontrollieren.
Shein sah aus dem Fenster. Mit halb zusammengekniffenen Augen bewunderte er die Bäume, die sich ihm wie einsame Majestäten präsentierten, er verfolgte die entgegenkommenden Autos mit seinen Blicken und schaute den Spaziergängern auf der Uferpromenade nach. Die Landmenschen waren leicht bekleidet und hatten es nicht eilig.
Sie konnten nicht gut schwimmen und blieben immer nur ein paar Minuten im Wasser, aber hier verströmten sie eine Leichtigkeit, die sein Herz berührte.
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"Homo aquatus (Der Wassermensch). Es gibt ihn seit etwa 2450, zurzeit etwa 80.000 Individuen. Population stabil, leicht wachsend. Wird zwischen 1.20 m und 1.40 m groß und bis 50 kg schwer. Lebenserwartung etwa 45 Jahre. Kein Haarwuchs. Lungenvolumen etwa 12 Liter, er kann 20 Minuten unter Wasser bleiben. Seine Beine sind kurz, um die fünfzig Zentimeter. Auffällig sind auch die Zehen, die durch Schwimmhäute verbunden sind. Die Füße sind breit und platt, 'Entenfüße'.
Wassermenschen gibt es vor allem im Tropengürtel, die meisten in der Nähe von Korallenriffen. Sie sind nicht sesshaft, neigen aber dazu, zu denselben Orten zurückzukehren. Friedliche Spezies. Intelligenz mäßig. Beiträge zur Wissenschaft: keine. Kulturelle Eigenheiten ..."
Matthias Brown schlug das Buch zu und befühlte nachdenklich den ledernen Einband. Im Titelfenster stand in leicht verklecksten Buchstaben: "Menschenarten".
Fasziniert von allem, was es gab, hatte er es als Zehnjähriger geschrieben, ein fünfundachzigseitiges Büchlein, kompiliert aus Lexika, Zeitungsberichten und Fernsehsendungen; seine Kapitel entsprachen den Spezies: Homo fortis, Homo callidus, Homo aquatus, Homo machinamentum, Homo intercerebralis, Homo sapiens, Homo immortalis, Homo cogitus.
Matthias dachte an das Kind, das er einmal gewesen war und Wehmut befiel ihn. Damals war alles verheißungsvoll gewesen, Wissenschaft und Abenteuer zugleich.
Menschenarten. Er war zu ihrem Verwalter geworden und bei den Wassermenschen gelandet, die er nicht einmal besonders mochte. Sie waren seltsam, fremd und ein bisschen banal und sie hatten keine Aufgabe. Sie waren nun einmal da, aber sie brachten die Menschheit nicht voran. Unter Wasser sprachen sie mit den Händen und an Land mit dem Mund. Das gefiel ihm, aber ansonsten …
Seit Wochen reiste er nun von Atoll zu Atoll, um sie zu interviewen und zu vermessen. Daten sammeln für eine Zukunft, die nicht viel bedeutete.
Matthias Brown trank noch einen Schluck Wasser und überflog die Unterlagen. Er musste jeden Moment kommen.
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Lederkorallenbeete, träge wabernde Lappen, im Schwarm gelbgestreifter Falterfische treibend vergaß er die Zeit. Er erkannte Ashanti, die sich an eine Geweihkoralle schmiegte und eine Auster trank. Diesen Ort liebte er. Der Blick konnte über einen ganzen Wald von Acroporen schweifen, genügend Helle. Ashanti, Du bist hier, winkte er ihr zu. Ja, komm her, gab sie zurück. Sie scherzten und lächelten, das Mädchen öffnete ihm eine Auster. Gehen wir in die Höhle, ach was, du Höhlenmensch, es ist hier perfekt. Mein Onkel ist gestern Abend gekommen von der Irebay her, er hat geredet und geredet, ich musste ständig auftauchen, so viel musste ich lachen. Was hast du gegessen, gestern? Zwergbarsche, ich kann nicht genug davon kriegen. Ich krieg sie nicht hinter. Karettschildkröten sind fein. Ja. Komm mit in die Höhle! Ach du. Ich bin schon fast sechszehn, Ashanti.
Es ging nicht. Gott ist mein Zeuge, ich habe es versucht, aber es ging nicht. Shein seufzte. Die Mädchen mit ihren Schlafzimmerblicken, barbusig, behaarte Köpfe, zu lange Beine, Nacktheiten auf Papier, sie waren nicht schön. Er rutschte auf der elenden Pritsche hin und her und erneut seufzte er. Mein Gott, ich will hier weg.
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Matthias Brown sah ihn aus der Kabine heraus humpeln, das leere Gefäß in der Hand.
„Wir brauchen noch die Spermaprobe. Es ist wichtig.“ sagte er streng.
Der Wassermann blickte zu Boden, Brown presste die Lippen zusammen. Er brauchte andere Fotos. Die Nixen hassten es, fotografiert zu werden, fast unmöglich an legale Aufnahmen zu kommen. Keine Ahnung, was richtig ist. Scheue Wesen, auch dieser Junge auf der anderen Seite des Schreibtisches, sie waren alle so. Vorhin hatte er gut geantwortet, sie hatten sich richtig unterhalten, fast eine Stunde.
„Herr Tensing.“ Er kontrollierte seine Stimme, damit das ‘Herr‘ nicht ironisch klang.
„Wir sind soweit fertig. Haben Sie noch Fragen? Wünsche? Sie selbst oder Ihre Art betreffend?“
„Ja.“ Der Junge blickte ihn jetzt geradewegs an. „Wir brauchen endlich Kiemen. Sagen Sie das den Forschern.“
„Ihr seid doch aber ans Auftauchen gewöhnt.“
„Ja. Aber wir könnten uns besser entwickeln, wenn wir es nicht mehr müssten.“
„Ich weiß. Das Problem ist uns auch bekannt. Und man forscht auch daran. Aber eine solche Sache ist nicht so einfach.“
Weiß Gott nicht, Einzelheiten konnte er aussparen. Trotz der Fortschritte, die die maritime Humangenetik in den letzten Jahrzehnten gemacht hatte, es war ein Riesending. Es gab auch moralische Bedenken. Eine Schwelle, vor der man zurückschreckte. Zumal man das Gefühl hatte, daß es in die falsche Richtung ging.
„Und…“ der Wassermann wollte anscheinend noch etwas loswerden.
„Ja?“
„Wir brauchen keine Schulen. Zusammensitzen, Lesen lernen, der ganze Stress. Das passt nicht zu uns.“
„Aber ihr erfahrt dabei doch vieles.“
„Wir haben unsere eigene Art, etwas zu lernen. Wir kennen die Bedeutungen der Dinge und wir haben Geschichten. Die Schule brauchen wir nicht.“
„Die Schule braucht ihr nicht.“
Shein sah in das traurige Gesicht des Mannes und fühlte sich sehr erschöpft.