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Lalelu
Ein Raunen geht durch die Menschenmenge, die sich auf dem Lunafeld versammelt hat. Nacheinander steigen die Äthernauten aus der Einschienendampfbahn, die sie von den Unterkünften zum Schussplatz brachte und grüßen die Kanone.
Wie ein Monument ragt der Lauf der "langen Agathe", wie die Presse das Kilometer lange Stahlrohr liebevoll nennt, aus der Erde. Bald wird das Projektil, das noch neben dem Koloss auf seinem Podest steht, damit hinauf geschossen. In den Äther, weg von der Erde und hin zum Mond, vielleicht zu den Sternen. Silbern wie der Mond selbst glitzert auf der Spitze des Gefährts das Emblem der Expedition, ein Schwan im Blitzlichtgewitter der Zeitungsleute.
Der Bedeutung des Augenblicks bewusst tritt die designierte Besatzung der Mondfähre aus dem Zug und marschiert zum Startplatz.
An der Spitze der Reihe Doktor Wilhelm von Ley, Vater des Projekts. Von der Öffentlichkeit geliebt und verlacht gleichermaßen. Mit hoch erhobenem Kopf schreitet er - seine Luftglocke unter dem Arm - die Treppe zur Kapsel hinauf. Er schlägt die Hacken zusammen und nickt Fritz de Valier zu, einem der Mäzenen des Unternehmens.
Die Menge schaut ernst, erst auf den einen dann auf den anderen.
Ihm folgt Achim Mirak, groß, blond, Pilot, Ingenieur, Dichter und Arzt. Er winkt der Menge, die Menge winkt zurück.
Am Ende Wernher Kummersdorf, der Wochenschaureporter mit ewig laufender Kamera und - ihm untergehakt - seine Verlobte, die reizende Madeleine Ziolkowski, de Valiers Nichte. Ihre blonden Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden wie bei einem kleinen Mädchen. Sie lächelt mal hierhin und mal dorthin. Die Menge jubelt.
Die vier Menschen verschwinden in der Kapsel. Mirak winkt noch ein letztes Mal, die Menge winkt noch einmal zurück. Drei Namenlose schrauben die Öffnung zu und überlassen das Projektil dem Ladekran. Unter Dröhnen spannen sich die Tragegurte und an einem Stahlseil erhebt sich das Geschoss in die Luft, um schließlich in Agathes dunklem Schlund zu versinken.
Die Zeit für den Schuss ist fast gekommen, de Valier tritt, da die eigentlichen Helden ihren Beifall bekommen haben, an ein Mikrofon und laudiert die Mondfahrer und sich selbst. Er schleudert seinen Kopf herum, deutet auf die Kanone, den Himmel, beschwört Vergangenheit und Zukunft bis der Schrei einer Sirene ihn verstummen lässt. Eiligst verschwindet er in seinem Wagen, der, aus Vorsicht oder aus Versehen, sogleich in die Ferne entkommt.
Eine laute Stimme schallt nun aus einem Dutzend Megaphonen auf allen Seiten der Tribünen:
Zehn... Neun... Acht...
Die Menge verstummt.
Sieben... Sechs... Fünf...
Kein Techniker, kein Finanzier ist mehr zu sehen.
Vier... Drei... Zwei...
Stille, ein Vogel zwitschert in den Bäumen einem anderen zu.
Eins.
Ein Donnerschlag unterbricht das Gespräch, Menschen halten sich die Ohren und den Kopf, nicht wenige gar den erstaunten Mund. Im Qualm entgeht ihnen der Schatten, den Agathe ausspuckt fast, das Projektil, die Kapsel, der Schwan.
Höher, immer höher rast sie hinauf in den Himmel, zum Mond, den Sternen entgegen.
Aller Lärm verlässt die Welt hier unten, alles blickt zum Firmament.
Stille, wieder.
Hälse recken sich, wie Hunde, die nach einem Stück Fleisch schnappen.
Kein Vogel wagt sich jetzt hervor, als spürten sie das Gewicht des Augenblicks.
Immer kleiner wird das mutige Gefährt auf seinem Weg. Kleiner wird's, ein Punkt nur, kleiner noch...
KLONK! hallt es vom Firmament. Ein Glockenschlag der lässt die Erde beben. Der Aufstieg ist am End.
Und irgendwo, weit fort in seinem sicheren Wagen, hört niemand De Valier:
Da hab ich mich wohl getäuscht.
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Thema des Monats Januar/Februar 2007: Täuschung