Lagerleben
Er mußte sich einrichten in diesem Zwischenlager. Er kam sich unweigerlich vor, wie der abgeurteilte Kriminelle in der Untersuchungshaftanstalt, von dem er einmal gehört hatte.
Er sah um sich her all die Menschen kommen und gehen. Er allein blieb hier. In diesem Zwischenlager auf dem Weg in das verheißene Land.
Seine Papiere hatte er mühevoll zusammengetragen; Anträge, Bescheinigungen, Beglaubigungen.
Wohlgeordnet hatte er sie schließlich vorgelegt, nicht ohne ein bescheidenes gutes Wort in eigener Sache einzulegen. Sie hatte ernsthaft gelächelt und ihm, der geduldig und dankbar zuhörte, erklärt, daß sie ein wenig Zeit brauchen würde, um seinen Antrag zu prüfen.
Zeit solle sie sich nehmen, alles solle sie unter die Lupe nehmen; die Echtheit mußte ja festgestellt werden und schließlich, war er sich sicher, könne eine genaue Überprüfung seiner Angaben nur dazu führen, die Ernsthaftigkeit seines Anliegens zu verstehen.
All das war Monate her. Wenn er anfangs geglaubt hatte, die Zeit spiele für ihn, so war diese milde Hoffnung zu einer zähen, klebrigen Masse vertrocknet.
Es war so schwer zu verstehen, weshalb gerade sein Antrag einer solch langen Bearbeitung bedurfte. Alle Papiere waren in bester Ordnung. Die Stempel klar zu lesen, die vertraulichen Angaben verbrieft und versiegelt. Wenn etwas fehlen sollte und das war bald seine Vermutung gewesen, so hätte sie ihn doch darauf hinweisen können und er hätte sich schleunigst darum gekümmert. Sie mußte doch wissen, daß ihm sein Anliegen ernst war, daß die Zeit letztlich doch gegen ihn spielte.
Er hatte lange nicht gewagt, nach dem Stand der Dinge zu fragen. Er wollte nicht durch Ungeduld seine Sympathien, die er bei ihr durchaus zu haben schien, verspielen. Wenn sie durch das Lager lief, grüßte er
sie freundlich und sie grüßte ebenso freundlich zurück. Und das war alles, was geschah.
Schließlich nahm er seinen Mut doch zusammen und erkundigte sich bei ihr nach dem Stand der Dinge.
Er wolle nicht unbescheiden sein. Natürlich nicht, sagte sie. Aber ihm sei der Eindruck erwachsen, daß die Bearbeitung seines Antrages ins Stocken geraten sei. Nun ja, sagte sie. Ob denn etwas fehle, ob etwas nicht in Ordnung sei. Nein, nein, sagte sie. Er solle doch noch Geduld haben. Sie hätte seinen Fall schon durchgesehen und auf den ersten Blick scheine alles in guter Ordnung. Doch die Arbeit sei so vielfältig und viele Dinge bedürften einer schnellen Lösung. Sein Antrag aber sei ihr doch zu ernst, um ihn mit der sprichwörtlichen Brechstange zu bearbeiten. Es wäre doch auch in seinem Interesse, wenn sie sich hier die gebührende Zeit und Ernsthaftigkeit in der Bearbeitung nehmen wolle. Selbstverständlich, sagte er. Und er hätte die Sachlage ebenfalls so eingeschätzt. Nur sicherheitshalber und um seinen Anteil zur Klärung der Sachlage zu leisten, hätte er einmal nachfragen wollen. Sie hatte ihn ernsthaft angelächelt und ihm versichert, daß sie an seinem Fall weiter arbeite. Und sie sei durchaus persönlich an einer schnellen Klärung interessiert, aber gut Ding wolle nun einmal Weile haben.
Die klebrige Masse in seinen Adern verflüssigte sich wieder.
Natürlich, sagte er und ging durchaus frohgemut zurück zu seiner Baracke.
Profaner Weise bleibt festzustellen, daß das Leben weiter ging, daß dem Herbst der Winter und diesem wieder der Frühling folgte. Der Sommer wurde schon vorstellig, die Menschen hier kamen und gingen und er wurde zur festen Instanz; ungewollt ungeliebt.
Anfangs hatte er ein normales Verhältnis zu den Menschen in seiner Baracke. Dann wurde er als erfahrener Leidensgefährte eingeschätzt, dessen Rat gesucht wurde, wenn die Ungeduld nagte.
Schließlich aber wurde er zum kaum beachteten Versager
abgestempelt. Er müsse dort oben langsam einmal auf den Tisch klopfen; seine Papiere können ja wohl nicht in Ordnung sein; wer nicht will, der hat schon. Mehr wurde nicht mehr über ihn gesagt. Mit ihm sprach sowieso niemand mehr.
Aber sie hatte ihm doch gesagt, er müsse Geduld haben. Sie hatte doch gesagt, sie sei persönlich interessiert. Sie hatte ihn angelächelt. Da konnte er doch nicht fordern und da konnte er doch nicht seine zähe Hoffnung begraben und weggehen.
Er liebte sie doch heute mehr, als noch vor Jahr und Tag.