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Labyrinth
Die Endlosigkeit treibt mich bis zur äußersten Erschöpfung. So weit, dass ich fürchte, mich völlig zu verlieren, im Verstand, der mich gefangen hält. Es gibt Tage (Sonnenauf- und untergänge habe ich hier unten nicht und ich mache sie am Schlafverhalten der mir zumeist Unbekannten, die hier umherirren fest), an denen ich glaube, nur ein Zwinkern davon entfernt zu sein, meine Augen zu öffnen, vom Krankenbett aufzustehen und meine Sophie wieder in die Arme zu schließen. Doch dann gibt es auch Tage, an denen ich all das, was einst war, bevor sich die Erde unter mir auftat – meine gute Frau, mein Haus, mein Elternhaus, meinen alten Hund aus Kindertagen, mein Leben –, Tage, an denen ich all das in Frage stelle und manchmal, dann, wenn der Wahn tiefer in meine Welt eindringt, Besitz ergreift von meiner Sicht der Dinge und meine Erinnerungen infiziert, bin ich nicht sicher, ob vielleicht hier mein tatsächliches Leben stattfindet und schon immer stattfand. Vielleicht war alles nur ein Traum. Sophie und das Leben, das ich mit ihr führte. Vielleicht ist das hier die Realität. Diese feuchte Luft, klamme Dunkelheit, diese tropfende Sinnlosigkeit, die mich begleitet wie ein träger Schatten.
Doch ein Gedanke kann, ja, er kann hier so viel klarer sein und doch ist er dann wieder so schnell verflogen, macht Platz für Neue, die an seiner Stelle ausarten, so dass ich mich vielmals nicht mehr daran erinnere, was mich eben noch beschäftigte. Und diese konfusen Situationen, von denen ich so oft nicht einmal sagen kann, wie sie begannen - Orte, Personen, Zeiten, das Wetter und manchmal auch ich selbst, alles ist hier unten ständiger Veränderung unterworfen und alles, was ich weiß, ist, dass ich unmöglich wissen kann, was als nächstes passieren wird. Wenn das hier – und daran will ich glauben an Tagen wie diesem – ein Konstrukt meines Geistes ist, kann ich erahnen, wie unfassbar der menschliche Verstand in Wirklichkeit ist, ja, wie wenig wir von dem, was wir aufnehmen, bewusst wahrnehmen. Die Zeit scheint hier unten nicht von Bedeutung zu sein; manchmal fällt der Regen wie in Zeitlupe, so wie dicke Schneeflocken, manchmal fallen die Tropfen so wie dichte, harte Hagelkörner und manchmal, manchmal hält er an und die Tropfen hängen in der Luft als seien sie schwerelos, so als hingen sie an feinen, unsichtbaren Spinnweben. Die anderen hier unten, die Konstrukte meines Kopfes, sprechen oft mit mir. Oft sind es wirre Dinge, manchmal sind es schöne Dinge, hin und wieder sind es beängstigende, grauenvolle Dinge, die sie, diese Geister meines Hirns, mir weismachen wollen. Oft glaube ich ihnen, oft fürchte ich mich vor ihnen und vor ihren Lügen, denn oft kann ich nicht entscheiden, was Lüge und was wahr ist, denn an Tagen wie dem heutigen, an denen ich klarer denken kann, weiß ich, dass ich hier unten ganz und gar alleine bin, und wer soll mich warnen, wenn ich Lügen Glauben schenke?
An manchen Tagen kann ich hören, wie Sophie mit mir spricht. Ich weiß nicht, ob sie die Einzige ist, die bei mir sitzt, wacht und wartet, jedenfalls ist sie die Einzige, die ich hören kann. Seitdem ich hier unten bin ist sie, ist ihre Stimme mein Halt, meine letzte Verbindung zu dem, was war. Sie sagt, dass sie nicht wisse, ob ich sie hören könne, aber dass ich, ganz gleich was auch geschehe, niemals vergessen dürfe, wie sehr sie mich liebe und brauche. Sie erzählt mir von Zuhause. Die lästigen Nachbarn machen ihr zu schaffen und Helene, unsere Tochter, selbst sie kommt viel zu selten zu Besuch. Ich habe das Gefühl, meine Frau im Stich zu lassen. Ich habe das Gefühl, meine Frau sterben zu lassen und ich kann ihr nicht helfen, nicht einmal antworten. Was gäbe ich dafür, einmal in aller Kürze sagen zu können: „Und ich liebe dich, meine kleine Sophie", doch ich bin unfähig. Bin gefangen in diesem Labyrinth, gemörtelt aus Erinnerung, ummauert von Schädeldecke. Sophie weint wenn sie mit mir spricht. Erst heute war es, als sie mir sagte, dass wir in wenigen Wochen unsere Goldene Hochzeit feierten und ich zu ihr zurückkommen solle. Es zerreißt mir die Brust und ich hätte gerne laut geschrien, dass ich sie höre und mich auf den Weg zu ihr nach oben machen werde, aber die Wahrheit ist, dass ich mich fürchte und mich nicht lange genug konzentrieren könnte, um einen Ausweg zu finden; wenn es so etwas wie einen Ausweg von hier denn überhaupt gibt. Still und leise saß ich also in der feuchten Ecke und hörte meiner Sophie zu. Vielleicht, vielleicht, kann ich es irgendwann schaffen, meinem innersten Geist, meinem Unterbewusstsein den Rücken zu kehren. Vielleicht!
Ich bin ewig schlaflos. Die Erde bebt und egal wo ich bin, unter freiem Himmel oder in der Scheune meines Nachbarn, es regnet mir auf das dünne, graue Haar. Ich stehe auf einer Wiese. Mein Vater lässt einen Drachen steigen. Er will, dass ich ihn auch mal halte. Die Schnur ist gespannt. So sehr, dass sie schließlich reißt. Der Drache verschwindet in den stillen Wolken, es weht kein Wind und erst jetzt wird mir bewusst, dass es Nacht ist. Mein Vater wendet sich ab und verlässt mich, ohne Lebewohl zu sagen. Vielleicht geht er zu Mutter. Was bleibt, ist ein immerfort wiederhallendes Rufen, ein Gurren. Ich folge ihm, ich sehe das Dorf aus meiner Kindheit, doch es stehen dort bestimmte Bauten meiner Heimatstadt, die über die kleinen, krummen Häuschen hinausragen. Der Dom und das große Rathaus. Trotzdem steht die Dorfkirche noch immer. Ich laufe den alten Fluss entlang bis zum Dorf und folge einem schmalen, steinigen Weg, der vorbei an meiner alten Schule führt, bis zu meinem Elternhaus. Unterwegs sehe ich meine Jugendfreunde mit denen aus Kindertagen spielen, jenen, die ich im Alter nicht einmal mehr gegrüßt hatte. Keiner von ihnen beachtet mich. Sie bauen Sandburgen, doch wie es scheint, werden sie nie fertig werden, denn einige von ihnen bewegen sich rückwärts. Der Sand fliegt ihnen von der Burg in die Hände, mit denen sie ihn in den Sandhaufen drücken, während die anderen, so wie das jeder kennt, an der Burg aus Sand bauen und herum modellieren. Ich betrete meinen alten Hof. Meine Augen können nichts mehr erkennen, es ist schwarz, aber jetzt zündet Großmutter eine Kerze an. Sie steht an der Haustür. Es ist das erste Mal seit Langem, dass ich Licht sehe. Sie sagt, ich solle hereinkommen, denn es sei ja auch schon spät und als ich im Flur stehe, ist meine Großmutter verschwunden. Ich höre meinen Chef fluchen darüber, dass wir zu wenige Aufträge bekämen und ich will die Treppe ins erste Stockwerk hinaufgehen. Sie ist so steil, dass ich krabbeln muss. Auch früher, erinnere ich mich jetzt, als ich noch nicht einmal gehen konnte, bin ich schon hier hochgekrabbelt und mehr als nur einmal wieder heruntergefallen. Ich will Sophie sehen und werde mir wieder bewusst zu träumen, ich konzentriere mich auf die Umgebung. In der Küche sitzt mein bester Freund mit ein paar seiner Bekannten, die ich nicht kenne. Ich höre sie nicht sprechen, obwohl sie ihre Münder bewegen. Den Einzige, den ich höre, ist mein Freund. Er trinkt und hält mir ebenfalls ein Glas hin. Ich trinke und rauche und lache mit ihm und jetzt, da ich mich daran zu erinnern glaube, dass er schon tot ist, sage ich es ihm und es verzerrt sich sein lachendes Gesicht kurz zur Fratze, dann zum Gesicht meines verlorenen Sohnes und wieder zu dem seinen. Er packt mich an der Schulter und sagt mir, dass Sophie mich brauche und dass ich nun nicht vergessen dürfe, zu ihr zu kommen. Er sagt, ich solle hoch auf den Dachboden und dann müsse ich mich entscheiden, er sagt: „Angst isst in deinem Fall die Liebe". Ich denke, wie früher so oft, dass seine Meinung nicht allzu wichtig ist, klopfe ihm aber auf die Schulter und gehe zur Treppe, die zum zweiten Stockwerk führt. Oben angelangt öffne ich die kleine Dachbodentür. Sonnenstrahlen blenden mich durch die dünnen Rillen zwischen den Holzbrettern und der Staub flackert im Licht. Meine Lehrerin aus der Grundschule sitzt im Schneidersitz zwischen vielen, teils gestapelten Kisten in der Mitte des alten, einfarbigen Dachbodens. Neben ihr sitzt ein Hundekörper mit dem Kopf meiner ersten Freundin. Sie, der Hund, hechelt, und ob die Augen und die Zunge nun eigentlich die meiner alten Freundin oder die eines Hundes sind, erkenne ich nicht, kann ich nicht unterscheiden, aber sie machen mir Angst. Meine Grundschullehrerin fragt mich, warum ich noch immer hier sei und ob ich nicht wisse, dass meine Frau, schwer betroffen von meinem, von ihrem Schicksal dort oben dem Ende, dem Tod entgegenginge. Ich antworte, dass ich es wisse, aber dass ich keinen Ausweg finden könne und dass sie mir fehle und als ich um Hilfe bitte, reicht mir dieser gesichtslose, hagere Mann, der noch immer im Schneidersitz neben dem gurrenden Hund mit dem Taubenkopf sitzt, die Hand. Ich frage mich, ob er nicht eben noch jemand anderes gewesen war, denn dieses Gefühl hat man hier unten oft und daraufhin frage ich mich, ob ich selbst vielleicht jemand anderes bin, geworden bin, mit der Zeit, im Leben, im Traum, und als die Lichtstrahlen, die durch die Rillen zwischen den Holzbrettern scheinen langsam sämtliche Umrisse der Kisten und Balken so stark erhellen, dass sie eins werden mit dem weißen Licht, frage ich mich, ob ich erwache oder sterbe.
Sophie?