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La Volante
laa-di-laa-ooh
fare-thee-well glittersmocked machina
fare-thee-well fogstrangled waterpolina
fare-thee-well bluebillowblind retina
laa-di-laa-ooh
fare you well my strange metropolis ...“
Fay Voudras – 'Strange Metropolis'
„Sieben Kilo ... abgemacht“, sagte von Bisenberg zähneknirschend. Er erhob sich und streckte ihr die Hand entgegen. „Also dann ... übermorgen, denk dran!“
Luisa La Volante lehnte sich zurück, verschränkte ihre Hände hinter dem Kopf. „Man sieht sich, Hugo.“
Er schnaubte abfällig, drehte sich um und verließ das Büro, die Stahltür fiel laut ins Schloss.
„Sieben Kilo Silber für ein entlaufenes Frauenzimmer. Alle Achtung.“ Adrian stand im Türrahmen zum Nebenzimmer. „Wie du das immer schaffst.“
„Tja ...“, sagte Luisa und grinste. „Das wird uns die nächsten Monate über Wasser halten. Obwohl ich mir wünschte, es wäre nicht diese Art von Auftrag.“
„Ach, komm schon. Du willst doch nicht dein Mitleid an 'ne billige Dirne verschwenden? Bei der Bezahlung zudem. Und du weißt, wie eng ...“
„Jaja. Erinner du mich nicht daran, wie schlecht das Geschäft läuft! Wer hat denn letzte Woche die Verhandlungen über die Schmuggelware vermasselt?“
„Wie oft soll ich's denn noch sagen? Ja, es tut mir leid, verdammt!“, rief Adrian. „Aber es wird Zeit, dass du dich wieder selbst um diese Dinge kümmerst. Präsenz zeigst. Die Jungs im Hafen werden langsam übermütig – und es wird nicht besser, je länger du dich hier drin verbarrikadierst!“
„Fertig?“, fragte sie ruhig.
„Scheiße“, sagte er. „Die Sache mit deinem Bein ist schlimm, und ich wünschte, wir könnten ...“ Er winkte ab. „Wie gesagt, es wird nicht besser ...“
„Ich nehm's zur Kenntnis“, sagte sie spöttisch. Sie griff nach der Krücke, die am Fernmelderohr neben dem Schreibtisch hing und stand mühsam auf. Als sie den Raum durchquerte, zischte die hydraulische Stütze an ihrem Bein. „Du kümmerst dich um 'das entlaufene Frauenzimmer', ja? Und nimm Heinrich mit.“
„Alles klar.“
Adrian ging hinaus, während Luisa am Einstellrad des Phonosélecteurs drehte. Fay Voudras' rauchiger Anarcho-Jazz hallte zwischen den metallenen Wänden; 'Strange Metropolis', ihr bestes Lied, wie Luisa fand.
Sie musste sich eingestehen, dass Adrian Recht hatte. Vielleicht, dachte sie, habe ich wirklich zuviel Zeit hier drin verbracht. Der verdammte Baron! Aber was half's? Von ihrem Büro aus würde sie keine Rache nehmen können. So verdammt demütigend! Und wenn jetzt das Geschäft drunter litt – ein zusätzlicher Sieg für von Betz ...
Sie seufzte. Diese winzige Kammer ... die Wände rostig von den regelmäßig lecken Röhren und Leitungen. Wie oft hatte sie in den letzten Wochen selbst die Kupplungen nachgezogen? „Mist!“, fluchte sie und humpelte zur Tür.
Draußen schlug ihr der intensive Salzwassergeruch entgegen; sie atmete tief ein und stützte die Hände auf das Geländer am Treppenabsatz. Wind ließ ihre schwarzen Locken um den Kopf flattern; sie hatte Mühe, sie aus dem Gesicht zu halten. Sie spürte die schwachen Vibrationen der Musik von drinnen, hörte das Dröhnen von hunderttausenden Schritten auf den metallenen Straßen; Lärm beherrschte die Stadt ununterbrochen.
Luisa hatte ihr Büro im Ostteil, Hafengegend. Direkt am Kanal, der schmalen Wasserstraße, die sich hinter der Maschendrahtbrüstung durch die Stadt schlängelte, überschattet von Kränen und durchbrochenen Stützkonstruktionen; Anleger, Boote, schmale Brücken. Hier baute und lebte man dicht über der Meeresoberfläche; Nebel und das Glucksen der Wellen konstante Begleiter. Wie jeden Tag war der Himmel düster, braune Wolken zogen schnell darüber hinweg, gaben von Zeit zu Zeit den Blick frei auf die beiden gelblichen Monde ... Wieder seufzte Luisa. Vielleicht sollte ich zu Santuzzu rüber, schaun, ob er fertig ...
In diesem Moment bog Victoria um die Ecke. „Luisa!“, rief sie und winkte. Kurz darauf hüpfte sie schon die Stufen zum Absatz hinauf. „Gute Nachrichten!“, sagte sie grinsend.
„So?“
Victoria hielt einen kleinen Beutel in die Höhe, ließ ihn ein wenig hin und her pendeln. „Rat mal!“
„Sie hat ihn tatsächlich betrogen und er hat die vereinbarten hundert Gramm bezahlt?“, fragte sie wenig enthusiastisch. Es war der erste Auftrag, den sie Victoria eigenständig ausführen ließ.
„Sie hat zweihundert bezahlt, dass er's nicht erfährt.“
Unvermittelt musste Luisa lachen, und das tat ihr gut. „Im Ernst?“
„He!“ Victoria begann ebenfalls zu lachen. „Ich scherz' doch nicht!“
„Glückwunsch, Vicky! Du machst dich langsam.“
Sie gingen zurück in den Büroraum. „Mein Gott – dieses Stück schon wieder! Da wird man ja depressiv!“, stöhnte Victoria, und Luisa verzog das Gesicht. „Mach's halt aus.“
Bis zum Abend passierte nichts. Irgendwann war Adrian zurückgekommen, um einen Zwischenbericht abzugeben. Weder Heinrich noch er selbst hatten bis dahin etwas herausgefunden. Luisa ließ ihn bleiben; zu dritt stießen sie auf Victorias Erfolg an, spielten Karten, bis die Langeweile unerträglich wurde.
„Genug für heute“, sagte Luisa. „Wir haben noch zwei Tage. Deswegen: Morgen volle Konzentration auf die Suche nach dieser Geraldine.“
Ihr entging Victorias Blick nicht. „Ja, ich weiß. Recht ist's mir nicht gerade, für diesen schmierigen Bisenberg zu arbeiten. Aber wir brauchen das Silber. Und mal schaun, vielleicht fällt mir was ein, die Bezahlung zu behalten ohne die Frau auszuliefern. Finden wir sie erstmal, dann sehen wir weiter.“
„Frauen! Könnte so einfach sein“, brummte Adrian.
„Pass du bloß auf. Vielleicht verkaufen wir dich ans Maison des Fleurs – neue Märkte und so.“ Luisa und Victoria lachten.
„Witzig“, sagte Adrian lahm. Er stand auf, warf sich den Mantel über und öffnete die Tür. „Viel Spaß noch“, sagte er und verschwand.
„Vicky, erinnere mich bitte daran, dass ich mal ein ernstes Wörtchen mit ihm rede. So kann's ja nicht weitergehen ...“
„Vielleicht ist er einfach -“ Sie wurde von der Klingel unterbrochen. Beide schauten sich überrascht an.
„Jetzt noch ein Klient?“ Victoria lief zur Tür, öffnete sie vorsichtig und führte nach einem Augenblick eine zierliche, verhüllte Gestalt hinein. Da weiß jemand, wie man einen Raum betritt, dachte Luisa. Noch bevor die Frau ihre Kapuze zurückschob, erkannte Luisa, wen sie vor sich hatte. Die Pailletten, die unter dem Umhang hervorglitzerten, verrieten alles. Sie sprang auf.
„Ich bin Geraldine“, sagte die Frau. „Und ich weiß, dass Bisenberg hier war. Wir können also gleich zur Sache kommen.“
Luisa sah, warum Hugo von Bisenberg bereit war, so viel zu zahlen. Geraldine war jung, ungewöhnlich gutaussehend mit ihrem kurzgeschnittenen blonden Haar. Ihre ganze Haltung stahlte Stärke aus, Stolz. Etwas, was die meisten Männer nur schätzen, wenn sie es mit Silber ihrem Willen unterwerfen können, dachte Luisa bitter.
„Du bist mutig, Geraldine“, sagte sie.
„Ich bin verzweifelt. Und ich brauche Hilfe.“
Luisa setzte sich wieder an ihren Schreibtisch. „Nun ...“, begann sie und überlegte kurz. „Wenn du weißt, dass Bisenberg hier war, kannst du dir denken, dass er mir viel Silber angeboten hat. Wie also, glaubst du, sollte ausgerechnet ich dir helfen können?“
Geraldine lächelte kühl. „Keine Sorge, ich werde nicht an dein Mitgefühl appellieren. Es ist mir bewusst, dass seitdem Baron von Betz hier im Hafen Ernst macht, deine Branche nicht mehr so gut dasteht.“ Sie zuckte leicht die Schultern. „So sind die Dinge, ich habe da keine Illusionen.“
„Aber ...?“, fragte Luisa.
„Aber“, antwortete Geraldine, „Ich habe etwas, das dich interessieren wird. Etwas, das dir niemand sonst geben kann.“ Sie holte ein Bündel aus öligen, grauen Lappen unter dem Umhang hervor und wickelte es auseinander.
„Lochkarten ...“, sagte Luisa etwas ratlos.
„Da ist ja das Wappen vom Baron drauf!“, rief Victoria begeistert.
„Also gut, Geraldine. Du hast mich zumindest neugierig gemacht. Was ist das?“
„Schau's dir an.“
Luisa nahm die oberste Karte entgegen und steckte sie in den Aufnahmeschlitz des Ordinateurs. „Vicky, würdest du bitte ...?“
„Ja, Moment.“ Victoria holte die Kurbel aus der Schreibtischschublade und zog das Uhrwerk auf.
Die Lochkarte wurde tiefer eingezogen und gleichzeitig begann das Klappern der Miniaturhydraulikkolben im Innern des Bildschirms. Die gläsernen Vesiküle des Monitors füllten sich mit Flüssigkeit, deren blaues Leuchten, wie Luisa wusste, von Meeresbakterien herrührte.
Schließlich zeichneten sich Linien und Legenden auf dem Schirm ab. „Grundrisse?“, fragte Luisa erstaunt.
„Allerdings“, sagte Geraldine. „Diese Lochkarten hier sind mit sämtlichen Konstruktionszeichnungen der Silbernixe beschrieben. Daneben gibt es auch Details über Ausbauten, Maschinenanlagen, Sicherheitsmechanismen ...“
„Das Schiff des Barons!“, rief Luisa. „Das ist ja unglaublich! Wie bist du denn daran gekommen?“
„Es war nicht einfach. Genügt zu sagen, dass Betz gelegentlich bestimmte Feste auf seinem Schiff veranstaltet, für die er die Dienste eines gewissen Etablissements benötigt.“
Luisa nickte, trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. „Lass mich mal den Rest sehen!“ Eingehend betrachtete sie die anderen Lochkarten, die ebenso mit dem Wappen des Barons versehen waren. Fälschungen? Signierte Lochkarten wurden selten verwendet, waren durch amtliche Patrizen aufwändig und teuer ... Gut, sie hatte keine Möglichkeit, diese Signatur mit anderen offiziellen zu vergleichen – aber irgendwie hatte sie nicht den Eindruck, dass Geraldine sie reinlegen wollte. Und wenn's nun gar nicht die Originalpläne der Nixe sind?
Sie bemerkte, dass Geraldine und Victoria sie erwartungsvoll anstarrten. Sie verzog etwas gequält den Mund. Verdammt, was soll's? Geschäftsrisiko.
„Schätze, du hast da tatsächlich etwas, was mich interessiert. Wie kann ich dir also helfen?“ Jetzt lächelte sie. Geraldine versuchte, es zu verbergen, aber sie atmete deutlich auf.
„Ich ... ich brauche eine sichere Passage in den Südteil der Stadt. Wo mich keiner kennt; wo mich jemand anstellt, der nichts von meiner jetzigen ... Arbeit weiß.“
„Gut“, sagte Luisa. „Ich kann ein Schiff organisieren, aber das wird wohl bis morgen Abend dauern.“
„Danke.“ Geraldines Stimme zitterte.
„Schon gut. Wenn ich ehrlich bin, ist's mir so lieber, als dich an Bisenberg zu übergeben.“ Sie seufzte und wandte sich an Victoria. „Vicky, schick Adrian eine Nachricht – er soll sofort zurückkommen.“
Adrian tobte. Luisa konnte es sogar ein wenig verstehen. Sie hielt ihn vom Schlaf ab, hatte Bisenbergs Bezahlung in den Wind geschlagen – und verlangte zudem von ihm, Geraldine zu helfen. Ja, vielleicht wirklich verständlich, aber er übertrieb.
„Sieben Kilo Silber!“, schrie er. „Bist du wahnsinnig?“
Luisa stand ruhig vor ihm, lässig auf die Krücke gestützt. „Kannst du dich jetzt mal abregen?“, fragte sie. „Keiner von uns muss verhungern. Dafür sorge ich schon.“ Sie machte eine Pause. „Hast du jemals eine meiner Entscheidungen bereut? Hm?“
Adrian kratzte sich am Kopf, jetzt wesentlich entspannter. „Naja“, sagte er gedehnt. „Eigentlich nicht, nein.“
„Gut“, sagte Luisa kühl, mit leicht zusammengekniffenen Augen. „In diesem Fall habe ich meine Entscheidung getroffen. Und ich erwarte von dir, dass du meinen Anweisungen folgst, verstanden?“
„Verstanden.“ Er zögerte. „Hör zu, Luisa. Ich habe wohl überreagiert ... und das tut mir Leid, wirklich.“ Er hielt inne, fasste sich. „Alles klar. Sag mir, was ich tun soll.“
„Schon besser“, antwortete sie und lächelte. „Also dann ... Adrian, Vicky - ihr begleitet Geraldine zu unserem nascondiglio am Hafen. Seht zu, dass sie bis morgen sicher ist. Und gebt ihr ein paar Sachen aus dem Fundus für die Reise mit. Ich kümmere mich in der Zwischenzeit um die Details der Passage; ihr hört dann von mir.“
„Kein Problem“, sagte Victoria, und Adrian nickte.
Geraldine ging auf Luisa zu und umarmte sie. „Danke“, sagte sie. „Ich werde das nie vergessen!“
„Alles Gute, Geraldine. Viel Glück!“
Luisa seufzte, als sie allein zurückblieb, legte erneut 'Strange Metropolis' auf und dachte an den Baron. Eines Tages ...
Den Vormittag verbrachte sie mit der Organisation des Schiffs. Die Gronenthal-Brüder waren zähe Burschen, mussten sich aber geschlagen geben. Luisa hatte einen hervorragenden Preis ausgehandelt, und sie waren am Ende froh, überhaupt ins Geschäft gekommen zu sein.
Ihre gute Laune verflüchtigte sich, als sie zum Büro zurückkehrte und Commissar Emile d'Allain auf der Treppe antraf.
„D'Allain!“, fauchte sie. „Was wollen Sie hier?“ Sie humpelte die Stufen hinauf. „Wollt ihr mir das andere Bein auch noch brechen?“
„Mitnichten, Mademoiselle Volanté.“ D'Allain blickte sie ernst an, fuhr mit der Hand nachdenklich über seinen kurzen Spitzbart. „Sie werden es mir nicht glauben, aber ich persönlich bedauere zutiefst, was der Baron Ihnen angetan hat.“
Luisa zuckte die Schultern. „Sparen Sie sich den Quatsch!“
„Ich meine es so. Es war nicht richtig.“
„Es zwingt Sie niemand, Handlanger von von Betz zu sein.“
„Ich bin ein einfacher Mann, Mademoiselle. Ich kann nicht viel mehr tun, als mein Bedauern zum Ausdruck zu bringen.“
„Jaja.“
„Nun“, sagte er und klopfte mit dem Knauf seines Spazierstocks an die Tür. „Warum gehen wir nicht hinein?“
Im Büro deutete er ihr an, sich zu setzen. Merkwürdig, dachte sie. Warum der Ernst? D'Allain räusperte sich, schaute zu Boden.
„Was ist los?“, fragte sie, gegen ihren Willen beunruhigt.
„Ich fürchte ...“, begann er langsam, sah dann aber auf, Luisa fest in die Augen. „Vor drei Stunden haben wir Victoria gefunden. Sie ist tot.“
Luisa beruhigte sich nicht, über Stunden. Vicky tot? Sie konnte es nicht begreifen. Wollte es nicht. Sie war so jung! Voller Lebensfreude. Ermordet. Stilett in den Hals. So viele Hoffnungen ... So viel Blut. Ach Vicky ...
D'Allain hatte ihr berichtet, was er wusste und dann den Takt besessen, auf Fragen zu verzichten, sie schließlich allein gelassen. Fragen stellte sie sich selbst genug. Warum hatte sie Victoria mitgeschickt? Wieso nur ... ausgerechnet ...
Der offensichtlichste Gedanke kam ihr erst spät. Zu schrecklich diese Vorstellung – dass, nein, das konnte nicht sein! Und doch, da war sie; hinter der Unklarheit von Entsetzen und Trauer die schleichende Gewissheit: Adrian hatte sie verraten.
Als sie dies realisierte, wurde sie ruhig, beherrscht; überlegte. Sie würde ihn nicht davonkommen lassen. Nein, er wird sterben.
Es ist Zeit, dachte sie, jetzt endlich Santuzzu aufzusuchen. Sie schickte eine Nachricht an Heinrich über das Fernmelderohr, dass er sich bereithalten sollte; dann machte sie sich auf den Weg.
Draußen auf der Treppe versuchte sie, nicht an Vicky zu denken; dieses Bild, wie sie die Stufen hochhüpfte, so fröhlich, leichtherzig, zu verdrängen. Aber das war unmöglich.
Unten, am Rand der schmalen Straße, blieb sie stehen, mit hängenden Schultern. Dann richtete sie sich auf, ging zur Brüstung und schleuderte die Krücke in das dunkle Wasser des Kanals. Schaute zu, wie sie langsam versank, atmete auf. Hätte das schon viel früher machen sollen, überlegte sie. Schließlich war die Hydraulikstütze ja dafür gedacht, das Bein ohne sonstiges Hilfsmittel belasten und bewegen zu können. Es fühlte sich gut an, ja.
Anfangs war ihr Gang noch unsicher, aber Luisa bemerkte, dass sich das schnell änderte. Sie kam gut voran, auch wenn sie gelegentlich anhielt, sich an der Brüstung festklammerte.
Santuzzus Laden befand sich etwas abseits vom Kanal in einer düsteren Seitenstraße. Nach oben hin wurde sie von einem niedrighängenden Gitter abgedeckt, auf dem unzählige Rohre auflagen. Wasser tropfte davon hinab, und Luisa musste leicht gebückt gehen, um es nicht zu berühren.
Ein Glockenspiel klingelte, als sie die schwere Eisentür aufdrückte; der Geruch von Rauch und Metallspänen drang in ihre Nase. Der Laden war nur von einer einzelnen Lampe beleuchtet, die ihren bläulichen Schein auf die Regale warf. Werkzeuge und Waffen, Instrumente; alles, was man sich nur vorstellen konnte. Ein Vorhang wurde im hinteren Teil zur Seite gezogen.
„Luisa!“ Santuzzu erschien, Rußflecken im Gesicht, das graue Haar nass am Kopf. Er warf eine Feile auf die Ladentheke. „Da bist du ja endlich!“
„Santuzzu, mein Freund!“, sagte Luisa und grinste. Sie umarmten sich.
„Ich bin seit einer Woche fertig. Sollte eigentlich böse mit dir sein“, sagte er mit gespieltem Vorwurf.
„Ich weiß ... Aber das Bein, war nicht viel unterwegs ...“
„Nicht besser?“
Luisa zuckte die Achseln. „Ohne die Stütze, die du für mich gebaut hast, wäre es schlimmer.“
„Ach, das wird schon, Mädchen. Nur nicht den Kopf hängen lassen!“
„Tja, wenn das immer so einfach wäre ...“
Santuzzu schaute sie ernst an. „Es ist mehr, als nur das Bein, nicht wahr? Komm schon, was bedrückt dich?“
„Im Moment ist es mir lieber, nicht darüber zu reden. Später, wenn es vorbei ist ...“
„Wie du willst; zwingen werd' ich dich nicht“, sagte er lächelnd. „Nun denn ... Warte mal kurz.“ Er ging hinter die Ladentheke, bückte sich und durchsuchte die Fächer. „War doch hier ...“, murmelte er. „Ah!“
„Hier ist es“, sagte er stolz. „Eines meiner besten Stücke: La Volante Draulica Numeru Unu!“ Auf beiden Handflächen präsentierte er Luisa eine schwere, revolverähnliche Waffe.
„Du hast ihr meinen Namen gegeben? Du weißt wirklich, wie du mich in Verlegenheit bringst!“
„Nicht doch! Ich habe sie speziell für dich konstruiert, nichts also liegt näher. Hier, nimm sie schon!“ Er blickte sie erwartungsvoll an.
Luisa war überrascht, wie schwer die Waffe war. Auf jedem der sechs Läufe war ein Wort eingraviert, zusammen gelesen: Il giornu della gloria è arrivato
„Unglaublich“, sagte sie. „Ein schönes Stück.“
„Nicht nur das. Wenn du dieses Rädchen verstellst – ja, genau, das – kannst du die Hydraulik umschalten. Einzelschuss oder – und das ist das Besondere: alle sechs gleichzeitig.“ Santuzzu grinste. Dann sagte er: „Ich hoffe, sie wird dir helfen.“
„Keine Frage! Das wird sie. Vielen Dank, mein Freund!“
Santuzzu winkte ab. „Nicht nötig. Verpass dem Baron 'ne ordentliche Ladung damit. Das soll mir reichen.“ Beide lachten.
Schließlich fragte er: „Wollen wir nicht gemeinsam etwas essen? Ich mache hier gleich zu ... und du schaust aus, als ob du was Gutes gebrauchen kannst.“
„Ich weiß nicht ...“, sagte sie zögerlich.
„Ach was! Ausreden lasse ich nicht gelten!“
„Keine Chance?“
„Nein.“
Am nächsten Tag traf sie mit Heinrich zusammen. Sie saßen im Büro, und beide waren nervös, aber zu allem entschlossen.
„Adrian wird heute Abend von Bisenberg treffen“, sagte Luisa.
„Warum erst heute?“
„Das war die Abmachung, die ich mit ihm geschlossen habe. Bisenberg war mit seinem Boot unterwegs, Nordstadt, glaube ich. Wir sollten Geraldine bis heute finden und sie eben abends am Kai übergeben.“
Heinrich nickte. „Und du bist sicher? Ich meine ...“
„Hältst du etwas anderes für möglich? Nein nein, ich bin sicher. Er wird dort sein und sich die sieben Kilo unter den Nagel reißen.“
Luisa drehte die La Volante in ihren Händen. „Das heißt, er will es.“
„Er wird bezahlen“, sagte Heinrich grimmig.
„Oh ja, das wird er. Aber gehen wir den Plan nochmal durch.“
Der Hafen war nebelverhangen und nur schwach beleuchtet. In der Ferne konnte Luisa den gedämpften Schein der jenseitigen Uferbeleuchtung erkennen und die unregelmäßige Silhouette der Bauten. Ihre Schritte hallten merkwürdig dumpf zwischen den Lagerhäusern, den Kränen, Kistenstapeln und Fässern. In der Ausfahrt des Hafenbeckens lag die Silbernixe vor Anker, durch den Nebel war nur das Heck zu sehen, dunkel und still. Eines Tages ... , dachte sie wieder. Doch nicht heute, noch nicht.
Heinrich folgte ihr in einigem Abstand. Sie wollte, dass er notfalls überraschend eingreifen konnte. Ihr Bein schmerzte, die Waffe wog schwer in ihrer Hand; sie lauschte vorsichtig, war auf alles vorbereitet. Sie ging langsamer, je näher sie Bisenbergs Anlegeplatz kam; hielt sich vom Wasser fern, dicht an den Gebäuden.
Plötzlich hörte sie den Schrei einer Frau; darauf folgte aufgeregtes Männergebrüll, irgendetwas fiel auf die Metallplatten des Kais. Dann wieder Stille.
Vor ihr, fünf Schemen im Nebel. Sie hatte Recht gehabt: Von Bisenberg stand dort mit zwei seiner Leibwächter. Und Adrian erkannte sie; ihm zu Füßen lag Geraldine, gefesselt.
„... waren ausgemacht, Bisenberg!“
Luisa ging langsam auf die Gruppe zu, ihre Waffe in Hüfthöhe, dann rief sie kalt: „Guten Abend, die Herren!“
„Luisa!“, stieß Adrian hervor und stolperte einen Schritt zurück.
Bisenberg fragte mit unsicherer Stimme: „Was zum Teufel ist hier los?“
„Hugo, du verschwindest besser“, sagte Luisa. „Das Geschäft ist geplatzt.“ Sie wandte sich Adrian zu. „Du bleibst natürlich hier.“
„Luisa ... ich ...“, stotterte dieser.
„Tja, Adrian. Ich fürchte, deine Karriere als eigenständiger Geschäftsmann ist zu Ende.“ Sie hob ihre Waffe. „Ich hätte dir alles verziehen, Adrian, um unserer Freundschaft willen. Aber dass du Vicky umgebracht hast ...“
„Luisa, du verstehst das falsch! Ich ... wollte das nicht! Es war -“ Er wurde von Geraldine unterbrochen.
„Er lügt! Ich habe es gesehen.“
„Du wirst doch nicht dieser Dirne -“
„Genug! Es macht keinen Unterschied. Es ist vorbei.“ In diesem Moment ertönte der Lärm einer Trillerpfeife, schnelle Schritte durch den Nebel.
„Mademoiselle, nicht“, hörte Luisa eine Stimme hinter ihr. „Ich würde Sie ungern verhaften müssen.“
„D'Allain! Was ...“
„Ich wusste, dass Sie nicht untätig in Ihrem Büro bleiben würden. Aber, Sie haben mich unterschätzt.“ D'Allain klang amüsiert. Er drückte Luisas Arm nach unten; mit seiner Linken gab er ein Kommando, woraufhin zwei Wachtmeister zu Adrian liefen, ihm Handschellen anlegten und auf den Boden stießen.
Von Bisenberg nutzte die Gelegenheit, Geraldine von den Fesseln zu befreien; er zerrte sie in die Höhe, zog sie hinter sich her, achtete nicht auf ihren Protest.
Der Commissar trat ihm entgegen. „Ah, Sie wollen schon gehen? Sieht so aus, als ob die junge Dame noch bleiben möchte. Warum tun wir ihr diesen Gefallen nicht einfach?“
„Ach, Sie! Sie können mich nicht hierbehalten. Und Geraldine hier hat nichts zu wollen, das wissen Sie ebensogut wie ich. Sie ist rechtlich an mich gebunden.“
D'Allain deutete eine Verbeugung an. „Natürlich. Ich bin ein Mann des Gesetzes“, sagte er.
„Wenn Sie mich dann entschuldigen wollen ...“
„Und als solcher“, setzte d'Allain unbeeindruckt fort, „erinnere ich Sie gerne daran, dass keine Frau in einem Etablissement wie dem Ihrigen arbeiten darf, wenn sie einem regulären und ehrbaren Beruf nachgeht.“
Von Bisenberg lachte schallend. „Niemand, der auf sich hält, stellt eine Dirne ein. Wollen Sie etwa?“
D'Allain lächelte und winkte Luisa heran. „Soweit ich weiß, ist gerade eine Assistenzstelle im Geschäft unserer geschätzten Luisa La Volante vakant. Sehe ich das richtig, Mademoiselle?“
Luisa stutzte zunächst, erkannte dann aber, worauf er hinauswollte. „In der Tat“, sagte sie. „Wenn es nur nicht so schwer wäre, fähiges und engagiertes Personal zu finden ...“
„Moment mal!“, warf Bisenberg ein, wurde aber ignoriert.
„Ich könnte mir vorstellen, dass sich Geraldine durchaus als fähig und engagiert erweisen könnte“, sagte d'Allain und fuhr sich gespielt grüblerisch über seinen Bart.
„Hmm“, machte Luisa. „Ich frage mich nur, ob eine solche Anstellung ihren Interessen entspräche.“
„Jetzt reicht's aber!“, rief Bisenberg. „Wir gehen. Geraldine, komm!“
„Aber Herr von Bisenberg, wollen Sie denn gar nicht ihre Antwort abwarten?“
Der Commissar und Luisa blickten Geraldine an, beide mussten grinsen. Deren Augen blitzten, als sie ernst sagte: „Eigentlich entspräche dies tatsächlich meinen Interessen.“
„Dann wäre das geklärt“, sagte d'Allain und befahl die beiden Wachtmeister zu sich. „Meine Herren, begleiten Sie von Bisenberg nach Hause.“
„Unverschämtheit!“, schrie Bisenberg, wurde jedoch am Arm gepackt und fortgeführt. Sie konnten sein Fluchen noch eine Weile hören, dann war es wieder still auf dem Kai.
D'Allain legte seine Hände auf die Schultern der beiden Frauen; während er sie zur Stelle dirigierte, wo Adrian lag, sagte er: „Übrigens, ich habe Ihren anderen, nun ja, Mitarbeiter – Heinrich heißt er, nicht? - in Gewahrsam nehmen müssen. Keine Sorge, morgen steht er Ihnen wieder zur Verfügung.“ Er bedeutete ihnen, anzuhalten, ging selbst einen Schritt weiter, hielt seine offene Hand Luisa entgegen. „Die Pistole, bitte.“
Luisa zögerte.
Er hüstelte. „Ich möchte es nicht zu verantworten haben, wenn Sie eine Dummheit begehen.“
Wiederwillig übergab sie ihm doch die La Volante. D'Allain ging vor Adrian in die Hocke. „Nun“, sagte er. „Hat sich wohl anders entwickelt, als Sie hofften, nicht wahr? Sie haben Ihre Freunde verraten, ein junges Mädchen ermordet - und das alles für was? Für ein bisschen Silber.“ Er schüttelte den Kopf und klopfte ihm auf die Schulter. „Und jetzt wartet nur noch der Galgen.“
Adrian fluchte. „Es war doch ein Unfall!“ Angst zeichnete sich in seinen Augen ab.
„Ich fürchte nur, dass Ihnen das keiner glauben wird.“
„Und wenn ich aussage? Ja, ich kann aussagen!“
„Adrian, was redest du da?“, rief Luisa.
Er lachte höhnisch. „Ach, halte du dich bedeckt! Du bist selbst schuld an der Sache. Hättest auf mich hören sollen.“ Er machte eine kurze Pause. „D'Allain, ich kann Ihnen viel über Luisa erzählen. Ich weiß alles – ich werde alles sagen! Nur nicht der Galgen!“
D'Allain erhob sich ächzend. „Das ist höchst interessant“, sagte er. „Das wird Baron von Betz außerordentlich freuen.“ Wieder strich er sich über den Bart. „Da kann man sicherlich etwas arrangieren. Lassen Sie mich nachdenken.“
Luisa setzte an, etwas zu sagen, zu protestieren, doch d'Allain gebot ihr mit einer herrischen Geste zu schweigen. Er ging auf und ab, drehte dabei Luisas Pistole in den Händen, betrachtete sie mit einem verwunderten Gesichtsausdruck. „Eine seltsame Waffe“, sagte er. „Wozu dieses Rädchen?“
Luisa antwortete zunächst nicht; erst als er sie fordernd anstarrte: „Man kann damit die Schussfrequenz einstellen.“ Sie war verwirrt. Warum beschäftigte er sich ausgerechnet jetzt damit?
„Ah! Faszinierend!“, sagte er, fuhr mit den Fingern über die Mechanik. „Hm, ziemlich schwergängig ... Sicher, dass das für Frauenhände gemacht ist?“ Er schaute zu ihr und grinste verhalten.
„Äh ...“
Er wandte sich wieder der Waffe zu. „Vielleicht ... ah, wenn man's fester -“ Plötzlich ein ohrenbetäubender Knall, die Pistole polterte zu Boden, Rauch in der Luft. Sie alle schraken auf, erstarrten.
„Huch“, sagte d'Allain gleichgültig. „Wie ungeschickt von mir.“ Er hob die Waffe vom Boden auf und stieg über Adrian hinweg, der leblos zusammengesackt war. Alle sechs Geschosse hatten ihm den Brustkorb zerfetzt, eine Blutlache breitete sich rasch um seine Leiche aus. Erst da begriff Luisa, was geschehen war.
„D'Allain, Sie haben ...“, sagte sie vorsichtig.
Er seufzte maniriert und gab ihr die Pistole zurück. „Das ist nichts für einen einfachen Mann wie mich. Nein, zu kompliziert. Man sieht ja, was für schreckliche Unfälle geschehen können, wenn man sich nicht auskennt ...“
Weder Luisa noch Geraldine wussten etwas zu erwidern. D'Allain zuckte mit den Schultern. „Bedauerlich“, sagte er. „Ich hätte zu gerne gewusst, was er auszusagen gehabt hätte.“ Dann grinste er. „Junge Damen, passen Sie auf sich auf! Ich werde mich zurückziehen und gewissenhaft den Unfallbericht verfassen. Gute Nacht!“
Er legte die Hände hinterm Rücken zusammen und ging los. Sie hörten, wie er eine Melodie summte, dann zu singen begann. Langsam entfernte er sich. „... vos bataillons, marchons ...“
„Ein seltsamer Mann“, sagte Geraldine.
„Ja“, antwortete Luisa. „So habe ich ihn nie zuvor erlebt.“
„Manchmal sind Menschen mehr, als sie zu sein scheinen.“
„Manchmal“, sagte Luisa und deutete auf Adrians Leiche, „sind sie weniger. Ich bin froh, dass der da tot ist.“
Sie standen dicht am Rand des Kais und schwiegen, hörten dem Geräusch des gegen die Pfeiler schwappenden Wassers zu, starrten auf die Umrisse der Silbernixe. Dann sagte Luisa, ganz ruhig und sachlich: „Eines Tages werde ich den Baron töten.“
„Und ich“, sagte Geraldine leise, „werde dir dabei helfen.“
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Thema des Monats Oktober 2008: Strange Metropolis