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La Rue Moustafa
Diese Straße wirst Du auf keinem Stadtplan finden. Nicht etwa, weil sie klein und unscheinbar wäre - ganz und gar nicht. Sie ist eine durchaus ernstzunehmende, viel genutzte Straße. Der Verkehr wäre in beiden Richtungen möglich, wenn nicht fortwährend Lieferwagen in der zweiten Reihe hielten. Und bis die ausgeladen oder vollgepackt sind, braucht es doch einige Zeit. Hier reiht sich Geschäft an Geschäft, Waren der unterschiedlichsten Art türmen sich zu Pyramiden. Ein andauerndes Gehupe liegt in der Luft und das Geschimpfe und Fluchen derer, die wegen des ständigen Gegenverkehrs keinen Meter vorankommen. So sieht der Orient aus – hier, mitten in Paris. Die Anwohner nehmen das mit größtmöglicher Gelassenheit hin: Die Alteingesessenen sprechen Rue Moustafa mit einer gewissen Geringschätzigkeit aus, die neu Hinzugekommenen hingegen mit ziemlichem Selbstbewusstsein.
Der eigentliche Name dieser Straße ist Rue des Puits Clos, weil hier in alten Zeiten grüne Wiesen prangten und die Leute der Umgebung eimerweise ihr benötigtes Wasser aus den drei oder vier Brunnen schöpften.
Wie anderswo auch quoll die Stadt auf und über, wie ein immer weiter und weiter kochender Grützbrei. Die Brunnen wurden versiegelt, die Wiesen auch. Dann wurde gebaut, aber nicht nach den anspruchsvollen Plänen des Baron Haussmann, sondern nach dem Kalkül der Mietwucherer.
Kleine stickige Löcher für die ständig ankommenden Leute vom Lande, die zur angebotenen Arbeit auch ein Dach über dem Kopf brauchten. Die konnten nicht viel zahlen und deshalb sind hier die Mauern nur ein Viertel so dick wie am Boulevard Haussmann. Damit aber im Winter an der Seine nicht das ganze Haus vereist, hat man - um Wärmeverlust zu mindern - extra kleine Fenster eingebaut. Außerdem war das Bauen so billiger.
Die Mieter mussten es akzeptieren, denn auch in des Sonnenkönigs eigenem Land konnte niemand im Freien logieren, und mit Kindern schon gar nicht.
Von denen gab es viele. Deren Väter rackerten an den Quais, in den Fabriken oder in einem der großen Hotels – und die Mütter schmissen den Haushalt, rubbelten am Waschbrett, putzten bei irgendeiner Madame oder nähten zu Hause, um noch etwas dazu zu verdienen.
Bei schönem Wetter mussten sie ihre Stimmen erheben, um möglichst noch lauter als die Nachbarinnen ihre Gören zum Essen zu rufen. Die waren in der ganzen Gegend verstreut. Mit fester, durchdringender Stimme mussten sie aber auch bei Regenwetter ihre Kleinen zu sich rufen, sehr laut und unüberhörbar, um den Lärm aller im Treppenhaus spielenden Kinder zu übertönen. Und bei Streitereien mit den Nachbarsleuten erreichten die allgegenwärtigen Stimmen den Gipfel ihrer Leistungsfähigkeit – leider auch am Lohntag einer jeden Woche, wenn der Familienvorstand besoffen nach Hause kam.
Eine solche Stimme hat noch mehr Funktionen, als sich nur Gehör zu verschaffen. Sie ist das Notventil bei innerem Überdruck - bei Unrecht, bei Lieb- und Gedankenlosigkeit derer, die man eigentlich schätzt, manchmal sogar liebt. Auch bei Egoismus, Brutalität in Wort oder gar Tat - und bei der Arroganz derer, die meinen, sich diese Dummheiten leisten zu können. Eine solche Stimme begehrt, sie ist das Aufbegehren.
Es sind noch nicht einmal die großen, starken Frauen, die andere in Grund und Boden schreien. Die sind meist gönnerhaft und gemütlich wie ihre männlichen Pendants. Es ist gerade umgekehrt: Die gellendsten Stimmen haben die kleinen und unscheinbaren Frauen. Die machen Gänsehaut. Man zieht unwillkürlich den Kopf ein. Mon Dieu, haben die ein Organ!
Ich denke an eine Frau, klein und zart, beinahe ein bisschen zerbrechlich wirkend, wie aus feinem Porzellan, überhaupt nicht in diese drittklassige Umgebung passend.
Sie leidet an dieser Beengtheit, an dieser Misere, die sie zu ersticken droht. Sie muss schreiend durch die Straßen laufen, bis alle Fenster aufgerissen werden: Madame, was erlauben Sie sich!
Aber sie fragen kein weiteres Mal, sondern verstummen, denn es ist klar zu hören: Diese Frau hat etwas Wichtiges zu sagen. Herausschreien will sie ihre Sehnsucht nach Anerkennung, nach Geborgenheit und Geliebtwerden. Sie will leben, frei und in Würde, notfalls dafür kämpfen. Sie singt den Himmel herunter in dieses billige Café. Die hier Trost Suchenden vergessen das Trinken und setzen ihre Gläser ab. Wie ist das möglich, dass diese schmale Person genau das herausschreit, genau das erzählt, was sie selbst spüren, woran sie leiden, worauf sie hoffen?
Sie wird bekannt, hat Erfolg, bald ist ihr Name auf großen Plakaten zu lesen, man reißt sich um die Eintrittskarten.
Das ist die Sprache des Lebens! Am Gare du Nord, in den mondänen Etablissements im goldenen Zentrum – überall halten die Menschen inne und lauschen. Die Taxifahrer drehen die Lautstärke ihrer Radios auf, das ist ihr Lied, von so einer Frau träumen sie. Sie singen begeistert mit, sie wollen ihren ausländischen Fahrgästen imponieren – oui, c’est la France! C’est Paris.
In ihren Chansons verspürt jeder diese brennende Leidenschaft, Hingabe und Sehnsucht.
Verspürt Stolz und Kampfgeist, dem Leben etwas abzuringen, es mit Inhalt zu füllen. Bei ihren Konzerten gibt sie alles, bringt ihre ganze Persönlichkeit ein, fast schonungslos, besessen schon.
In einer Stunde des Glücks begegnet sie ihrer großen Liebe. Sie verbringen zusammen eine wundervolle Zeit. Das Leben verspricht, künftig einen ruhigeren Verlauf zu nehmen, weniger aufreibend und kräftezehrend zu sein. Und dann widerfährt ihm ein grässliches Unglück und alles ist zerstört, sinnlos und unfassbar.
Fast zerbricht sie daran. Freunde nehmen ihr die mörderischen Tabletten weg, kümmern sich um sie, halten Nachtwache an ihrem Bett, flößen ihr kräftigende Bouillon ein und holen sie langsam wieder zurück ins Leben.
Nach einer langen Pause gibt sie wieder Konzerte, das Publikum rast und überschlägt sich in Begeisterung. Je ekstatischer der Beifall aufbrandet, desto mehr fehlt es ihr an Kraft. Sie muss häufiger und längere Pausen einlegen, ihr aufreibendes Leben und der Zusammenbruch haben ihre Energien verbraucht, die Illusionen sind verblasst. Sie sind liegen geblieben in den Garderoben und Hotelzimmern, auf den Bühnen und Bahnhöfen, durch ein achtlos geöffnetes Fenster geweht oder mit dem Aschenbecher ausgekippt. Aber überall hat sie einen Funken ihres Lebenswillens zur Erde fallen lassen, viele glimmen heute noch. Jeder, der ein leichtes Ziehen in der Herzgegend verspürt, ein Sehnen nach einem ihrer Chansons, muss sich nur bücken und einen solchen Funken mit etwas Frischluft versorgen.
Der lodert auf und trifft ihn wie ein Kugelblitz.