Hallo Henning,
Herzlich Willkommen und Frohes Neues Jahr!
Das ist keine leichte Lektüre. Ein langer Text, viel tell, wenig show, viele lange, verschachtelte Sätze, und auch inhaltlich ist das nicht leicht zu verdauen. Das Schreiben war sicher auch nicht einfach und hat bestimmt eine Weile gedauert.
Ehrlich gesagt bin ich ziemlich sicher, dass du an dem Text schon länger gearbeitet hast, als es das Thema des Monats gibt. Denn hier fällt es mir wirklich schwer, den Bezug zum Thema zu sehen. Letzte Chance/letzter Ausweg? Der Protagonist hat eigentlich nichts dergleichen. Der ist am Ende. Und es gibt auch in der Geschichte eigentlich keinen Moment, wo ich sagen würde: Da steht er am Scheideweg, da hätte er die Möglichkeit, etwas anders zu machen, auszusteigen, den Lauf seines Schicksals zu verändern. Aber gut, das Thema ist weit gefasst, das mag Interpretationssache sein, ob die Geschichte hineinpasst.
Zum Text an sich kann ich sagen, dass ich von deinem Umgang mit der Sprache ziemlich beeindruckt war, aber er trifft nicht meinen persönlichen Geschmack. Die kunstvolle, poetische Sprache und die grausame Handlung bilden einen starken Kontrast, und über den Aufbau der Geschichte hast du dir offensichtlich viele Gedanken gemacht - aber ich hatte letzten Endes das Gefühl, dass die Form die potenzielle Wirkung des Textes eher abschwächt als verstärkt.
Die Handlung ist nicht chronologisch. Dadurch braucht man beim Lesen länger, um den Ablauf der Ereignisse zusammenzupuzzeln, vielleicht denkt man so intensiver darüber nach. Aber bringt das wirklich einen Mehrwert für die Geschichte? Mir ging es beim Lesen ganz oft so, dass ich nicht über die Figuren oder Ereignisse nachgedacht habe, sondern über die Frage: Warum erzählt der Henning das in dieser Reihenfolge?
Das krasseste Beispiel dafür ist die Stelle:
Die Männer waren tot, so wie Wilhelm, jetzt kämpften Jungen.
Das ist die erste Erwähnung von Wilhelm. Ich hab keine Ahnung wer das ist, dementsprechend macht mir sein Tod nicht sonderlich viel aus. Du erzählst mir erst anschließend, wer das war und was er dem Protagonisten bedeutet, in Rückblende. Emotional gesehen ist das einfach zu spät. Der Tod wird mich nicht mehr schocken oder traurig machen, wenn ich erst im Nachhinein einen Bezug zu dieser Figur habe. Und das ist nicht das einzige Beispiel. Die Geschichte hat mehrere, ineinander verschachtelte Rückblenden.
Na ja, ich bin generell kein großer Fan davon, das ist natürlich auch eine persönliche Vorliebe. Aber ich denke es ist schon objektiv so, dass Rückblenden immer eine gewisse Distanz zum Geschehen schaffen. Wenn es ein Text ist und kein Film, kommt da noch hinzu, dass man es oft mit dem Plusquamperfekt zu tun bekommt, was beim Lesen ziemlich umständlich und sperrig daher kommt.
An jenem Abend, als er sie hatte lieben wollen, als er die Knöpfe ihres Kleides hatte öffnen wollen, da hatte sie nach seiner Hand gegriffen und ihm in die Augen geschaut.
Du siehst, was ich meine?
Rückblenden als erzählerisches Instrument haben schon manchmal ihre Berechtigung - aber das sind dann spezielle Umstände. Was oft gut funktioniert, ist wenn die Geschichte an einem Punkt beginnt, wo der Protagonist in einer ziemlich außergewöhnlichen Situation ist, die vielleicht erst mal für einen Lacher sorgt, oder irgendwie prekär ist - und dann erzählt man, wie es zu diesem Punkt gekommen ist.
Was ich aber nicht gut finde, ist wenn Rückblenden benutzt werden, um so zu tun, als wäre da etwas außergewöhnlich, wenn es in Wahrheit eine ziemlich simple Geschichte ist, die man ohne weiteres geradeaus erzählen könnte. Und das ist meiner Meinung nach hier der Fall. Du machst deine Handlung unnötig verwinkelt und kompliziert, und das geht auf Kosten dessen, was eigentlich die Stärke des Textes sein könnte - die emotionale Wirkung.
Deine Figuren sind für mich ziemlich blass geblieben, obwohl es so ein langer Text ist, der ihnen über einen langen Zeitraum folgt, und obwohl es nur zwei zentrale Figuren sind. Für mich sind das eher Archetypen als individuelle Charaktere. Irgendwie hatte ich an fast jedem Punkt der Geschichte das Gefühl, ich hätte das schon mal gesehen, ohne dass ich dir jetzt im Einzelnen sagen könnte, wo das herkommt. Aber es war so - Mann erlebt und tut furchtbare Dinge im Krieg, verroht, misshandelt die Frau die er liebt, die erträgt das stillschweigend. Das erste Kind stirbt. Die Umgebung akzeptiert die Beziehung nicht, weil sie aus verfeindeten Nationen stammen. Eigentlich sind das alles Dinge, die mich irgendwie berühren müssten - wenn es Figuren passieren würde, zu denen ich einen emotionalen Bezug hätte. Da das nicht der Fall ist, weil du mir die Figuren nicht wirklich "vorgestellt" hast, sind das für mich alles Dinge, die aus einem Geschichtsbuch kommen. Ja, solche Sachen sind passiert - das wusste ich auch vorher schon. Was dem Text nicht gelingt, ist mir zu vermitteln, wie solche Sachen sich anfühlen.
Sprachlich ist das ein ziemlich reifer Text - ich habe vielleicht ein, zwei falsch gesetzte Kommas gesehen, die ich jetzt aber nicht mehr wiederfinde, aber auf dieser Ebene gibt es hier wirklich kaum was auszusetzen. Das viele Plusquamperfekt halt, aber das kommt eben von der Art, wie du die Geschichte aufgebaut hast.
Aber das ist ein Text, der eigentlich eine richtige Wucht entwickeln müsste, den Leser ein bisschen außer Atem zurücklässt. Wenn er das erreicht, dann aber eher dadurch, dass er nicht ganz leicht zu lesen ist, als dadurch, dass er einem emotional etwas abverlangt.
Grüße von Perdita