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Serie La’Raina – Mord

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25.05.2004
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La’Raina – Mord

Tara ist schon immer ein schwieriges Kind gewesen. Vielleicht liegt das daran, dass sie ohne Mutter aufgewachsen ist. Möglicherweise habe ich bei ihrer Erziehung auch einfach versagt. Dennoch hätte ich mir nie träumen lassen, dass es eines Tages so weit kommen würde. Mit traurigen Augen beobachte ich meine Tochter, wie sie trotzig vor dem Ältestenrat steht, während die Anklage verlesen wird. Seit sie nach ihrer Tat in Gewahrsam genommen wurde, habe ich sie nicht mehr gesehen. Laut erhebt sich die Stimme des Ältesten über den rund angelegten Dorfplatz. „Tara, Tochter von Rashik, Sohn von Mirik und Thora, du wirst angeklagt des Mordes.“

Trauer steigt in mir auf. Eigentlich hätte es Tochter von Rashik, Sohn von Mirik und Thora, und von Miria, Tochter von Permon und Irias, heißen müssen. Doch Miria hat unserem Dorf schon kurz nach Taras Geburt den Rücken gekehrt. Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder dem Ältesten zu, der mit der Anklageschrift fortfährt. „Dir wird zur Last gelegt, die Ermordung eines Menschen aus niederen Beweggründen geplant und durchgeführt zu haben. Dies steht im Widerspruch zu unserem Kodex, niemals einem Menschen zu schaden, es sei denn aus Notwehr. Die Bestrafung für die Missachtung ist der Tod.“

Der Älteste schweigt. Mir rinnt eine Träne die Wange herab. Ich bin froh, dass Miria nicht hier ist. Sie hätte das alles hier nie verkraftet. Sie war nicht stark. Aus diesem Grund ist sie damals auch fort gegangen. Ich habe mich immer schon gefragt, warum sie unsere Tochter bei mir gelassen hat. Hat sie gewusst, was aus Tara werden würde?

„Hast du irgendetwas zu deiner Verteidigung vorzubringen?“
Die Stimme des Ältesten reißt mich aus meinen Gedanken. Bitte, Tara, mach jetzt keinen Fehler! Meine Lippen bewegen sich stumm bei diesen Worten. Doch ich kenne meine Tochter zu gut. Ihre Stimme klingt hell und deutlich über den Dorfplatz. „Er war nur ein Mensch.“

Es liegt keine Reue in ihren Worten. Ein empörtes Raunen erhebt sich unter den versammelten Zuschauern. Irgendwo ertönt ein wütendes Fauchen. Der Älteste presst die Lippen fest zusammen. Man spürt seinen Zorn förmlich. Ich kann erkennen, wie schwer es ihm fällt, nicht die Hand gegen Tara zu erheben. „Ihr habt alle gehört, was sie gesagt hat. Der Ältestenrat beschließt hiermit, dass Tara hingerichtet wird, sobald der nächste Morgen anbricht.“
Mit diesen Worten dreht er sich um und blickt nacheinander jedes der anderen fünf Ratsmitglieder an, stumm fragend, ob sie mit seiner Entscheidung einverstanden sind. Einstimmiges Nicken ist die Antwort. Der Älteste wendet sich wieder den Zuschauern zu. „Ist jemand unter euch, der dieser Entscheidung nicht zustimmt?“

Ich weiß, dass er diese Frage nur der Form halber stellt. Umso überraschter scheint er zu sein, als ich vortrete. Mitleidig blickt er mich an. „Rashik?“
Mit ruhiger Stimme, die nichts von meiner inneren Nervosität verrät, halte ich meinen Vortrag. „Erhabener, Tara ist meine Tochter. Es wäre meine Pflicht gewesen, sie von ihrem Tun abzubringen. Darum liegt ein Teil ihrer Schuld bei mir. Wenn ihr sie anklagt, klagt ihr auch mich an. Ich bitte Euch nun, ihr Leben zu verschonen. Es wurde schon seit Jahrhunderten niemand mehr von diesem Rat hingerichtet. Ich bitte Euch, von diesen alten, abgelegten Sitten abzusehen. Ich schwöre, dafür zu sorgen, dass Tara niemals wieder ein Verbrechen begeht. Ich werde alle nötigen Maßnahmen dazu ergreifen.“

Der Älteste sieht mich nachdenklich an. „Du übernimmst die volle Verantwortung für alles, was sie in Zukunft noch tun mag?“
„Ich übernehme die volle Verantwortung.“
Bei einem Blick in Taras keineswegs dankbares Gesicht schießt mir der Gedanke durch den Kopf, ob ich mir da nicht vielleicht zu viel zugemutet habe. Aber sie ist meine Tochter, ich kann sie nicht einfach so in den Tod gehen lassen.
Der Älteste nickt. Laut verkündet er: „Der Rat zieht sich zur Beratung zurück.“

Auf dem Weg zu meinem Haus begegne ich vielen feindseligen Blicken. Niemand wird mir jemals vergeben, dass ich die Partei meiner missratenen Tochter ergriffen habe. Für die anderen ist Tara einfach nur eine Mörderin. Niemand begreift, warum sie diesen Menschen getötet hat. Ich verstehe es, auch wenn ich es nicht billige. Es liegt in ihrem Wesen. Ihre Mutter war zu sanft, zu mitleidig und zu weich für unsere Welt. Tara ist zu grausam, zu mitleidslos und zu hart. Sie war schon immer so. Ich erinnere mich an die zahlreichen Jagden. Sie hat immer mehr Wild getötet, als sie verspeisen konnte. Und jedes Mal habe ich sie gezwungen, alles aufzuessen. Nachher war ihr meist übel, und dennoch hat sie es bei der nächsten Jagd wieder getan. Sie tat es, weil ihr das Jagen Spaß machte. Weil es ihr immer schon gefiel, sich von ihren Instinkten leiten zu lassen. Und dieses Mal hat sie einen Menschen gejagt. Und ihn getötet. Und noch immer versteht sie nicht, was falsch daran ist. Sie hat unseren Kodex nie respektiert. Sie hat nie verstanden, warum Menschen tabu sind. Für Tara ist ein Mensch nur ein weiteres Säugetier, kein denkendes und fühlendes Wesen. Für Tara ist alles, was nicht von unserer Art ist, Beute.

Irgendwann, es ist schon fast Morgen, bringen sie sie nach Hause. Schweigend lösen sie ihre Fesseln, bevor sie sich dann mir zuwenden. Harim, mein ehemals bester Freund, sagt leise: „Der Rat hat seine Entscheidung verkündet. Sie ist jetzt La’Raina. Sie untersteht deiner Verantwortung. Für weitere Verbrechen, falls es welche geben sollte, werdet ihr beide zur Rechenschaft gezogen.“
Dann verlassen sie meine Hütte, und ich bin mit meiner Tochter alleine. La’Raina – die Ausgestoßene. Ich weiß, warum sie mich zur Urteilsverkündung nicht geholt haben. Sie wollten mir die Schmach ersparen, mit ansehen zu müssen, wie meine Tochter verstoßen wird. Das Urteil trifft mich, auch wenn es abzusehen war.

Tara steht stolz und unbeugsam in der Mitte des Raumes. Sie blickt mich kühl an. „Das hättest du nicht tun sollen, Vater.“
Ich lächele traurig. „Vielleicht nicht. Aber du bist meine Tochter. Ich bin für dich verantwortlich. Ich habe deiner Mutter geschworen …“
Meine Worte verlieren sich. Pass gut auf Tara auf, hatte sie gesagt, bevor sie uns verließ. Ich habees ihr versprochen. Ich wende mich wieder Tara zu. „Ich bin für dich verantwortlich“, schließe ich lahm.

Ich zögere, weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. „Tara … Ich will dir keine Vorhaltungen machen. Ich will nur wissen, warum?“
Sie sieht mich ernst an. Ich kann das Glitzern in ihren gelben Augen nicht so recht deuten, aber aus irgendeinem Grund ist es mir unheimlich. „Warum ich ihn getötet habe? Weil es mir Spaß gemacht hat.“
Ein Schauer durchrieselt mich bei ihrer Antwort. Sie klingt so nüchtern, so ernst. Sie meint jedes Wort genauso, wie sie es gesagt hat. „Warum kannst du nicht einmal unsere Regeln befolgen, Tara? Du musst sie nicht verstehen, du sollst sie nur respektieren. Ist das denn so schwer?“
Meine Stimme wird lauter, ich kann nichts dagegen tun.
„Ich weiß nicht, warum du dich so aufregst, Vater. Diesmal habe ich doch aufgegessen.“

Dieser Satz haut mich beinahe körperlich um. Dieser Satz und die Art und Weise, wie sie lächelt, während sie die Worte ausspricht. Und ich begreife endlich, wogegen ich mich jahrelang gesträubt habe. Ich werde sie nicht ändern können. Genauso wenig, wie ich ihre Mutter ändern konnte. Ich weiß, dass meine Stimme resigniert klingt, als ich sie leise frage: „Tara, kannst du mir wenigstens versprechen, dass du nie wieder einem Menschen schadest?“
Sie sieht mich an, als müsse sie darüber nachdenken. Dann leckt sie sich mit ihrer Zunge über die Lippen, eine unbewusste Geste. Ihre Augen glänzen, während sie lächelt. Es ist das Grinsen eines Raubtieres. „Nein, Vater, das kann ich nicht. Er war sehr lecker.“
Übelkeit steigt bei ihren Worten in mir hoch. Und auf einmal weiß ich, was ich zu tun habe. „Unter diesen Umständen kann ich nicht zulassen, dass du jemals wieder dieses Haus verlässt.“
Bevor sie reagieren kann, bin ich an der Tür, knalle sie hinter mir zu und schließe ab.

Eilig haste ich zur Hütte des Ältesten, klopfe an. Es dauert nicht lange, bis die Tür sich öffnet. Der Älteste scheint nicht überrascht, mich zu sehen. „Rashim?“
Seine Stimme klingt sanft, als rede er mit einem Kind. Ich beuge meinen Kopf. „Erhabener, ich bitte Euch, Euer Urteil zurückzunehmen.“
Er sieht mich an, seine Augen schimmern gelb im Schein der Morgensonne, die noch tief am Himmel steht. Bedauernd schüttelt er den Kopf. „Das kann ich nicht, Rashim. Sie musste bestraft werden. Wir mussten sie ausstoßen.“
Abwehrend schüttele ich den Kopf. Er versteht mich nicht. Was ich jetzt zu sagen habe, fällt mir nicht leicht. Ich verurteile damit mein eigenes Kind. „Erhabener, ich möchte meinen Einspruch gegen die Hinrichtung zurückziehen. Ich bitte Euch, unter diesen Umständen ein neues Gericht abzuhalten und ein neues Urteil zu fällen.“
Überraschung liegt in seinem Blick, dann Achtung und Verständnis. Wir wissen beide, dass der Rückzug meines Einspruches ihren Tod bedeuten wird. Der Älteste berührt sanft meinen Arm. „Sie wird sich nicht ändern, nicht wahr?“
Ich schüttele nur den Kopf, bringe kein Wort heraus. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Der Älteste sieht mir ernst in die Augen. „Es ist nicht deine Schuld, Rashim.“
Ich antworte nicht. Denn es ist meine Schuld. Ich bin für sie verantwortlich. Ich hätte von Anfang an härter mit ihr sein sollen, unnachgiebiger. Wir holen Harim und seinen Nachbarn, die beiden, die Tara nach Hause gebracht haben. Der Älteste erklärt ihnen kurz die neue Lage, während ich stumm hinter ihm stehe. Harim begegnet meinem Blick, und zum ersten Mal seit Taras Verhaftung steht Achtung in seinen Augen.

Als wir bei meiner Hütte angelangt sind, schließe ich die Tür auf. Der einzige Raum ist leer. Das offene Fenster klappert leise gegen die Innenwand der Hütte. Bestürzung regt sich in mir. Schockiert frage ich mich, wie sie es geschafft hat, sich durch die kleine Öffnung zu zwängen. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Aber es bestätigt, was mir unlängst klar geworden ist. Tara ist gefährlich. Was mag sie alleine dort draußen tun, ohne jede Aufsicht? Ich drehe mich zu meinen Begleitern um und hebe hilflos die Hände. Harims Augen stehen voller Verachtung. Wahrscheinlich glaubt er, ich hätte Tara laufen lassen, um mich vor der mir auferlegten Verantwortung zu drücken. Der Älteste blickt mich ernst an. „Rashim, das Urteil wurde noch nicht widerrufen. Sie unterliegt deiner Verantwortung.“
„Ich weiß. Ich werde Euch nicht enttäuschen, Erhabener.“
Der Älteste nickt noch einmal und verlässt dann meine Hütte. Die anderen beiden folgen ihm, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Traurig sehe ich mich in meiner Hütte um, dann packe ich ein paar Sachen zusammen.

Auf dem verschlungenen Pfad, der von unserem kleinen, gut versteckten Bergdorf ins Tal führt, drehe ich mich ein letztes Mal um. Bedauern stieg in mir auf. Vielleicht werde ich meine Heimat nie wieder sehen. Ob Miria auch so gefühlt hat, als sie unser Dorf verließ? Ich glaube nicht. Wahrscheinlich war sie eher erleichtert. Sie hat nie wirklich zu uns gepasst, genauso wenig wie Tara.

***

Ich beobachte sie, wie sie durch die Hauptstraße der Stadt schlendert. Sie sieht genau so aus wie damals, als ich sie zum letzten Mal sah. Sie bemerkt mich nicht, denn ihre ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf den Dieb, der ihr wie ich folgt. Ich weiß, was sie vorhat, sobald sie in die dunkle Gasse biegt. Ihr Kleid schimmert weiß im Mondlicht. Wehmut steigt in mir auf. Diese junge Frau ist nicht mehr meine Tochter. Nicht mehr, seit dem Mord, den sie damals in unserem Dorf beging. Ich habe sie lange gesucht, bin ihren Spuren gefolgt. Überall, wo sie sich aufhielt, hinterließ sie tote Menschen. Meine Tochter ist zu einer Killerin geworden, die ihre Vorteile normalen Menschen gegenüber gnadenlos ausnutzt.

Nach kurzem Zögern folge ich ihr in die schmale Gasse, in die auch der Dieb kurz vor mir gegangen ist. Im Gegensatz zu ihm weiß ich, dass sie die Jägerin ist und er die Beute. Tara steht an der Spitze der Nahrungskette. Obwohl ich mir sicher bin, dass sie auch dieses Mal eigentlich gar keinen Hunger hat. Vielleicht kann ich ja dieses Mal einen sinnlosen Mord verhindern. Ich frage mich, wie viele Menschenleben sie bereits ausgelöscht hat, seit sie damals aus dem Dorf verschwand. Für wie viele Tote sie verantwortlich ist, und damit auch ich. „Du übernimmst die volle Verantwortung für alles, was sie in Zukunft noch tun mag?“ „Ich übernehme die volle Verantwortung.“ Die Worte des Ältesten kommen mir in den Sinn. Jedes einzelne Menschenleben, das Tara nahm, lastet auf mir. Eine Schuld, die niemals einzulösen ist. Und das alles nur, weil ich als verblendeter Vater zu spät den wahren Charakter meiner Tochter erkannt habe.

Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich den Dieb verloren habe. Ratlos blicke ich mich um. In Städten habe ich mich nie wohl gefühlt. In den riesigen Ansiedlungen der Menschen verliere ich immer wieder die Orientierung. Die ganzen Gerüche und der Lärm irritieren mich. Ich konzentriere mich, während ich die enge Gasse wieder ein Stück zurück laufe. Wo ist Tara? In diesem Moment höre ich ein Fauchen, dann Stille. Ich verwandele mich, renne in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Es ist Tara gewesen, ohne jeden Zweifel. Meine Ohren zucken nervös, als ich um eine Ecke biege. Und schließlich sehe ich sie vor mir. Tara, meine Tochter. Sie hat mich noch nicht bemerkt, ist vertieft in ihre Beute. Auch wenn ich es nicht sehe, weiß ich, dass das Fell um ihr Maul vom Blut des Diebes durchtränkt ist. Der süßliche Geruch, der von dem Toten aufsteigt, ist mir beinahe unerträglich. Resigniert schüttele ich den Kopf. Wieder einmal bin ich zu spät gekommen.

Plötzlich sieht Tara sich um, ihre Nackenhaare richten sich auf. Ihre gelben Augen zucken nervös von einer Stelle zur anderen. Noch hat sie mich nicht entdeckt, doch sie weiß, dass ich da bin. Ich spüre Bedauern bei dem Gedanken, was aus ihr geworden ist. Was ich sehe, ist eine stolze Raubkatze. Pechschwarzes Fell, im Mondlicht gelb schimmernde Augen. Ihre Bewegungen sind geschmeidig und lautlos. Ihr Schwanz zuckt nervös hin und her. Und ihr Körper ist mit Blut befleckt. Dieses Wesen da vorne in der Gasse, das ist nicht mehr meine Tochter. Halb Mensch und halb Tier, ist sie immer mehr zum Tier geworden. Hat ihre Instinkte mehr und mehr über ihren Verstand gestellt. Tara hat ihre Menschlichkeit verloren. Normalerweise bestraft unser Stamm dies mit dem Tod, manchmal jedoch, in ganz schwer wiegenden Ausnahmen, tritt eine noch schlimmere Strafe in Kraft. Ich werde dafür sorgen, dass Tara stirbt, anstatt auf andere Art und Weise für ihre Taten büßen zu müssen. Trauer erfüllt mich bei dem Gedanken, dass ich entschlossen bin, meine eigene Tochter zu töten.

Ihr Fauchen lässt mich zusammenzucken. Ich antworte auf die gleiche Art. Ihre Augen zucken in meine Richtung, erkennen mich. Sie weiß wer ich bin, und warum ich hier bin. Ich trete ihr entgegen, in die Gasse hinein. Ein Blick zwischen uns sagt alles. Sie ist noch immer entschlossen, ihr Leben weiter so zu führen wie bisher. Ich bin der Einzige, der sie aufhalten kann. Mehr noch, es ist meine Pflicht.
Warum tötest du Menschen? Diese Frage ist gestellt, bevor ich bemerke, dass ich die Absicht dazu hatte. Ich kann meine Verachtung ihren Taten gegenüber nicht unterdrücken.
Weil sie es nicht anders verdienen! Wir kommunizieren lautlos, zwei Wesen der gleichen Art, wie sie verschiedener nicht sein könnten. Ich schüttele wütend den Kopf.
Das ist doch nur eine Ausrede! Du tötest sie, weil es dir Spaß macht. Weil du es kannst. Warum nur begreifst du nicht, dass man nicht immer alles tun sollte, nur weil man die Fähigkeit dazu besitzt?
Jetzt schüttelt sie den Kopf. Sie ist überzeugt, im Recht zu sein. Ich weiß nicht, wie sie es schafft, die Morde vor sich selbst zu rechtfertigen, aber augenscheinlich lasten sie nicht so schwer auf ihrem Gewissen wie auf meinem. Ihre Antwort überrascht mich nicht.
Ich tue nur das, wozu wir geboren wurden! Wir sind nicht umsonst halb Mensch und halb Tier, Gestaltwandler. Die Raubkatze ist ein Teil von mir. Ich werde sie nicht unterdrücken, so wie du es tust!
Bedauern durchfährt mich, denn ich weiß, was ich zu tun habe. Ich kann nicht länger zulassen, dass du das tust.
Ich mache mich bereit zum Angriff. Meine Nackenhaare stellen sich auf, während ich mich sprungbereit ducke.
Bitte, ich will dir nicht wehtun. Dieser Satz zeugt von einem letzten Rest Menschlichkeit in ihr, doch es ist zu wenig. Viel zu wenig.
Zu spät. Meine Antwort.

Ich gehe geduckt einen Schritt auf sie zu. Sie fängt an, mich zu umkreisen. Ihre Augen registrieren jede meiner Bewegungen, während ich mich ebenfalls im Kreis bewege. Das ist der Grund, aus dem Tara so gefährlich ist. Sie ist ein Raubtier, das denken kann. Ich bin größer als sie, und stärker, aber ich glaube nicht, dass mir das wirklich helfen wird. Schließlich halte ich dieses Umkreisen nicht länger aus und springe sie an, schlage nach ihr. Ein richtiger Treffer, und sie wäre zumindest für einen Moment außer Gefecht. Doch sie weicht geschickt aus. Tara ist flink und wendig, und die Jahre der Jagd haben ihren Körper trainiert. Der süßliche Geruch des Toten zu unseren Füßen irritiert mich. Auf einmal fühle ich mich alt. Ich fauche und schlage wieder nach ihr. Sie bewegt sie schnell, viel zu schnell für mich, und dieses Mal trifft sie, noch während sie meinem Schlag ausweicht. Für einen Moment ist meine Schulter taub, dann fängt sie an, schmerzhaft zu pochen. Wut steigt in mir auf, und ich knurre laut.

Ich weiß, dass dieses ewige einander Umkreisen und Zuschlagen kein Kampf ist, den ich gewinnen kann. Sie ist zu wendig dafür. Mir scheint, als könnte sie meine Bewegungen bereits im Voraus erahnen. Ich muss meine Kraft einsetzen, das weiß ich. Ich springe sie an. Auch das hat sie erwartet. Sie weicht zwar unter meinem Aufprall ein paar Schritte zurück, dann jedoch fängt sie sich. Wir stehen jetzt beide auf unseren Hinterbeinen, unsere Vorderpranken umklammern den Hals des anderen. Für einen Moment sehe ich in ihre Augen. Die Augen meiner Tochter. Bedauern steigt in mir auf, dann jedoch ändert sich das Gefühl schlagartig bei dem, was ich in ihren kalten Augen lese. Angst steigt in mir auf. Todesangst. Was sie tut, macht ihr Spaß. Ich lese Mordlust in ihren Augen. Und ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass sie mich töten wird, wenn ich ihr nicht zuvorkomme.

Noch einen Moment zögere ich, versuche in ihren Augen meine Tochter zu finden, die nicht mehr da ist. Dann beuge ich meinen Kopf und ziele auf ihre Kehle. Im selben Moment weiß ich, dass ich zu langsam bin. Mein Zögern wird mein Tod sein. Ihr Kopf zuckt vor, unglaublich schnell. Schmerz durchfährt mich, als ihre Zähne sich in meine Kehle bohren. Sie schüttelt ihren Kopf, während ich ohnmächtig in ihrer Umklammerung hänge. Ich spüre, wie mein Blut fließt, wie ich schwächer werde. Stimmen klingen in meinem Kopf.

„Dies ist meine freie Entscheidung.“ Mirias Stimme hallt klar über den Dorfplatz. Ich spüre, dass niemand versteht, wie sie so etwas freiwillig tun kann. Die Ältesten sammeln sich um Miria, die in ihrem weißen Kleid in der Mitte des Dorfplatzes steht. Unschuldig und rein sieht sie aus, wie sie dort so steht. Fast noch kindlich. Eine Träne rinnt mir die Wange herunter. Ich stehe mit den anderen am Rande des Dorfplatzes, unser neugeborenes Kind auf dem Arm. Die Ältesten beginnen mit dem Ritual. Sie summen erst leise, dann immer lauter und rhythmischer, während Miria reglos in ihrer Mitte steht. Magie liegt in der Luft, wie ein Flimmern. Abrupt bricht die Melodie ab. Der Älteste tritt vor. „Du hast es vorgezogen, als Mensch zu leben und nicht als Raubtier. So sei es.“
Seine Stimme ist fest, während er seine Hand auf ihren Kopf legt. Ich weiß, es fällt ihm nicht leicht, Mirias Wunsch zu entsprechen, genauso wenig wie den anderen des Ältestenrates. Dennoch ertönt das Echo der anderen fünf: „So sei es.“
Einer nach dem anderen tritt vor, bis sie einen Kreis um Miria bilden und jeder sie mit einer Hand berührt. Dann beginnen sie wieder zu singen, fremde Worte, die ich weder begreifen kann noch will. Und etwas geschieht mit Miria, die Luft um sie herum beginnt zu flimmern, wie die Wüste, auf die die Sonne prallt.
Und dann ist es vorbei. Die Ältesten treten zurück. Miria sieht genauso aus wie vorher, aber ich weiß, dass sie jetzt anders ist. Der Älteste sagt: „Miria, du bist in diesem Dorf nicht mehr willkommen. Du bist verpflichtet, über uns Schweigen zu bewahren. Niemand darf je von unserer Existenz erfahren. Schwörst du das?“
„Ich schwöre.“ Laut und rein klingt ihre Stimme über den Dorfplatz. Dann kommt sie auf mich zu, sieht mich ein letztes Mal bedauernd an. „Leb wohl, Rashim. Pass gut auf Tara auf.“
Dann dreht sie mir den Rücken zu und verlässt für immer unser Dorf. Miria ist jetzt ein Mensch.

Ich komme zu mir, liege am Boden. Ich spüre, wie mein Körper sich im Sterben verwandelt. Tara blickt mich reglos an, ich kann nicht erkennen, was sie denkt oder fühlt. Ich bedaure, dass es soweit kommen musste, denn der Preis, den sie für meinen Tod wird zahlen müssen, wird ein fürchterlicher sein. Ihre Mutter hat sich freiwillig entschieden, ein Mensch zu sein, weil sie die Jagd verabscheute und das Tier in sie nie akzeptieren konnte. Tara hat sich entschieden, ein Tier zu sein. Und die Ältesten werden eines aus ihr machen, sobald sie sie finden. Und ich zweifle nicht daran, dass sie es tun werden. Mein Tod wird sie aufschrecken. Ich strecke Tara meinen Arm entgegen, will sie streicheln, in den Arm nehmen, wie ich es tat, als sie noch klein war.
„Tara …“, flüstere ich. Sie zuckt zusammen, der Ausdruck in ihren Augen ändert sich. Ist es Reue? Ich weiß es nicht. Ihre gelben Augen sind das letzte was ich sehe, bevor endgültige Schwärze mich umfängt.

 

Hallo Red,

oh, ich freu mich schon, wieder was von La'Raina zu lesen :D
Aber erst mal Textkram.


Sie hätte das alles hier nie verkraftet. Sie war nie stark.

Mach das mal zu einem "nicht", dann hast du die Dopplung nicht drin.


Ihre Stimme klingt hell und deutlich über den Dorfplatz. „Er war nur ein Mensch.“

:thumbsup:


Der Älteste wird vor Zorn rot im Gesicht.

Hier gefällt mir die Formulierung irgendwie nicht. Ich weiß auch nicht, vielleicht: man sieht, wie der Zorn in dem Ältesten aufsteigt... oder so ähnlich. irgendwie klingt es so nach Comic


blickt jedes einzelne der anderen fünf Mitglieder des Rates an,

Vorschlag: nacheinander jedes/n der übrigen fünf Ratsmitglieder...


von diesen alten, abgelegte Sitten abzusehen.

abgelegten


Ich hatte es ihr versprochen.

habe


„Ich weiß nicht, warum du dich so aufregst, Vater. Diesmal habe ich doch aufgegessen.“

schön konsequent :thumbsup:


Das offene Fenster klappert leise gegen die Innenwand der Hütte.

Hmmm... und an das Fenster hat er vorher nicht gedacht? Ich meine, seine Tochter wird ja wohl kaum brav auf ihn warten, und das muss ihm klar sein. Vielleicht baust du da noch was ein.


Tara steht ganz oben auf der Nahrungskette.

es heißt: "an", außerdem fände ich: "an der Spitze der Nahrungskette" schöner


Es war Tara gewesen,

ist


Ich antworte auf die gleiche Art.

Hier hätte ich gerne einen kleinen Hinweis gehabt, dass er sich auch verwandelt hat.

Sie ist überzeugt, dass sie im Recht ist.

im Recht zu sein ... klingt hübscher


und die Jahre auf der Jagd haben ihren Körper trainiert.

das auf würde ich weglassen, klingt besser


Alles wird schwarz um mich.

Als letzter Satz etwas schwach. Zumindest das "alles" würde ich durch "es" ersetzen. Vielleicht fällt dir aber ja noch etwas kraftvolleres ein.


So, :D
du weißt ja, dass ich deine Geschichten mag. Und an La'Raina hab ich eh einen Narren gefressen. Insofern hat es mir natürlich gefallen. Aber auch sonst: gut und flüssig geschrieben, ich finde es gut, dass man ein wenig über die Vergangenheit der guten Tara erfährt. Die Kampfszene, die ich ja schon kannte, aus einer anderen Sicht geschrieben, ist interessant und in diesem Fall macht es mir nichts, dass der Ich-Erzähler stirbt (das war mir zumindest ja von Anfang an klar.


Schade, dass du bei deiner anderen Geschichte Tara schon hast schnappen lassen. Oder gibt es noch ein paar Prequels? Oder Geschichten zwischen dem Mord an ihrem Vater und ihrer Gefangennahme?

Auf jeden Fall bestätige ich dir mal wieder interessante Charaktere ;)
Hat mir gut gefallen.

Gruß,

Ronja

 

Hallo Ronja,

:bonk: Und ich hatte gedacht, ich hätte gründlich durchgelesen. Wo kommen bloß immer die ganzen Rechtschreibfehler her? Ich hab deine Anmerkungen jedenfalls soweit übernommen, außer

Ich antworte auf die gleiche Art.
Hier hätte ich gerne einen kleinen Hinweis gehabt, dass er sich auch verwandelt hat.
Dazu sage ich nur:
In diesem Moment höre ich ein Fauchen, dann Stille. Ich verwandele mich, renne in die Richtung ...
:p

Na ja, eigentlich war das mit der Serie gar nicht geplant, darum hatte ich La'Raina auch erst in Fantasy veröffentlicht. Dann hab ich aber angefangen, ein paar von den Serien durchzulesen und hab mir gedacht, hey, das probier ich mal aus. Und da La'Raina meine letzte Geschichte war und daher auch am frischsten, kam mir die Idee mit dem Perspektivwechsel ... :bla:

Aber weitere La'Raina-Geschichten sind durchaus möglich, der Charakter bietet ja wirklich viel Raum. Allerdings hatte ich zuerst eine Geschichte über ihre Mutter geplant, aber :sealed: ;)

Jedenfalls vielen Dank für dein Kompliment, freu mich immer wieder über nette Worte zu meinen Geschichten ... :shy:

Gruß,

Red Unicorn

 

Hey Red,

Felsys Textkram hab ich eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Es war schön, die andere Seite der Medaille zu lesen, mir ist nur ein Tippfehler aufgefallen (da fehlte eine Leertaste), bin aber zu müde/faul zum Raussuchen.
Wenn ich Zeit und Lust finde, geh ich in der nächsten Zeit noch mal drüber (obwohl die Ronja mir ja wirklich nicht viel übriggelassen hat!). Schreib mal fleißig weiter, ich würd gern wissen, wie es weitergeht!

gruß
vita
:bounce:

 

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