Mitglied
- Beitritt
- 25.05.2004
- Beiträge
- 92
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
La’Raina – Die Tochter der Mörderin
Für Felsenkatze, die so lange auf die Letzte (La’Raina-Geschichte) warten musste
Ich beobachte die Menschenfrau, wie sie die Hauptstraße unseres Dorfes entlang schreitet. Ich bin gebannt von ihr, sie ist wunderschön. Sie bewegt sich mit einer Eleganz, die beinahe an die unserer Rasse herankommt, aber eben nur beinahe. Sie ist der erste Mensch, den ich je in meinem Leben erblickt habe, denn La’Raina, die Verfluchte, streift um das Dorf herum und Menschen sind ihre bevorzugte Beute. Ich frage mich, wie die Fremde es geschafft hat, an ihr vorbeizukommen. Soweit ich weiß, war kein Mensch mehr in unserem Dorf, seit La’Raina verflucht wurde.
Mein Blick folgt gebannt der fremden Schönheit, als sie auf mich zukommt. Ihren Kopf hält sie selbstsicher gehoben und ihre fast weißen Haare kräuseln sich leicht mit dem Wind. Ich schätze sie etwas kleiner ein als mich, aber nicht viel. Sie sieht sehr jung aus, auf keinen Fall älter als ich. Als sie näher kommt, hält sie meinen Blick mit ihren strahlend blauen Augen fest. In mir regt sich etwas. Sie ist so sehr Frau, dass es mir den Atem nimmt. Ich halte mir gedanklich vor, dass sie nur eine Menschenfrau ist, aber das hilft mir wenig, als sie mich mit ihrer glockenhellen Stimme fragt: „Ich suche ein Dorf, das keinen Namen hat. Kannst du mir sagen, ob ich hier richtig bin?“
Ich runzele die Stirn. Unser Dorf hat in der Tat keinen Namen, wir nennen es immer nur das Dorf. Neugierig frage ich zurück: „Aus welchem Grund suchst du dieses Dorf?“
Sie lächelt und mir stockt der Atem. Warum finde ich diese Menschenfrau so faszinierend? „Ich glaube, dass ich aus diesem Dorf stamme.“
Ich muss lachen über ihre Antwort und sie sieht mich vorwurfsvoll an. Wenn sie wüsste, wo sie hier gelandet ist, dann würde sie rennen, so schnell sie könnte. Bei dem Gedanken steigt Bedauern in mir auf, denn ich unterhalte mich gerne mit ihr. Aber sie kann nicht aus unserem Dorf stammen, allein schon aus dem Grund, weil sie eine Menschenfrau ist. Wir sind keine Menschen. Wir sind Gestaltwandler, halb Mensch und halb Tier. Raubkatzen, um genau zu sein.
Ich blicke sie entschuldigend an. „Verzeihung, aber du kannst nicht aus unserem Dorf stammen. Noch nie hat es jemand von uns verlassen.“
Ausgenommen La’Raina, die Verfluchte, füge ich in Gedanken hinzu, aber die zählt wohl kaum. Die Fremde sieht enttäuscht aus. Bei dem weiten Weg, den sie hinter sich haben muss, ist das wohl kein Wunder. Ich betrachte sie fasziniert, versuche Unterschiede festzustellen zwischen ihr und uns, aber außer ihren hellen Haaren fällt mir nichts auf. Ich hatte irgendwie immer angenommen, dass Menschen ... anders aussehen müssten.
„Wie ist dein Name?“ Die Frage verlässt meinen Mund, ohne dass ich sie vorher auch nur in Gedanken geformt hätte. Ich verfluche mich, was interessiert mich schon, wie sie heißt? Es sollte mich zumindest nicht interessieren, aus irgendeinem Grund tut es das aber trotzdem.
„Blanca. Ich heiße Blanca.“
„Blanca.“ Der Menschenname klingt fremd aus meinem Mund. „Mein Name ist Ashkan.“
Sie zögert ein wenig, dann fragt sie: „Weißt du vielleicht, wo ich dieses Dorf finden kann?“
Ich finde es traurig, dass sie so weit gereist ist, nur weil irgendjemand ihr gesagt hat, sie würde von hier kommen. „Nein, tut mir leid, ich kann dir nicht helfen. Dieses Dorf ist das einzige weit und breit. Es ist sehr abgelegen.“
Sie sieht betrübt aus, als sie das hört. „Ich weiß wirklich nicht, wo ich noch suchen soll.“
Am besten gar nicht mehr, will ich sagen, aber ich verkneife es mir. Stattdessen frage ich sie freundlich: „Möchtest du vielleicht hier übernachten, bevor du dich morgen wieder auf den Weg machst? Kann ich dir etwas zu essen oder zu trinken anbieten?“
Gleich darauf ärgere ich mich, denn was will ich ihr schon anbieten, außer Fleisch und Wasser? Ich weiß zwar, dass Menschen auch Fleisch essen, aber eben nicht nur. Und was sie sonst noch essen ... Was isst man, wenn man kein Fleisch isst? Ich weiß es nicht. Und dazu, wenn sie hier übernachtet, dann müssen wir alle aufpassen, dass sie nicht sieht, wie wir uns verwandeln. Besonders auf die Kinder müssen wir dann aufpassen, denn die wissen ja nicht, dass sie einen Menschen damit ganz schön schockieren könnten. Das glaube ich zumindest. Zum Glück jedoch antwortet die Fremde – Blanca, wie ich mir in Erinnerung rufe: „Nein, danke, ich habe unterwegs bereits gegessen und müde bin ich auch nicht. Vielen Dank für deine Auskunft. Ich werde mich dann wohl besser wieder auf den Weg machen.“
Ich nicke ihr zum Abschied zu und beobachte dann fasziniert, wie sie geschmeidig den schmalen Pfad aus unserem Dorf heraus einschlägt. Unterwegs gegessen? Die Frage formt sich in meinem Kopf, denn sie hat nichts dabei, worin man Essbares transportieren könnte. Ob Menschen auch jagen und dann direkt essen? Wovon ernähren sie sich, wenn sie kein Fleisch essen? Diese Gedanken machen mich neugierig. Plötzlich will ich mehr wissen über die Welt außerhalb unseres Dorfes, die mich bisher nie sonderlich interessiert hat. In meine Gedanken über die Welt der Menschen versunken sehe ich Blanca hinterher, bis der Wald sie verschlingt.
„Wer war das?“ Die Stimme schreckt mich aus meinen Gedanken. Etwas verschämt stelle ich fest, dass ich immer noch versunken auf die Stelle starre, an der Blanca verschwunden ist. Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon sitze, aber da es bereits dämmert, muss es schon eine ziemliche Weile gewesen sein.
„Blanca. Eine Menschenfrau.“
„Eine Menschenfrau? Hier?“
Ich blicke auf. Irias steht dort und sieht mich fragend an. Sie ist eine der Ältesten, eine der sechs, die unser Dorf leiten. Als ich nicht antworte, hakt sie erneut nach: „Was wollte sie hier?“
Meine Lippen verziehen sich zu einem leichten Lächeln. „Sie war der Meinung, sie stammt von hier.“
„Sie stammt von hier?“
Bei dem Tonfall von Irias Stimme blicke ich sie scharf an. Ich bin überrascht, dass sie nicht darüber lacht. Stattdessen scheint sie nachdenklich. „Die Tochter der Mörderin … Die Tochter der Mörderin …“, murmelt sie, während sie unruhig hin und herläuft. „Kann es sein? … möglich?“
Ich verstehe nur Satzfetzen und werde unruhig, worüber denkt sienach? Die Tochter der Mörderin? Was hat das zu bedeuten? Plötzlich sieht Irias mich mit stechendem Blick an. „Lauf ihr nach, sofort! Hol sie zurück! Ihr darf … Ihr darf nichts geschehen, hörst du?“
Verwirrt nicke ich. Dem Befehl einer Ältesten würde ich mich nie widersetzen, auch wenn ich ihn nur teilweise verstehe. Irias spielt natürlich auf La’Raina an. Einmal hat die Verfluchte eines unserer Kinder gejagt und getötet. Daraufhin hat das ganze Dorf Jagd auf sie gemacht, aber gefunden haben sie nichts. Und jetzt ist Blanca dort draußen, und es dämmert bereits … Plötzlich habe ich es eilig, habe das Gefühl, dass ich keine Zeit mehr verlieren darf. Das Bild von Blanca, wie sie allein und schutzlos im Wald verschwindet, drängt sich in meine Gedanken. Hastig verwandle ich mich, dann sprinte ich in die Richtung, in die die junge Frau gegangen ist.
Ich höre sie bereits, bevor ich sie sehe. Das wütende Fauchen, das wilde Rascheln im Laub. Ich bin zu spät! Bin ich zu spät? Eilig laufe ich weiter, bis ich sie sehe. Eine pechschwarze Raubkatze und eine schneeweiße, im Kampf ineinander verkeilt. Die Schwarze hat nur noch ein Auge, das andere ist eine blutige Höhle, dort, wo die Krallen der Weißen sie wohl getroffen haben. Ansonsten scheint sie unverletzt. Bei ihrer Gegnerin erkenne ich jedoch sofort das Blut, das sich rot von ihrem weiß schimmernden Fell abhebt. Sie hat Angst. Ich kann es spüren. Sie weiß, dass sie die Schwächere ist, dass sie den ersten Treffer nur dem Überraschungsmoment zu verdanken hat. Sie hat Angst, getötet zu werden. Von der schwarzen Katze spüre ich gar nichts. Daher weiß ich auch, dass es La’Raina sein muss, die Verfluchte, der man jegliche Menschlichkeit genommen hat. Instinktiv will ich sie töten, die andere retten. Ich schleiche mich vorsichtig an. Die beiden bemerken mich nicht, sind viel zu sehr in ihren Kampf vertieft. Verkeilt ineinander. Dazu kann La’Raina mich nicht sehen, denn auf der Seite, von der ich mich anschleiche, fehlt ihr das Auge. Nur aus diesem Grund schaffe ich es wohl auch, unentdeckt nah genug an die beiden Kämpfenden heranzukommen. Mit einem riesigen Satz springe ich die Verfluchte an, beiße ihr fest in die Kehle. Blut spritzt aus der tiefen Wunde, dennoch lässt La’Raina ihre weiße Gegnerin nicht los, schlägt ihre Krallen tief in die Flanke der anderen. Nach und nach jedoch verlassen sie ihre Kräfte, bis sie schließlich zu Boden gleitet. In ihren sterbenden Augen erkenne ich keine Gefühle. Eine seltsame Erleichterung erfüllt mich. Ich habe wirklich nur ein Tier getötet und keinen von uns. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass die Verfluchte nicht mehr lebt, verwandle ich mich und wende ich mich der weißen Katze zu, die mittlerweile ebenfalls zu Boden gesunken ist. Vorsichtig löse ich sie aus dem klammernden Griff der Toten und schleife sie ein wenig zur Seite. Kraftlos versucht sie, sich gegen mich zu wehren, doch sie ist viel zu schwach. Ihre strahlend blauen Augen kommen mir vage bekannt vor, aber ich bin viel zu durcheinander, um jetzt darüber nachzudenken. Verzweifelt versuche ich, die Blutungen zu stoppen, aber ich habe keinerlei Stoff, den ich dafür verwenden könnte. Ich blicke mich hilflos um, weiß nicht, was ich tun soll. Sie ist zu schwer, als dass ich sie ins Dorf tragen könnte. Soll ich sie alleine lassen und Hilfe holen? Scheint mir keine gute Idee zu sein. Hier im Wald gibt es noch andere Räuber, Bären zum Beispiel, und die fremde Raubkatze ist völlig wehrlos. Aber wie soll ich ihr helfen, wenn ich hier bleibe? Ich kann ja nicht einmal ihre Blutungen stoppen, auch wenn ich alles versuche und beide Hände auf die größte Wunde an ihrem Schulterblatt drücke, um sie so gut es geht zu schließen. Der Anblick von rotem Blut in weißem Fell macht mich traurig, und wütend. Wütend auf La’Raina, die Mörderin.
Eine Weile sitze ich neben der Weißen, der ich nicht helfen kann, die ich aber auch nicht alleine lassen will. Sie wird immer schwächer, das Bewusstsein hat sie schon längst verloren. Plötzlich höre ich Geräusche, jemand läuft eilig durch den Wald auf mich zu. Ich will mich gerade verwandeln – in meiner Gestalt als nackter Mensch bin ich vollkommen wehrlos – da erkenne ich eine Stimme: „Eilt euch, sie müssen irgendwo hier sein.“
Irias.
Es dauert nicht mehr lang und sie sind hier. Irias und noch ein paar andere aus dem Dorf, zwei von ihnen tragen eine Bahre. Irias sieht sich um, sieht die verletzte weiße Katze und die tote Schwarze. Eine Weile verharrt ihr Blick traurig auf La’Raina, dann jedoch wendet sie sich der anderen zu. „Ist das Blanca?“
Verwirrt blicke ich von Irias zu der Weißen und wieder zurück. Bevor ich auch nur ein Wort sagen kann, fängt Irias an zu befehlen: „Legt Blanca vorsichtig auf die Bahre, und versorgt vorher ihre Verletzungen. Mashan, du nimmst La’Raina.“
„Aber …“
„Keine Diskussion. Du nimmst La’Raina.“
Ohne ein weiteres Wort stapft Mashan wütend auf das tote Tier zu und hebt es lieblos auf seine kräftigen Schultern. Irgendwie kann ich verstehen, warum Irias darauf besteht, schließlich ist die Verfluchte ihre Enkelin. Und dass die Verletzte Blanca ist, ist natürlich auch vollkommen klar, denn ich kann schließlich nur von einem Gestaltwandler in seiner Tiergestalt Gefühle empfangen, nicht jedoch von einem Tier. Falls es denn welche hat. Ich verstehe nur nicht, wieso Blanca eine Gestaltwandlerin ist, denn sie kann ja nicht aus unserem Dorf stammen. Ob es an anderen Orten noch mehr Wesen gibt, die so sind wie wir? Eigentlich weiß ich gar nichts über die Welt außerhalb unseres Dorfes. Vielleicht gibt es außer uns und den Menschen wirklich noch andere Wesen. Energisch schüttle ich die grüblerischen Gedanken von mir und streife hastig die Gewänder über, die Irias mir zuwirft. Dann laufe ich zu der Bahre, auf der Blanca mittlerweile liegt. Ihre Wunden sind bereits notdürftig verbunden. So machen wir uns auf den Rückweg zum Dorf. Ich laufe besorgt neben der Bahre her, voller Angst, Blanca könnte mir entgleiten, ohne noch einmal ein Wort mit mir gewechselt zu haben. Ich mag sie sehr, gerade jetzt, wo ich weiß, was sie ist. Obwohl ich mir nicht erklären kann, woher sie kommt.
Als wir im Dorf ankommen bricht Jubel aus, als die anderen die tote Katze auf Mashans Schultern als La’Raina erkennen. Mich jedoch lässt das kalt, ich bin besorgt um Blanca, die immer flacher atmet. Als sie in Irias Hütte getragen wird, folge ich ihr, ohne um Erlaubnis zu fragen. Irias setzt sich neben Blanca, sieht mich kurz an und gibt mir mit einem Nicken die Erlaubnis, zu bleiben. Sie beginnt vorsichtig, jede einzelne Wunde mit Kräutern einzureiben, bevor sie sie wieder verbindet. Ich fühle mich hilflos, sitze einfach nur da und halte meine Hände verkrampft in meinem Schoß. Ich weiß nicht, wie ich Irias helfen könnte und sie sagt nichts, also versuche ich einfach nur, nicht im Weg zu sein. Die Blutungen haben mittlerweile aufgehört, aber Blanca ist schlimm zugerichtet. Ich habe einen Kloß im Hals, als ich Irias frage: „Wird sie …“
Sterben? Das letzte Wort bringe ich nicht über die Lippen. Die Älteste lächelt mich beruhigend an. „Noch nicht, auch wenn sie sehr viel Blut verloren hat. Du weißt doch, wir sterben immer in unserer menschlichen Gestalt.“
„Aber La’Raina …“, versuche ich einzuwenden, doch Irias unterbricht mich mit einer Handbewegung. Ihre Lippen aufeinander gepresst, antwortet sie: „La’Raina war keine von uns mehr.“
Mehr sagt sie dazu nicht, aber ich verstehe. Nachdem die Älteste die Versorgung der Verletzten abgeschlossen hat, sitzen wir eine Weile schweigend am Bett, bevor Irias die Stille durchbricht: „Was genau ist geschehen?“
Ich schlucke, dann beginne ich zu erzählen: „Als ich dazukam, waren sie schon am kämpfen. La’Raina fehlte ein Auge, das muss Blanca gewesen sein.“
Nachdenklich nickt Irias. „Sie wird gedacht haben, sie greift einen Menschen an. In ihrem begrenzten Verstand gibt es nur Beute und Artgenossen, und Menschen fallen unter Beute. Gestaltwandler kennt ein Räuber wie La’Raina nicht. Wahrscheinlich hat Blanca sie mit der Verwandlung überrascht und es deshalb geschafft, sie zu verletzen.“
Ich nicke, das ergibt Sinn. Dann erzähle ich ihr langsam und stockend den Rest der Geschichte.
Eine Weile schweigen wir wieder, doch dann platzt es aus mir heraus: „Warum kann sie sich verwandeln?“
„Weil sie La’Rainas Tochter ist.“
„La’Rainas …“ Es verschlägt mir die Sprache. Dieses wunderschöne, elegante, bezaubernde Wesen soll die Tochter der Verfluchten sein? Das kann und will ich nicht glauben. „Gibt es an anderen Orten etwa noch mehr Wesen, die so sind wie wir? Wer ist der Vater?"
"Ich bezweifle, dass es irgendwo außerhalb dieses Dorfes andere Gestaltwandler gibt. Ich nehme an, der Vater wird ein Mensch gewesen sein."
Irias Antwort macht mich wütend. Allein schon die Vorstellung ... selbst La'Raina hätte sich doch niemals ... "Unmöglich! La’Raina hätte sich niemals mit einem Menschen eingelassen!“, zische ich. Ich kann Irias Lächeln nicht deuten, als sie antwortet: „La’Raina ist immer und überall ihren Instinkten gefolgt, oder glaubst du, sie hätte sonst Menschen ermordet? Warum also nicht auch dabei?“
Ja, warum nicht? Weil ich nicht will, dass Blanca die Tochter einer Mörderin ist, darum! Und die Tochter eines Menschen ... Es fällt mir schwer zu begreifen, dass diese Möglichkeit überhaupt existiert. „Bist du dir sicher, Irias?“
Irias nickt nur. „Ich lasse dich eine Weile mit ihr alleine. Pass gut auf sie auf. Ich muss den Rat der Ältesten einberufen. Wenn ihr Zustand sich verschlechtert, holst du mich sofort, verstanden?“
„Verstanden.“
Zufrieden mit meiner Antwort verlässt sie die Hütte und ich wende mich wieder Blanca zu. Es ist noch immer eine große schneeweiße Raubkatze, die dort auf dem schmalen Bett liegt. Auch in dieser Gestalt finde ich sie wunderschön, nicht einmal ihre zahlreichen Wunden können sie entstellen. Versonnen streiche ich mit meiner Hand durch ihr weiches Fell. Es fühlt sich nicht anders an als das meine oder das eines jeden anderen in diesem Dorf. Ihre Andersartigkeit macht sie für mich noch viel faszinierender. Spielt es wirklich eine Rolle, wer ihre Eltern waren? Ist sie dadurch weniger wertvoll als ich? Ich lächele, als ich mir selbst die Antwort auf diese Fragen gebe. Es ist mir egal, wo sie herkommt, wichtig ist doch nur, wer sie jetzt ist. Obwohl ich mich bei der Vorstellung, mich mit einem Menschen zu paaren, immer noch schüttele, aber mich zwingt ja niemand, oder?
Ich wache davon auf, dass unter meiner Hand etwas zuckt. Verwirrt setze ich mich auf. Wo bin ich? Ach ja, in Irias Hütte. Mein Blick wandert zu der jungen Frau, die auf dem Bett liegt. Sie hat sich bewegt, erkenne ich, aber ihre Augen sind noch immer geschlossen. Ihre Haut ist so blass, dass sie fast schon durchscheinend aussieht. Am ganzen Körper hat sie Bisswunden, Kratzwunden und Prellungen. Erst jetzt realisiere ich, dass Blanca ihre menschliche Gestalt angenommen hat. Hastig decke ich sie zu, bevor meine Augen in Versuchung geraten, ihren Körper näher zu erkunden. „Danke.“
Das Flüstern ist so leise, dass ich erst glaube, es mir eingebildet zu haben. Ein Blick in ihr Gesicht belehrt mich jedoch eines Besseren, denn ihre wunderschönen Augen blicken mich dankbar an. Dann fragt sie leise: „Was ist geschehen?“
Ich lächele freundlich und greife vorsichtig nach ihrer Hand. „Woran erinnerst du dich noch?“
„Ich bin durch den Wald gegangen. Ich war deprimiert, ich bin immerhin schon seit drei Wintern auf der Suche nach dem Dorf ohne Namen. Ich habe ein Geräusch gehört, hinter mir, ganz leise. Ich habe Gefahr gespürt. Dann habe ich mich … habe ich mich …“
Hier stoppt sie, blickt mich mit großen Augen angstvoll an. Beruhigend drücke ich ihre Hand. „Du hast dich verwandelt. Keine Sorge, dein Geheimnis ist hier bei uns sicher.“
Blanca sieht so aus, als wisse sie nicht, was sie sagen sollte. Eine Weile blickt sie mich schweigend an, während ich beobachte, wie sich so etwas wie Hoffnung in ihre Augen schleicht. Dann nickt sie entschlossen und erzählt weiter: „Ja. Ich habe mich verwandelt. Ich habe mich genau in dem Moment verwandelt und umgedreht, in dem die schwarze Raubkatze mich angegriffen hat. Ich konnte sie überraschen, habe sie voll am Kopf getroffen. Sie hat ein Auge dabei verloren. Dann haben wir gekämpft und dann … dann kam noch jemand. Ich hatte ein Gefühl, als wolle mich jemand beruhigen, mir Mut machen, und dann war da plötzlich noch eine schwarze Raubkatze, die sich in der Kehle der anderen verbissen hat. Danach weiß ich nichts mehr.“
Fragend blicken ihre Augen zu mir auf. So schöne blaue Augen. Ich sehe die Ungeduld darin, sie will wissen, was passiert ist. „Die andere Katze, das … das war ich“, stottere ich verlegen.
Ihre Augen werden groß. „Ich dachte immer, ich wäre die einzige … die einzige …“
„Gestaltwandlerin?“, vollende ich ihre Frage. „Nein, hier in diesem Dorf gibt es niemanden, der das nicht kann. Ich würde sagen, du hast das Dorf gefunden, aus dem du stammst.“
„Aber warum hast du dann gesagt, dass ich hier nicht richtig sei?“ Schon wieder klingt ein leichter Vorwurf aus Blancas Stimme heraus. Ich kann es ihr nicht einmal verübeln. „Ich dachte, du seiest eine Menschenfrau. Aus diesem Dorf stammen keine Menschen.“
Sie nickt. „Ich verstehe. Und wer hat ich angegriffen?“
„Du hattest einen Zusammenstoß mit La’Raina, der Verfluchten.“
Ich höre, wie Blanca zischend die Luft einzieht. Sie sieht schockiert aus. Ich versuche, sie zu beruhigen: „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Sie ist tot. Endlich.“
Jetzt verliert Blanca endgültig die Fassung. Sie beginnt, am ganzen Körper zu zittern und ihr Atem beschleunigt sich. Es sieht fast so aus, als sei sie noch bleicher geworden, obwohl ich mich frage, ob das überhaupt möglich ist. Sie ist wahrlich in keiner guten Verfassung. Ihre Augen sind erfüllt von großer Trauer, während sie mich ansieht. Ich beobachte, wie sie versucht, ihre Fassung wiederzugewinnen, und nach einer Weile gelingt ihr das schließlich auch. Eine Zeitlang sitze ich einfach nur schweigend an ihrem Bett, während sie Löcher in die Luft starrt. „Sie war meine Mutter.“
Der Satz schreckt mich aus meinen Gedanken. Ich bin zum Glück nicht sehr überrascht, ich habe ja zumindest versucht, mich damit anzufreunden, auch wenn ein kleiner Teil von mir noch immer gehofft hat, das Irias sich irrt. „Ich weiß“, antworte ich vorsichtig.
„Sie war kein guter Mensch?“
Blanca flüstert nur, als traue sie sich kaum, diese Frage zu stellen. Ich entschließe mich dazu, sie ehrlich zu beantworten. „La’Rainas wirklicher Name war Tara. La’Raina heißt in unserer Sprache Die Ausgestoßene. Sie wurde aus unserem Dorf verbannt, weil sie einen Menschen getötet hatte. La’Raina war mehr Raubtier als Mensch. Als sie ihren eigenen Vater tötete, haben die Ältesten sie mit einem Ritual verflucht. Sie nahmen ihr ihre Menschlichkeit, den letzten Rest, der noch übrig war. Seitdem streifte sie als Raubkatze durch die Wälder um unser Dorf, bis es uns heute gelang, sie zu töten. Allerdings bin ich der Meinung, dass deine Mutter, der Mensch in ihr, schon bei diesem Ritual damals gestorben ist.“
Während meiner ganzen Erzählung beobachte ich Blanca. Ich habe Angst, dass sie wieder die Fassung verliert, doch sie hört nur aufmerksam zu. Sie wirkt nachdenklich, und nach einer Weile wispert sie traurig: „Ich hatte immer gehofft, dass meine Mutter mich eines Tages in die Arme schließen würde. Sie hat mich direkt nach meiner Geburt in ein Heim gebracht, und als ich fünfzehn Winter alt war, hat mir die Heimleiterin erzählt, dass meine Mutter eine Botschaft für mich hinterlassen hatte. Die lautete, dass ich nach dem Dorf ohne Namen hoch im Norden am Berg Kishian suchen solle, wenn ich meine Wurzeln finden wolle. Ich war drei Winter lang auf der Suche. Ich hatte so gehofft …“ Sie zögert. „Hoffnungen eines kleinen Kindes!“
Der letzte Satz klingt verbittert. Ich versuche, sie zu trösten. „Du hast vielleicht deine Mutter nicht gefunden, aber eine Familie, wenn du sie denn annimmst. Deine Urgroßmutter lebt noch hier, weißt du?“
Ich bin wie verzaubert von dem strahlenden Lächeln, das sich in Blancas Gesicht ausbreitet. „Meine Urgroßmutter? Ich wollte immer eine Familie haben. Erzähl mir doch, wie lebt ihr hier?“
Und ich beginne, ihr von uns zu erzählen, wobei ich im Gegenzug von ihr Informationen über die Welt der Menschen erhalte, die meine Neugier jedoch immer mehr wecken, als sie zu befriedigen.
~ ◊ ~
Es ist drei Tage her, dass La’Raina getötet wurde. Wir stehen draußen auf unserem Dorfplatz, wo sich alle Bewohner versammelt haben. Die Ältesten haben uns zusammengerufen, nachdem sie sich drei Tage lang beraten haben. Ich habe es noch nie erlebt, dass sie so lange gebraucht haben, um eine Entscheidung zu fällen. Ich stütze Blanca, die unbedingt bei der Verkündung dabei sein wollte. Es geht ihr wieder ein wenig besser, auch wenn sie immer noch recht schwach auf den Beinen ist. Die meisten Dorfbewohner starren sie hin und wieder verstohlen an, einige tun es ganz offensichtlich. Sie fällt auf hier in unserem Dorf. Wir haben alle pechschwarze Haare, die Männer sind groß gewachsen und die Frauen zierlich und schlank. Blanca jedoch ist groß für eine Frau, fast so groß wie ich. Ihre fast weißen Haare fallen am meisten auf, ich bezweifle, dass jemals einer von uns solche Haare gesehen hat. Als die Ältesten schließlich die Hütte am Rand des Dorfplatzes verlassen, in der sie sich beraten haben, wenden alle Anwesenden ihnen ihren Blick zu. Das allgemeine Raunen verstummt, als Irias, die Älteste unter den Ältesten, ihre Hände hebt. Dann beginnt sie mit klarer Stimme, die so gar nicht ihrem Alter zu entsprechen scheint: „Liebe Freunde. Ich möchte euch erzählen, wer wir sind und woher wir kommen.“
Bei ihren Worten geht ein Raunen durch die Menge. Auch ich wundere mich. Ich hatte einfach angenommen, dass wir schon immer hier gewesen waren. Die Menge ignorierend fährt Irias fort: „Es war einmal vor vielen unzählbaren Generationen in unserem Dorf, da geschah ein Mord an einem Kind. Und wie es so kam, wurde der Müllerssohn verdächtigt, es getötet zu haben. Also versammelte sich das ganze Dorf und machte Jagd auf den Müllerssohn. Nach drei Tagen fanden sie ihn und hängten ihn auf am Baum in der Mitte des Dorfplatzes. Nun war es aber so, dass der Müllerssohn unschuldig des Mordes an dem Kind war. Also wurde seine Mutter, die Müllersfrau, verrückt und verfluchte das ganze Dorf: Ihr habt meinen Sohn gejagt wie ein Tier, und ermordet wie ein Tier, dabei seid ihr selbst nichts besseres als Tiere, auf der Jagd ohne zu fragen warum. Ich verfluche euch alle, von diesem Tage an euer Dasein als Tiere zu fristen, bis die Tochter der Mörderin kommt, euch zu erlösen. Nachdem sie diese Worte ausgesprochen hatte, sank sie tot zu Boden, soviel Kraft hatte sie diese mächtige Magie gekostet.
Und so kam es, dass in diesem einen Dorf fortan Gestaltwandler lebten, halb Mensch und halb Tier. Anfangs warteten sie noch sehnsüchtig auf die Tochter der Mörderin, die die alte Müllersfrau erwähnt hatte, doch die Jahre verstrichen und nichts geschah. Es versuchten auch viele mächtige Männer und Frauen, Rituale zu erfinden, um den Fluch wieder umzukehren. Doch die Kunst, die Magie mehrerer Personen zu bündeln, um so ihre Kraft zu vergrößern, wurde erst viel später entdeckt, und kein Einzelner war mächtig genug, den Fluch aufzuheben. Also vergaßen die Bewohner des Dorfes mit der Zeit, warum sie so waren wie sie waren. Nur die Ältesten noch überlieferten den Wortlaut des Fluches. Heute sind wir stolz darauf, anders zu sein als die Menschen, stolz auf unsere tierische Seite als mächtige, schwarze Raubkatzen. Doch nun ist die Tochter der Mörderin gekommen, und wir müssen eine Entscheidung fällen.“
Bei ihren letzten Worten hebt sie ihren Arm und zeigt auf Blanca, die Irias wiederum vollkommen ungläubig anstarrt. Unterdessen entbrennen überall um mich herum heftige Diskussionen, und es dauert eine Weile, bis die Leute merken, dass sie sich im Prinzip doch alle einig sind. Mashan tritt vor und schreit laut: „Wir wollen keine Erlösung. Was für eine Erlösung überhaupt? Wir fühlen uns alle sehr wohl!“
Allgemein zustimmendes Gemurmel erklingt und einige blicken Blanca vorwurfsvoll an, wohl weil sie die gewohnte Ordnung durcheinander gebracht hat. Ich glaube nicht, dass irgendjemand von uns erfahren wollte, dass wir nichts Besonderes sind, sondern ganz im Gegenteil nur ein Dorf voller Verfluchter.
Mit einer Handbewegung verschafft sich Irias wieder Gehör. „Der Meinung waren auch wir Ältesten. Wir haben nur sehr lange darüber diskutiert, ob ihr ein Recht habt, von dem Fluch zu erfahren oder nicht. Genau dieses Thema hat der Rat schon einmal beraten, und zwar zu dem Zeitpunkt, als die Umkehrung des Fluches entdeckt wurde, aber damals bestand der Rat noch aus anderen Ältesten und die entschieden sich dagegen, das Dorf zu informieren. Auch jetzt ist uns die Entscheidung nicht leicht gefallen. Ich persönlich bin jedoch der Meinung, dass Blanca uns eine zweifache Erlösung gebracht hat. Zum einen hat sie uns – wenn auch nur indirekt – von La’Raina erlöst.“
Hier erschallt zustimmendes Gemurmel. „Und zum anderen bringt Blanca die Erlösung nicht mit sich, sie ist die Erlösung. Seht sie euch an! Sie ist die Tochter einer Gestaltwandlerin und eines Menschen. Und sie ist wie wir. Wisst ihr, was das bedeutet?“
Es herrscht Totenstille und alle blicken Irias gespannt an. „Es bedeutet, dass wir uns nicht mehr in diesem Dorf verkriechen müssen. Es bedeutet, dass wir uns mit Menschen paaren können und nicht nur untereinander, wie wir immer geglaubt haben. Es bedeutet, dass diejenigen von uns, die das Dorf verlassen wollen – wie Miria, meine Tochter …“, hier klingt ihre Stimme traurig, „... es auch tun können, ohne dass wir ihnen mit einem Ritual ihre tierische Seite nehmen müssen. Es bedeutet, dass diejenigen von uns, die hier nicht zufrieden sind, eine Wahl haben, die sie vorher nicht hatten. Es bedeutet, dass wir woanders leben können, ohne den Wunsch nach einer Familie aufgeben zu müssen. Für mich ist das eine Erlösung.“
Einen kurzen Moment herrscht atemlose Stille, dann jedoch erklingt lauter Beifall. Vereinzelt hört man auch Sprüche wie: „Mich mit einem Menschen paaren? Nie und nimmer!“, aber im Allgemeinen ist die Stimmung positiv. Ich persönlich freue mich, denn in den letzten Tagen hat sich in mir vermehrt der Gedanke gefestigt, einmal eine lange Wanderung machen zu können und das Land außerhalb der Grenzen unseres Dorfes zu sehen. Fröhlich sehe ich Blanca an, die zurücklächelt und sanft meine Hand drückt.