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Serie La’Raina – Aufbruch

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25.05.2004
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La’Raina – Aufbruch

Ich werde mich nicht umdrehen. Nein, niemals werde ich mich umdrehen. Nie zurückblicken, nur nach vorne. Ziellos streife ich durch die herbstlichen Wälder. Eigentlich will ich nur weg, weg von meiner Heimat, von dem Dorf, das ich noch nie zuvor in meinem Leben verlassen habe. Warum nur hat Vater mich einsperren müssen? Er weiß doch ganz genau, dass ich geschlossene Räume verabscheue, selbst dann schon, wenn die Tür nicht von außen zugesperrt ist. Indem er mich in unsere Hütte eingesperrt hat, hat er mich eigenhändig dazu gezwungen, mich durch das schmale Fenster zu zwängen und aus dem Dorf zu fliehen. Aus einem Dorf, in dem ich sowieso nicht mehr willkommen bin.

Ich bin jetzt La’Raina – die Ausgestoßene – und ich hasse sie dafür. Ich hasse sie alle. Ich werde nie wieder zurückkehren können, das weiß ich. Zum einen wegen meiner Tat, die die anderen ein Verbrechen schimpfen, und zum anderen, weil ich vor der Strafe geflohen bin, die die anderen als gerecht bezeichnen. Ich weiß, dass mein Vater mir folgt, dass er versuchen wird, mich zurückzubringen, wenn nötig auch mit Gewalt. Aus diesem Grund laufe ich ziemlich gerade in eine Richtung, immer nach Südosten, mich nach der Sonne richtend, eine hohe Geschwindigkeit beibehaltend. Ich muss schneller sein als er, ich muss ihm entkommen.

Ein Rascheln im Laub lässt mich in meinem Schritt innehalten, die rechte Vorderpfote noch erhoben. Langsam drehe ich meinen Kopf in die Richtung des Geräusches und richte meine Ohren auf. Ich schnuppere mit meiner feinen Nase, und was ich rieche, gefällt mir. Hase! Ich unterdrücke ein triumphierendes Fauchen. Vorsichtig setze ich meine Vorderpfote ins Laub, darauf bedacht, keinerlei Geräusche zu verursachen. Die Büsche verlieren langsam ihre Blätter, daher ist es nicht mehr so einfach für mich, Beute zu schlagen, wie noch im Sommer. Und das, obwohl es überall um mich herum im Laub nur so wuselt, hauptsächlich kleine Tiere, die unvorsichtig durch die Gegend hasten, auf der Suche nach Wintervorräten.

In diesem Moment sind sie mir jedoch herzlich egal, ich konzentriere mich vollkommen auf den Hasen, an den ich mich heranschleiche. Mittlerweile habe ich eine geduckte Haltung angenommen und setze langsam, bedächtig und lautlos – ja, vor allem lautlos – eine Pfote vor die andere. Kein Geräusch machen jetzt! Kein Ast darf knacken, kein Blatt darf rascheln! Der Wind steht, gut, der Hase riecht mich nicht, noch nicht. Ich bin gerade in Sprungweite, da erhebt sich das Tier auf seine Hinterbeine und stellt seine Lauscher in meine Richtung auf. Seine kleine Nase zuckt nervös, als er meinen Geruch wahrnimmt, zum Glück jedoch hat er mich viel zu spät bemerkt. In einem Sekundenbruchteil ducke ich mich noch mehr, spanne meine Muskeln an und springe, lande mit einem Riesensatz direkt neben dem Hasen, wobei ich noch im Bewegungslauf meine Pranke gegen seine Hinterbeine schlage. Von der Wucht des Hiebes getroffen überschlägt sich der Hase und rappelt sich in kurzer Entfernung im Laub wieder auf. Panisch versucht er, vor mir zu fliehen, doch er kommt nur langsam hüpfend voran. Ich vermute, ich habe ihm einige Sehnen durchtrennt. Jedenfalls blutet die Wunde sehr stark. Der süßliche Geruch steigt mir in die Nase. Meine Jagdinstinkte sind jetzt voll geweckt. Belustigt beobachte ich meine Beute, ihr verzweifeltes Bemühen, sich von mir zu entfernen. Von der großen schwarzen Raubkatze, die ihn angegriffen hat.

Hätte ich meine menschliche Gestalt, ich würde jetzt lächeln. Der Geruch des Blutes, das aus der Wunde an seinem Bein tropft, steigt mir in die Nase und mein Magen knurrt. Ich lasse das Tier noch ein paar Schritte hoppeln, dann springe ich erneut in seine Richtung, überhole es und schlage wieder zu, wobei ich ihm einen nicht sehr tiefen Riss im Brustkorb beibringe und ihn zum zweiten Mal von den Beinen hole. Das Spiel macht mir Spaß, meine Krallen zucken erregt, rhythmisch. Der Hase rappelt sich wieder auf, langsamer als beim letzten Mal. Er bleibt einen Moment stehen und versucht dann wieder, vor mir zu fliehen. Doch ich bin eine exzellente Jägerin, war es immer schon. Die Beste unseres Dorfes. Ein wenig spiele ich noch mit dem Hasen, bevor der Hunger schließlich Überhand nimmt. Mit einem gezielten Biss zerreiße ich ihm die Kehle und tue mich genüsslich an dem zarten Fleisch gütig.

~ ◊ ~

Hungrig stapfe ich durch die weiße Landschaft. Es ist Winter und der Schnee liegt schon sehr hoch zwischen den Tannen, deren grüne Nadeln vollkommen von den weißen Flocken bedeckt sind. Ich habe schon seit Tagen nichts mehr gegessen, bin erschöpft und müde. Es fällt mir schwer zu jagen, denn mein pechschwarzes Fell sieht man meist sogar nachts von weitem in der winterweißen Landschaft. Das letzte Mal, dass ich Beute geschlagen habe – ein winziges, unterernährtes Schneehuhn nur – war in einer stark bewölkten, mond- und sternenlosen Nacht. So aber … unter normalen Umständen habe ich keine Chance, etwas zu töten, das wird mir mehr und mehr bewusst.

Ich habe mir nie Gedanken gemacht, warum die Beute Winterfell bekommt, wir aber nicht. Wahrscheinlich, weil wir es einfach nie nötig hatten. Ich war noch nie zuvor im Winter allein jagen gewesen, denn in meinem Dorf haben wir zu dieser Jahreszeit meist mit mehreren Leute Treibjagden veranstalten, die dann auch erfolgreich gewesen sind. Mein Dorf! Ärgerlich schüttele ich den Kopf. Es ist nicht mehr mein Dorf, schließlich haben sie mich verstoßen. Obwohl ich es nicht will, sehne ich mich in diesem Moment sehr danach, nach der Gesellschaft Gleichwertiger, nach den anderen, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie jemals vermissen würde. Aber vor allem meine Altersgenossen fehlen mir, und das, obwohl ich doch gerade unter ihnen immer als Außenseiterin gegolten habe. Schon durch meine Geburt – bei der irgendetwas vorgefallen war, das meine Mutter veranlasst hatte, mich zu verlassen – war ich anders, gebrandmarkt, und sie haben es mich immer spüren lassen.

Doch trotz meinen gemischten Gefühlen diesen Leuten gegenüber – einerseits vermisse ich sie, aber andererseits hasse ich sie – weiß ich, dass ich in einem ganz besonderen Dorf aufgewachsen bin, voller besonderer Wesen. Und sie haben mir einfach nicht die Zeit gegeben, richtig erwachsen zu werden, bevor sie mich gezwungen haben, zu fliehen. Ich war gerade erst fünfzehn Winter alt gewesen, dies ist nun mein sechzehnter. Nicht einmal alt genug zum Heiraten. Und jetzt stapfe ich mutterseelenallein durch diese verfluchte weiße Landschaft, die alle Geräusche verschluckt, auf der Flucht vor meinem eigenen Vater, der mich wieder einsperren wird, sollte er mich jemals finden. Dank meines dichten Felles friere ich wenigstens nicht, aber ich habe Hunger. Mir wird immer stärker bewusst, dass ich bald zu schwach sein werde, meine Beute zu erlegen, falls mir durch puren Zufall doch noch etwas Essbares über den Weg laufen sollte. Missmutig ignoriere ich meinen knurrenden Magen.

Plötzlich halte ich in meinem Trott inne und richte mich aufmerksam auf. Da war doch etwas … Ich will es gerade als Hirngespinst abtun, da höre ich es wieder, unverkennbar diesmal. Menschlicher Gesang, ganz leise, klingt durch den winterlichen Wald. Hastig renne ich los, in die Richtung des Geräusches, bis ich schließlich zwischen zwei Tannen hervor auf eine Lichtung stolpere, durch die ein mit Eis bedeckter Bach fließt. Ich blicke in die blauen Augen einer jungen Frau, die mich erschrocken ansieht.

Ich rieche ihre Angst, die Fremde strömt sie förmlich aus. Es muss mein Anblick sein, der ihr Angst macht: Eine stattliche schwarze Raubkatze mit gelben Augen, auf die Menschenfrau fixiert. Der Geruch, die Angst, weckt meinen Jagdinstinkt. Ich habe ja solchen Hunger! Aber andererseits – genau wegen so etwas bin ich ja überhaupt in dieser Situation. Sollte ich wirklich noch einmal … Allerdings, was hatte ich eigentlich schon für eine Wahl? Ich konnte mich ja wohl schlecht vor den Augen der Menschenfrau verwandeln und sie um etwas Essbares bitten. Die Ältesten in unserem Dorf haben uns schließlich immer wieder eingebläut, uns niemals vor den Augen eines Menschen zu verwandeln. Unsere Rasse niemals vor der Welt zu entblößen. Ich verfluche mich selbst. Warum bin ich nur so unüberlegt drauflos gerannt?

Im selben Moment, in dem die Menschenfrau das komische Gerät mit den zwei Eimern, dass sie auf ihren Schultern trägt, fallen lässt und laut kreischt, springe ich entschlossen auf sie zu, pralle mit voller Wucht mit meinen Vorderpfoten gegen ihre Schultern und reiße sie zu Boden. Ich blicke in ihre angstvoll geweiteten Augen. Mitleid habe ich keins. Schließlich heißt es hier: Sie oder ich. Dann reiße ich ihr die Kehle auf. Ein schneller Tod – das ist alles, was ich ihr schulde.

Zum ersten Mal seit Wochen fühle ich mich richtig satt. Nachdenklich blicke ich auf den Schnee, der an einigen Stellen blutrot gefärbt ist. Ich verspüre keine Reue über das Leben, das ich gerade ausgelöscht habe. Ich war hungrig, und dies ist eine Welt, in der nur die Stärksten überleben. Und zu diesen gehöre ich nun einmal, und die Menschen … eben nicht. Ich überlege gerade, ob ich noch ein wenig von meiner Mahlzeit aufheben und mitnehmen soll, als mich ein Geräusch aufschreckt. Instinktiv ducke ich mich und richte meine Ohren aufmerksam auf.

Meine scharfen Augen erblicken mehrere Männer, die hastig in meine Richtung stapfen. Satzfetzen erreichen meine Ohren. „… keine Sorgen … schon nichts passiert …“
„… schon viel zu lange fort … nur eben Wasser holen …“
Die Männer scheinen auf der Suche nach der Menschenfrau zu sein, die ich erlegt habe. Neugierig bleibe ich, wo ich bin. Ich habe noch nicht viele Menschen in meinem Leben zu Gesicht bekommen, und ich fragte mich, wie sie sich wohl verhalten werden, wenn sie entdecken, dass diese Frau nie mehr zu ihnen zurückkehren wird. Können Menschen trauern? Ich weiß es nicht. Ich warte, bis die Männer herangekommen sind. Ich liege in einer Mulde, sodass sie mich nur sehen können, wenn sie direkt in meine Richtung blicken. Jetzt sind sie beinahe da.
„Gütiger Himmel, was ist …“
Entsetzen klingt aus der Stimme des Mannes heraus, als er den zerfetzten Leichnam der Frau erblickt. Dann beugt er sich nach vorne und übergibt sich geräuschvoll. Interessiert neige ich meinen Kopf zur Seite. Ich bin ein wenig amüsiert; diese Menschen verhalten sich wirklich merkwürdig. Anscheinend hat meine Bewegung die Aufmerksamkeit eines der Männer auf mich gezogen, denn er blickt mich unverwandt an. Ohne den Blick von mir zu wenden, zischt er den anderen zu: „Ruhig, es ist noch hier. Seht!“
Er deutet mit einem Finger in meine Richtung.

Da das Versteckspiel jetzt anscheinend beendet ist, erhebe ich mich. Im Weglaufen sehe ich keinen Sinn, denn ich bin viel zu weit weg, als dass die Menschen mir gefährlich werden könnten. Davon mal ganz abgesehen, dass ich sowieso viel stärker bin. Zufrieden schnurre ich und warte ab, was sie als nächstes tun. Ein teils ängstliches, teils zorniges Raunen durchfährt die Männer. Alle zücken komische Geräte, die sie auf ihrem Rücken tragen. So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen. Neugierig mache ich einen Schritt auf die Menschen zu, während ich fasziniert beobachte, wie sie mit den Dingern hantieren.

Und dann plötzlich kommt etwas mit rasend schneller Geschwindigkeit auf mich zu. Bevor ich reagieren kann, bohrt es sich in meine linke Schulter, mit einer solchen Wucht, dass es mich von den Beinen reißt. Das jedoch scheint für mich nur von Vorteil zu sein, denn die Luft über mir ist auf einmal voll von diesen zischenden, rasend schnellen … Dingern. Fliegende kleine Äste. Ganz gerade sind sie. So etwas habe ich noch nie gesehen. Wieso sind die nur so schnell? Als meine Schulter schmerzhaft zu pochen beginnt, begreife ich, dass sie nicht nur schnell, sondern auch gefährlich sind.

Ich fauche wütend und rappele mich auf. Zornig mache ich einen Sprung auf die Männer zu, um sie zu verletzen, wie sie es mit mir getan haben. Nein, um sie zu töten, um mich zu rächen. Abrupt jedoch bremse ich meinen Schwung, denn sie hantieren erneut mit diesen Dingern. Auf einmal erkenne ich, dass diese Menschen gar nicht so hilflos sind, wie sie aussehen. Hastig trete ich den Rückzug an, ignoriere meine schmerzende Schulter, und renne. Laufe, so schnell mich meine Beine tragen. Renne, wie ich noch nie zuvor in meinem Leben gerannt bin. Ein paar von diesen Ast-Dingern zischen knapp an mir vorbei, aber keines trifft. Dann bin ich hinter den Tannen verschwunden.

Kopflos renne ich durch den Schnee, mein linkes Vorderbein entlastend, so gut es geht. Ich weiß, dass sie mir folgen, doch zum Glück bin ich schneller. Wenn ich nur weit genug renne, nur genügend Abstand zwischen uns bringe, dann werden sie doch bestimmt aufgeben. Bestimmt. Mehr und mehr jedoch wird mein Laufen zu einem Hinken, schließlich bleibe ich stehen. Dieses Ast-Ding steckt noch immer in meiner Schulter, ärgerlich nehme ich es ins Maul und ziehe daran. Der Schmerz ist fast unerträglich, doch ich ignoriere ihn, will das Ding entfernen, vielleicht tut es dann nicht mehr so weh. Mit einem lauten Knacken bricht der Ast, erschrocken halte ich inne. Lausche. Hat mich jemand gehört? Wie weit sind sie weg? Nichts rührt sich im winterlichen Wald. Alles ruhig. Zumindest sind keine tölpelhaft durch die Gegend stapfenden Menschen in der Nähe. Die würde ich hören.

Wimmernd lecke ich mit meiner rauen Zunge über meine verletzte Schulter, doch es hilft nichts. Frustriert fauche ich, werde wütend über meine Hilflosigkeit. Was bilden die sich überhaupt ein? Einfach mit diesen Dingern auf mich zu werfen! Als würde das noch irgend etwas ändern! Ich blecke meine Zähne, überlege, auf sie zu warten. Sie zu töten, jeden einzelnen, weil sie mich verletzt haben. Ich blicke mich um, suche nach einem guten Versteck, will den Überraschungsvorteil auf meiner Seite wissen – und erstarre. Blicke irritiert auf die Tropfen im Schnee. Rot auf weiß. Blut. Mein Blut.

Es ist mehr als deutlich zu erkennen, woher ich gekommen bin. Und dann wird mir klar, dass sie mir weiter folgen werden. Weiter, solange ihnen die Tropfen den Weg weisen. Ärgerlich blicke ich nach oben, sehe ein Stück blauen Himmel zwischen den Bäumen durchschimmern. Warum schneit es nicht? Es hat in den letzten Tagen doch ständig geschneit, warum ist ausgerechnet heute der Himmel klar und wolkenlos? Ich weiß, früher oder später werde ich eine Pause brauchen, werde ich mich ausruhen müssen. Ich bin jetzt schon erschöpft, kämpfe gegen die bleierne Müdigkeit an. Ich habe viel Blut verloren. Ich muss die Blutung stoppen, doch wie?

Schweren Herzens verwandele ich mich zurück in meine menschliche Gestalt. Fast sofort fange ich an zu frieren. Ich habe keine Kleidung, und es ist bitterlich kalt. Entschlossen presse ich meine Hände fest auf die Wunde. Das Ast-Ding lasse ich drin. Vielleicht wird die Blutung nur stärker, wenn ich es rausziehe. Mühsam stolpere ich vorwärts, weiter auf der Flucht. Schon nach kurzer Zeit spüre ich meine Füße kaum noch, der Schnee ist so furchtbar kalt. Ich drehe mich um, betrachte die Spuren auf dem Weg, den ich genommen habe. Keine Tropfen mehr. Dafür menschliche Fußabdrücke. Ich fluche. Ich habe keine Kraft mehr, meine Spuren zu verwischen. Aber ich werde nicht aufgeben. Entschieden laufe ich weiter, langsamer jetzt, meine Hände weiterhin auf die Wunde gepresst.

Ich weiß nicht, wie lange ich mich so durch den Wald geschleppt habe, als ich das erste Mal hinfalle. Ich verfluche meine menschliche Gestalt, rappele mich wieder auf. Soll ich mich zurückverwandeln? Dann würde ich jedenfalls nicht mehr so frieren. Aber die Katze könnte auf dumme Ideen kommen. Könnte sich rächen wollen. Nein, ich glaube nicht, dass sie in dieser Situation die bessere Wahl ist. Müde stapfe ich weiter. Der Schnee reicht mir teilweise bis zu den Waden, und ich komme nur langsam voran.

Nach einer Weile falle ich erneut, bleibe liegen. Ich presse meine Hände auf den kalten Boden und versuche mich aufzurichten. Ich habe keine Kraft mehr, sinke erschöpft zurück. Es ist so kalt. Ich zittere am ganzen Leib. Meine Füße spüre ich schon lange nicht mehr. Ich denke an zu Hause, an meinen Vater, der mich immer geliebt hat. Ich hasse ihn. Es ist seine Schuld, dass ich hier jetzt so liege. Dass ich sterben werde, auf diese unwürdige Art und Weise. Ich verfluche meinen Vater, auf dass ihn eines Tages sein gerechtes Schicksal ereilen wird. Ich hasse ihn … hasse ihn … hoffentlich bin ich tot, bevor die Jäger mich finden. Ich hasse die Menschen … hasse sie …

~ ◊ ~

Etwas winselt in meinem Ohr, leckt über meine Wange. Kläfft laut. Ich bin so schwach, zucke nicht mal zusammen. Die Jäger? Egal … friere nicht mehr … geh weg! Lass mich in Ruhe, lass mich hier liegen! Schlafen will ich, nur noch ein wenig ausruhen, dann laufe ich weiter. Wohin? Egal. Es kläfft erneut und ich will es schlagen … stört meine Ruhe … zu müde.
„Rastan! Rastan, was ist denn los? Wo bist du? Komm hierher!“
Männliche Stimme, nicht weit weg. Das Vieh schlabbert mein Ohr ab, winselt, jault. Kläfft. Geh weg! Lass mich in Ruhe!
„Rastan, was hast du denn da?“
Schritte, ganz nah. Schnee knirscht. Geh weg!
„Ganz ruhig, alter Junge, ist ja gut. Zeig mir mal, was du da hast.“
Winseln, warme Zunge an meiner Wange. Geh weg!
„Oh mein Gott, was …? Hallo, junge Frau!“
Knirschender Schnee an meinem Ohr. Warme Hand an meinem Hals. Geh weg!
„Guter Junge, Rastan! Sie lebt noch. Jetzt aber schnell. Hören Sie mich, junge Frau? Es wird alles wieder gut. Ich bringe Sie ins Dorf.“
Dorf? Die wollen mich nicht. Die haben mich weggeschickt. Verbannt. Will nicht ins Dorf. Geh weg!
„So … das haben wir gleich.“
Wärme umhüllt mich. Weiches Fell streift meine Wange. Etwas drückt auf die Wunde. Drückt auf den Pfeil. Tut weh. Nicht wehtun. Geh weg!
„Es tut mir leid, das wird jetzt gleich ein wenig wehtun.“
Nein! Nicht wehtun. Starke Arme heben mich hoch. Schmerz durchzuckt meine Schulter. Ich stöhne. Es wird schwarz.

~ ◊ ~

Ich lächle Shurin freundlich an. Er nimmt mich zum Abschied in den Arm, vorsichtig, sanft. Besorgt fragt er: „Bist du sicher, dass du schon aufbrechen willst, La’Raina? Deine Schulter ist noch nicht verheilt und der Schnee liegt sehr hoch. Die Räuber im Wald sind hungrig.“
Bei diesen Worten muss ich lächeln. Das sind sie wohl.
„Danke, Shurin, aber es geht mir wieder besser. Ich will euch nicht noch länger zur Last fallen. Außerdem kann ich nicht zu lange an einem Ort bleiben, das weißt du.“
Seine Augen blicken traurig. „Warum sucht dieser Mann dich?“
Ich seufze. „Ich will nicht darüber reden, das sagte ich doch bereits.“

Mein Vater. Er war hier, als ich krank war, hat mich gesucht. Shurin hat ihn glücklicherweise wieder fortgeschickt. Er sagte, ich habe im Fieber davon geredet, dass mich niemand finden darf, dass niemand wissen darf, wo ich bin. Das und der Pfeil in meiner Schulter hat das ganze Dorf dazu bewogen, meine Anwesenheit geheim zu halten. Und als die Jäger kamen und nach einer großen schwarzen Raubkatze suchten, die verwundet war, da mussten sie nicht einmal lügen, denn eine Katze hatten sie nie gesehen.

Doch im Gegensatz zu den Jägern wird mein Vater nicht aufgeben, das weiß ich. Und darum muss ich weiter, kann nicht mehr hier bleiben. Die Menschen in diesem Dorf waren sehr freundlich zu mir, haben mich gesund gepflegt, mich ohne Argwohn in ihre Mitte aufgenommen. Und das, obwohl ich nicht erklären konnte, wie es kam, dass ich nackt und halb erfroren mit einem Pfeil in der Schulter im Wald lag. Ich habe gesagt, dass ich mich nicht erinnere. Sie haben mir geglaubt. Aber ich erinnere mich. Und eines Tages werde ich mich an diesen Menschen rächen, die es gewagt haben, auf mich zu schießen.
Ich drücke Shurin einen kurzen Kuss auf die Wange, zum Dank, dann mache ich mich auf den Weg. Zu Fuß, mit einem Rucksack. Mit Nahrung drin. Im Winter ist das wohl doch die beste Art zu reisen, selbst für mich. Ein ironisches Lächeln umspielt meine Lippen.

Ich habe viel gelernt in der kurzen Zeit, in der ich mich in diesem Dorf erholt habe. Die Menschen sind eine faszinierende Rasse. Sie sind erstaunlich kreativ darin, ihre Schwächen zu umgehen, sich Hilfsmittel zu basteln. Pfeil und Bogen. Ich weiß jetzt, was das ist. Ich weiß auch, wie weit man damit schießen kann. Ich weiß, wo ich stehen bleiben muss, um nicht getroffen zu werden. Die Tage hier im Dorf haben mich neugierig gemacht. Ich frage mich, was ich noch alles von den Menschen lernen kann. Über die Menschen lernen kann. Ich freue mich auf die Herausforderung. In den großen Städten gibt es viele Menschen, hat Shurin gesagt. Die Nächste liegt im Süden etwa dreißig Tagesmärsche zu Fuß. Zum ersten Mal seit langem habe ich ein Ziel.

 

Hi Red,

:D :D ;D La'Raina, wie schön.

Tja, wie schon die Wölfin sagte, ein bissel wenig eigentliche handlung. Ein Zwischenstück sozusagen. Aber ich weiß, wie schwer das ist, zu jeder Folge einer Serie etwas Neues, Aufregendes zu finden.

Als Überleitung, und zum besseren Verständnis der Charaktere finde ich es sehr gelungen. Der Erstkontakt mit Menschen ist schön beschrieben. tatsächlich werden die Gestaltwandler ja keine Waffen brauchen, kein Wunder, dass sie keine kennen.

Ab und zu stört mich ein bisschen der Gebrauch der Partizipien, aber das ist sicher Geschmackssache... Hier z.B.

mich nach der Sonne richtend

mein linkes Vorderbein entlastend

naja, Geschmackssache, sicherlich.

Aber du solltest auf jeden Fall ein paar mehr Absätze einbauen ;)

Ansonsten: schöne Überleitung zwischen den Teilen, stilistisch sauber, wenn auch ein bisschen... handlungsarm. Aber gerne gelesen. Ich freu mich schon auf mehr.


Liebe Grüße,

Ronja

 

Ui toll, schon direkt zwei Kommentare, und das so schnell! :D Nachdem ich so lange gebraucht hab, um endlich mal fertig zu werden ... :Pfeif:

@gbwolf:

Über Ich-Erzähler kann ma sich beschweren, wie man möchte - ohne Logikprobleme sind sie einfach nicht möglich.
Interessant dass du das anmerkst, ich hatte diesen La'Raina-Teil nämlich erst in der dritten Person angefangen, weil mir die Szene, in der sie im Wald zusammenbricht und schließlich gefunden wird, aus der Sicht eines Ich-Erzählers doch etwas schwerfiel. Dann hab ich mir jedoch gedacht, dass ich alle anderen Teile auch aus Sicht eines Ich-Erzählers geschrieben habe und dass das irgendwie ein Stilbruch gewesen wäre ... Und dann hab ich alles umgeschrieben. Zum Glück ist es nicht allzu unverständlich für jemanden, der die anderen Teile nicht gelesen hat, das habe ich nämlich befürchtet ...

wie oft hast du die Geschichte überarbeitet?
Ehrlich? Hmm, erst hatte ich die Sicht eines allwissenden Erzählers, das hab ich so 2 Mal Korrekturgelesen, dann hab ichs umgeschrieben, und da man bei sowas ja dazu tendiert, Kleinigkeite zu übersehen, hab ich das glaube ich so 4-5 Mal durchgelesen ... Naja, wenn ich bei anderen so viel Wert auf Rechtschreibung lege, sollte ich wohl bei mir selbst anfangen ... ;)

Fell sieht man meist sogar nachts von weitem im weißen Schnee.
Mist, verdammter. Weißt du wie oft ich an anderen Stellen das weiß vor Schnee gelöscht hab? Grrrr ... :bonk:

Also wie gehabt: Stilistisch bin ich begeistert! Irgendwie fehlt mir noch der Spannungspunkt.
1. Danke! *freu* 2. Mist. Und ich hab gedacht wenn sie aufgrund ihrer naiven Einstellung den Menschen gegenüber fast stirbt ist Spannung genug drin ... Naja, ich weiß jedenfalls nicht, wie ich es umschreiben soll. Der Zweck dieser Geschichte war es, wie Felsi schon ganz richtig erkannt hat, den Charakter La'Raina zu vertiefen und Ansatzpunkte dafür zu geben, wieso sie später das tut, was sie tut (ohne jetzt zuviel aus den anderen Teilen verraten zu wollen ;) )

@Felsi
Freut mich, dass du es gerne gelesen hast ;) Ich wollte nach den Exkursen zu anderen Charakteren doch wieder zu La'Raina zurück, und da bestand halt die Schwierigkeit: Wo anfangen? Einfach am Anfang anzufangen schien mir da passend :cool:

Im Moment fehlen mir so ein bisschen die Ideen, wie es weiter gehen soll, aber das kommt hoffentlich irgendwann wieder ...

Gruß,

Red Unicorn

 

Hallo RedUnicorn,
ich muss dich auch mal loben, die Geschichte hat mir gut gefallen, im Gegensatz zu den anderen Teilen hast du dich sehr verbessert. Im Wesentlichen haben meine Vorschreiber schon alles gesagt. Ich finde, du solltest die Naivität deiner Prot entweder glaubhafter machen (sie sich deutlicher pubertaer verhalten lassen, von wegen "die bösen anderen sind an allem schuld") oder sie reduzieren, weil es stellenweise der Raubtiernatur widerspricht (siehe den Satz mit der Frau einschließlich Verbesserungsvorschlag).
Du schreibst diesen Satz "die Katze würde Rache wollen" und wirfst dabei mehr oder weniger mein Weltbild über den Haufen. Ich dachte immer, die beiden Persönlichkeiten wären identisch, aber das scheint nicht so zu sein. Da seh ich einen Widerspruch, da solltest du nochmal ran.

gruß
vita
:bounce:

 

Hi RedUnicorn,
Ich bin zwar noch nicht allzulange angemeldet, aber ich habe schon vorher verschiedene Geschichten auf kg.de gelesen. Dabei sind mir vor allem deine La'Raina- Geschichten positiv aufgefallen.
Also was ich dir eigentlich sagen wollte, ist dass du soeben einen neuen Fan gewonnen hast.
Was jetzt speziell diese Geschichte angeht, freut es mich dass du mit La'Raina selbst und nicht mit ihrer Tochter weitergemacht hast.
Was jetzt etwaige Rechtschreib-, oder Sinnfehler angeht, denke ich, das meine Vorkritiker schon alles gesagt haben. Aber vielleicht kann ich mir ja mal die Geschichte noch etwas genauer ansehen.

FG, der Seefahrer

 

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