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L & R ll
Rico kletterte die letzten Streben des metallenen Turmes hinauf. Von oben hatte er einen herrlichen Ausblick über die Brachlandschaft der umliegenden Industrieruinen. Er drückte seinen Körper eng an den kalten Stahl, spürte die angespannten Muskeln unter seiner Trainigsjacke. Die Fingerkuppen waren schon taub vor Kälte. Mit der Linken fingerte er einen Fotoapparat aus seiner Hose und machte eine Aufnahme von dem Schriftzug, den er mit knalligen Farben auf den mausgrauen Betonboden gepinselt hatte: Lotte, das ist für dich. Zeit und Gefühl.
Der Wind zerrte an seinen Anziehsachen und ließ die Hosenbeine flattern. Hier oben würde er schnell auskühlen, lange konnte Rico nicht bleiben.
Die Dächer der langen Lagerhallen waren teilweise eingestürzt, das meiste Metall war durchgerostet, hölzerne Bohlen und Dielen faulten. Wurzeln wölbten den Asphalt oder durchbrachen ihn sogar, Unkräuter schossen aus den Rissen im Beton, eine nackte Baumkrone lugte aus einer Halle heraus.
Rico blickte rundherum und saugte die Eindrücke urbaner Landschaft in sich auf, die an die schon so oft versprochene Apokalypse erinnerte. Das Alte Europa mit seiner zweitausendjährigen Tradition im Weltuntergang. Einige wenige mochten das Armageddon tatsächlich fürchten – Rico interessierte gerade eine andere Frage: Er würde gern die Gesellschaft aufschneiden wie eine Torte und aus dem Querschnitt ablesen, wie viele sich wünschten, alles hätte ein Ende. Die verrückte Reise einer überkomplexen Weltkugel, die volles Karacho über das Möbiusband der Gegenwart rollte und mit jeder Umdrehung mehr Fahrt aufnahm. Eine Dynamik, von der die Augen und der gesunde Menschenverstand sagten, sie wäre unmöglich.
Vernünftiges Verhalten in dieser Umwelt – Rico hielt es für möglich, aber nicht für nötig. Er sah sich noch einmal um, bevor er vorsichtig herunterkletterte und die Malutensilien versteckte, bevor er im Nieselregen nach Hause ging.
Ferrum. Lebensschichten. 29.11.2011
Am nächsten Tag ging er zum Media Markt und druckte das Foto aus, steckte das Bild in einen Umschlag und warf es in Lottes Briefkasten. Sie steckte mitten in einer umfangreichen Recherche und wünschte keine Störung, hatte sie gestern geschrieben. Er war sicher, sie würde sich bald wieder melden. Rico wusste, woran er bei Lotte war: Er hatte sie verstanden. Sie waren noch nicht lange zusammen, aber Lotte brauchte jemanden und er war da. Einfache Sache. Sie hatte schnell Nähe zugelassen und Vertrauen aufgebaut. In ihr war ein Vakuum gewesen und er hatte nichts weiter tun müssen, als den Platz auszufüllen. Ohne besondere Initiative seinerseits - es hatte gereicht, keine besonderen Fehler zu machen. Bald hatte er einen Vorschlag gemacht, den er jeder Frau nach einer Weile machte. Von dem abhing, ob er blieb oder ging; je nachdem, ob sie darauf einging oder ihn ablehnte. Lotte hatte sich darauf eingelassen. Sie war sogar begeistert gewesen von der Aussicht, Spiele zu spielen. Verschiedene Spiele, manchmal wilde Spiele, aber mit klaren Regeln.
Rico kaufte sich am Hauptbahnhof einen Macchiato (Cap & Mac 3 Euro), trank ihn im Stehen, scannte die vorbeieilende Masse und musterte ein paar Menschen genauer, die wegen ihres Gangs oder sonst einer Besonderheit sein Interesse weckten.
Er skizzierte den Lebenslauf eines großen, breitschultrigen Mannes mit mächtigem Schnauzbart, der in einer seiner Schaufelhände eine abgewetzte Ledertasche trug. Und spann den Faden weiter, erschuf eine kleine Familie um den Vierschrot, und brachte ihn dann in eine Situation, in der der Mann mit der Ledertasche zwischen seinem Leben und dem seiner Liebsten wählen musste. Heute entschied sich Ricos Figur ausnahmsweise dafür, das Leben der anderen zu retten, dafür ließ Rico die Figur einen besonders langsamen und ekligen Tod sterben. Dann bestellte er noch einen Mac. Samstag, irgendein Advent.
Nacheinander riefen Vater und Mutter an, wie stets am Samstag zwischen achtzehn und zwanzig Uhr. Rico versuchte die Gespräche knapp zu halten, ohne unhöflich zu sein, und zog danach los. Ein wirklich freies Leben könnte man erst führen, wenn alle nahen Verwandten tot wären. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Lebensführung immer auch von Rücksicht auf das eigene Fleisch und Blut geprägt. In Ricos Augen wogen die finanziellen und sozialen Vorteile, einer Familie anzugehören, diese Fesseln nicht auf. Aber daran ließ sich kaum etwas ändern, manche Situationen mussten ausgehalten werden. Er packte seine Nikon ein und ging in den leichten Schneefall hinaus, um eins der szenigen Quartiere auf Bilder abzusuchen. Da war die Hoffnung, auch in diesem Winter clevere streetart nachweisen zu können.
Zwischen dem vierten und fünften Foto bekam er eine SMS. Anscheinend war Lotte nähebedürftig, sie erwähnte es mit keinem Wort, aber ihr Ton verriet sie. Wenig später kündigte der doppelte Piepton eine weitere Nachricht an. Die war schlichter gehalten: Du musst kommen, jetzt.
Ruhig Blut, schrieb er zurück und stapfte durch den Matsch hinter einem Gebüsch, um ein Anti-Atom-Graffiti abzuknipsen. Von denen könnte er fast eine 2011er-Serie präsentieren. Dieses war das vierzehnte Motiv. Ein Typ in Nadelstreifen und Gasmaske, der auf einem Fass mit dem Warnzeichen saß und Scheine zählte. Knips.
Auf dem Rückweg breiteten sich Kribbeln und Wärme knapp über seinem Geschlecht aus. 'Scheiß auf ruhiges Blut', dachte er, während die Flocken auf ihn fielen. Morgen ist ein Gerücht, Lust will gelebt werden.
Totalste Geilheit.
Ihr Zimmer mit den klassischen Schwarzweiß-Kontrasten. Das Doppelbett, der schlankbeinige Schreibtisch, die aufgeräumten Flächen: transparente Freundlichkeit. Ein wohlgeordnetes Leben, in dem alles seinen Platz hatte, in dem es nichts zu verbergen gab.
Lotte hatte mehrere Socken übereinander angezogen, das gehörte zu ihrem Wohlfühlritual. Er begrüßte sie mit einem schnellen Kuss und setzte sich auf den Rand des Bettes, ließ sich heiße Schokolade machen und hörte mit einem Ohr: von einer niedlichen Schildkröte, die Lotte im TV gesehen hatte und die sie gerne als Haustier hätte. Geplapper, wie süß.
So kannte er Lotte bisher nicht, sie senkte ein weiteres Schild. Rico spürte die Kälte des Fußbodens in seine Füße kriechen und das Getränk Kehle und Magen wärmen. Er überlegte, wie sich ihre Haut unter diesem unförmigen Jogginganzug anfühlen würde und machte einen Witz über Schildkröten, als er den Kakaobecher abstellte. Sie lachte nicht, was ihm gefiel. Wahrscheinlich war es ohnehin ein schlechter Witz gewesen, er wusste nicht, wie gute Witze gehen.
Zwischen den ersten beiden Küssen bedankte sie sich für das Foto. Erst wusste er nicht, wovon sie sprach, und später, als es ihm einfiel, sagte er nichts dazu. Sie spielte mit seiner Zunge, schob seine Hand beiseite. Warum zierte sie sich jetzt, nachdem er sofort hatte kommen sollen?
Er tat als ginge er auf das Spiel ein, nutzte aber die erstbeste Gelegenheit, ihre Rechte mit den Handschellen, die an der eisernen Querstange befestigt waren, ans Bett zu fesseln. Er zog in wenigen Sekunden die Jogginghose über Arsch und Knöchel herunter. "Du willst spielen", sagte er, "okay."
Lotte strampelte und schlug mit ihrer freien Hand nach ihm, ihr Gesicht war gerötet, die Augen blitzten wütend, als er ihr ins Gesicht blickte. "Du brauchst nur 'Stopp' zu sagen", erinnerte er sie, "dann höre ich sofort auf. Das weißt du." Sie reagierte nicht, wehrte sich aber weiterhin, wehrte sich erfolgreich dagegen, dass er ihren Slip auszog - sie erwischte ihn mit dem Fuß an der Schulter und trat Rico vom Bett. Wegen der Heftigkeit des Tritts bekam er den Eindruck, ihre Wut wäre echt, aber möglicherweise war sie auch nur gut gespielt. Jedenfalls war sie in dieser Position, mit einem gefesselten Arm, kein Gegner für ihn.
Rico schob ihren Pullover hoch und stülpte ihn über ihr Gesicht, hockte sich über ihren Oberkörper und fesselte den freien Arm mit dem Ärmel an die Stange. Er zerriss den Slip, damit sie ihn nicht wieder vom Bett treten könnte, drückte ihre Beine auseinander und spürte die erwartete Feuchtigkeit an seinen Fingerspitzen. Sie wäre nicht erregt, wenn sie es nicht wollte, dachte er, und öffnete schnell seine Hose. Beim Eindringen verkrampfte sie, und er hätte sie fast erneut erinnert, dass sie nur 'Stopp' zu sagen bräuchte.
Nach dem Akt starrte sie schweigend an die Zimmerdecke. Ihre Rechte hing weiter in der Handschelle, obwohl die längst geöffnet war. Rico fragte, warum sie schwieg. Lotte antwortete nicht.
Er stellte sich in Shorts ans Fenster, öffnete es und rauchte eine. Diese eine Zigarette hatte sie ihm in ihrem Zimmer, das ein Nichtraucherzimmer war, gestattet. Und mehr als diese Zigarette hatte er in ihrem Zimmer nie zu rauchen begehrt; er hatte Regeln und Grenzen stets respektiert. Sie hätte nur etwas sagen müssen, dachte er und zitterte, als der über seine Haut streichende Winterwind den dünnen Schweißfilm trocknete.
Ferrum Ground Control.
Sie sprach immer noch nicht. Starrte an die Decke, lag seltsam verdreht da, wie eine Puppe. Es sah unbequem aus. "Du bist jetzt vielleicht lieber allein, oder? Ich gehe noch mal los." Rico zog sich schnell an, gab ihr noch einen Kuss auf den Mund, den sie nicht erwiderte, und schloss leise die Tür hinter sich.
'Wir leben in einer großartigen Zeit', dachte Rico, als er zufrieden unter Lichterketten und an hell und warm erleuchteten Weihnachtsmarktbuden vorbei lustwandelte; an einem Glühweinstand blieb er stehen und trank einen Becher mit Schuss. Er kam mit einem Mann ins Gespräch, der allein zu sein schien, ein Handelsreisender für hochpreisige Haushaltswaren, der Rico zwei weitere Becher bezahlte, damit der sich seine Geschichten anhörte.
Mit den ersten schwankenden Schritten vom Stand weg fiel Rico auf, dass er ganz schön einen im Turm hatte. Es begann zu schneien. Nach kurzer Zeit war sein wollener schwarzer Kurzmantel weiß. Rico zog die Handschuhe aus, um die Flocken auf der Handinnenseite spüren zu können.