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Lütte und Lars
Als Lütte und Lars neben der Leiche standen, mussten sie lachen.
»Übel.«
»Ja.«
»Hast du's echt geglaubt?«
»Nee. Du?«
»Nee. Aber du schon.«
Lütte hatte recht. Von weitem hatte der Baumstamm wirklich wie eine Leiche ausgesehen. Lars war froh, dass es keine war.
»Hast du schon mal eine gesehen? 'ne echte?«
»Nee. Du?«
»Schon oft. Hab auch schon mal jemandem umgebracht.«
Lars wusste nicht, ob er das glauben sollte. Er traute dem Lütte einiges zu, aber wie ein Mörder sah er eigentlich nicht aus.
»Wen denn?«
»Sag ich nicht. Sonst komm ich wieder ins Gefängnis.«
»Ehrenwort, ich sag's keinem weiter!«
»Hm.«
»Und ich verrat dir was. Was Geheimes.«
»Du lügst doch.«
»Glaub's halt nicht.«
»Mach ich auch nicht.« Lütte holte mit seinem Stock aus und Lars zuckte zusammen.
»Angsthase. Komm.«
Die beiden Jungen waren schon seit dem Frühstück draußen unterwegs. Sie hatten Sommerferien. Es war heiß. Beide trugen ihre Kappen mit dem Schirm nach hinten und ihre Gesichter waren rotgebrannt.
»Ich hab Durst, Lütte.«
»Ich auch. Komm, ich weiß was.«
Lütte wusste, dass es im Wald einen kleinen Bach gab. Lars' Eltern hatten ihm verboten, in den Wald zu gehen, aber wenn er das dem Lütte verriet, würde der ihn auslachen und ihn wieder Angsthase nennen. Also ging er mit.
»Sag, wenn du Wildschweine siehst.«
»Gibt's hier echt Wildschweine?«
Lütte blieb stehen und steckte den Stock senkrecht in die Erde.
»Hast du Schiss?«
»Nee.«
Er schaute Lars noch für einen Moment böse funkelnd an. Dann zog er den Stock wieder aus dem Boden und ging weiter.
»Komm.«
Es dauerte nicht lange, bis sie den Bach erreicht hatten. Trotzdem, dachte Lars, würde er den Weg alleine bestimmt nicht zurückfinden. Alles hier sah so anders aus als im Garten oder auf dem Pausenhof, der Boden war voller Wurzeln. Manche von ihnen erinnerten Lars an dicke, vollgefressene Regenwürmer, die auf dem Weg zum Bach verdurstet waren. Bei den dünneren musste er an die Hexen aus den Märchen denken, die seine Mama ihm früher vorgelesen hatte. Er stellte sich vor, dass es auch hier im Wald mal Hexen gegeben hatte, dass sie hier begraben wurden und mit letzter Kraft versucht hatten, sich wieder aus der Erde zu buddeln, um noch mehr Kinder fressen zu können. Und jetzt ragten nur noch ihre alten, vertrockneten Hexenfinger wie kleine Äste aus der Erde.
Lütte saß schon am Bach und formte seine Hände zu einer Schüssel, aus der er das Wasser schlürfte. Lars machte es ihm nach.
»Lecker.« Das Wasser aus dem Bach war kalt, zwickte hinter der Stirn.
»Ich hab hier schon oft getrunken.«
»Lütte?«
»Was?«
»Stimmt das mit den Wildschweinen?«
»Im Wald gibt’s immer Wildschweine. Weiß doch jeder.«
»Mein Papa hat gesagt, dass Wildschweine gefährlich sind.«
»Nur wenn sie Kinder haben. Dann töten sie jeden, den sie sehen. Um die Kinder zu beschützen.«
Über ihnen klopfte ein Specht. Das Klopfen hörte sich unecht an. Und ein bisschen unheimlich, fand Lars. Nicht wie etwas, das ein Vogel machen kann.
Beim Gedanken an die Wildschweine wurde Lars ein wenig mulmig zumute. Er selbst kannte nur die ganz normalen Schweine, und die waren rosa und dick und hatten Ringelschwänze, waren also alles andere als furchteinflößend. Aber vielleicht war das ja wie bei den Hunden und den Wölfen. Die sahen auch fast gleich aus, aber das Schlimmste, was ein Hund ihm mal angetan hatte, war ihn umzurennen und abzuschlecken, weil er mit ihm spielen wollte.
Wölfe waren anders. Sie streiften durch die Wälder und hatten messerscharfe Zähne, mit denen sie ihren Feinden die Arme und die Beine abbeißen konnten. Und nachts heulten sie den Mond an. Eigentlich waren Wölfe also ziemlich cool, fand Lars, aber begegnen wollte er ihnen trotzdem lieber nicht.
»Hast du schon mal 'nen Wolf gesehen, Lütte?«
»Nur ein Mal. Komm, ich zeig dir was.«
Lütte stapfte voraus, in seinen Sandalen mit den Flammen drauf, und Lars hinterher.
»Da.«
Lütte streckte den Arm aus, aber Lars sah nur einen großen Haufen Erde.
»Siehst du's?«
»Den Berg?«
»Weißt du, was das ist?«
»Nein.«
»Guck halt mal.«
Ja, jetzt konnte er sie sehen. Ein ganz schönes Gewusel. Hunderte, kleine schwarze Punkte, die sich alle in unterschiedliche Richtungen bewegten. Und trotzdem schien jeder von ihnen ganz genau zu wissen, was er zu tun hatte.
»In Amerika gibt's Feuerameisen. Die sind cooler. Die töten Menschen.«
Feuerameisen. Das hat er wieder erfunden, dachte Lars.
»Pieks mal rein.«
Lütte hielt ihm den Stock hin.
»Mach du doch«, sagte Lars, und stieß den Stock von sich weg.
Da fasste Lütte sich an den Kopf, dass ihm die Kappe runterfiel, streckte die Zunge raus, verdrehte die Augen und ließ sich nach hinten auf den Rücken fallen.
»Ruf schnell den Krankenwagen!«
»Du machst nur so.«
»Los, sonst sterb ich!«
»Hör auf.«
»Hallo? Krankenhaus? Hallo, ja, ich glaube, ich habe mich angesteckt! Ja, mit der Weicheikrankheit! Ja, genau, beim Lars! Bitte kommen Sie schnell!«
»Haha. Sehr lustig.«
»Danke.«
Und schon war Lütte wieder auf den Beinen.
»Komm, ich hab 'ne Idee.«
Lütte hatte immer Ideen. Manchmal waren sie blöd. Eigentlich fast immer. Aber manchmal auch cool. Einmal, abends, im Winter, als Lars schon im Bett lag, da hat der Lütte ganz viele Eimer mit Wasser gefüllt und sie auf der Straße ausgekippt. Und am nächsten Tag sind dann alle Kinder auf der Straße herumgerutscht, sogar der Georg, der Sohn von der Lehrerin, von der Frau Siebsand. Und sie hat dem Lütte sogar auf die Mütze geklopft mit ihren dicken Handschuhen und gesagt, dass er das gut gemacht hat. Obwohl der Lütte ihr in der Schule immer Streiche spielte.
Einmal musste er deswegen sogar zum Direktor. Aber der Lütte hatte keine Angst vorm Direktor, weil er keine Eltern hatte, die deswegen mit ihm schimpfen konnten. Der Lütte wohnte nämlich bei seinem Opa.
Lüttes Opa war taub. Wenn man den Lütte besuchen kam, dann sagte man nicht Hallo, dann winkte man einfach nur und lächelte und der Opa lächelte zurück. Aber der Lütte und sein Opa konnten sich trotzdem unterhalten. Mit den Händen. Wenn der Opa zum Beispiel gekocht hatte, dann kam er ins Zimmer und machte die Hände zum Mund, als würde er Trauben essen, und dann wusste man, dass es Essen gab. Und wenn der Opa müde war, dann machte er die Hände zusammen, als würde er beten, und dann legte er die Hände unter den Kopf, wie ein Kissen, und dann wusste man, dass er jetzt schlafen ging.
Lars war gerne beim Lütte, weil da niemand schimpfte, wenn man laut war. Und weil der Opa immer so nett lächelte und weil er einen Schnurrbart hatte.
»Kuckuck!«
»Was ist denn jetzt mit der Idee?«
»Psst, warte halt … Kuckuck!«
Lars wartete schon eine ganze Weile. Er wollte nicht im Wald bleiben, bis die Sonne unterging. Außerdem hatte er Hunger. Er dachte an sein Lieblingsessen, Butterbrot mit Salami, und sein Magen knurrte wie ein wütender Bär.
»Kuckuck! … Da! Schnell, komm mit!«
Blitzschnell rannten sie los, Lars wusste noch nicht mal, warum, und er hatte Schwierigkeiten, mit Lütte Schritt zu halten.
»Warte, Lütte!«
»Mach schneller!«
»Ich kann nicht mehr! Bitte warte!«
Aber Lütte rannte weiter. Und Lars wurde klar, dass er ganz alleine im Wald war.
Alles war still. Sogar der Specht hatte aufgehört zu klopfen. Lars hatte Angst und wollte nach Hause zu seinen Eltern. Oder lieber doch nicht, denn bestimmt würden sie schimpfen, wenn sie herausfanden, dass er in den Wald gegangen war, obwohl sie es ihm verboten hatten. Obwohl Papa ihn gewarnt hatte vor den Wildschweinen.
Jetzt musste er wieder an sie denken. Und auch an das, was Lütte gesagt hatte – dass sie jeden töteten, den sie sahen.
Da hörte Lars ein leises Schnaufen. Irgendwo, weit weg, rief Lütte seinen Namen. Das Schnaufen wurde lauter. Lars konnte einen Schatten zwischen den Büschen erkennen. Die Blätter und die Zweige raschelten. Ein paar von ihnen fielen auf den Waldboden hinab. Ganz sanft und langsam.
Und da war es. Stand vor ihm.
Ein echtes Wildschwein.
Es war riesig und borstig und hatte Hauer, die fast so lang waren wie die Zähne von einem Elefanten, dachte Lars. Bloß keine Bewegung jetzt. Noch hatte es ihn nicht entdeckt. Es war viel zu beschäftigt damit, seine Nase in den Boden zu drücken und zu schnüffeln, es scharrte mit den Füßen in der Erde, und dabei grunzte es, als würde es sich auf Schweinesprache mit jemandem unterhalten. Und da, wie aus dem Nichts, tauchten hinter ihm die Schweinekinder auf. Eins, zwei, drei, vier. Lars hielt den Atem an. Jetzt war es aus mit ihm, dachte er.
Aber auch die Schweinekinder beachteten ihn nicht. Sie waren ganz anders als das große Schwein. Ihr Fell war nicht so borstig und hatte Streifen. Sie hüpften, wenn sie liefen, und die Öhrchen wackelten dabei in alle Richtungen. Eigentlich fand Lars, dass sie eher süß als gefährlich aussahen.
Das kleinste von ihnen steckte den Rüssel so tief in die Erde hinein, dass Lars kurz dachte, es wollte sich eingraben, wie ein Maulwurf. Bei der Vorstellung konnte er einen kleinen Lacher nicht unterdrücken.
Da reckte das kleine Ferkel den Kopf in die Höhe und – blickte Lars direkt in die Augen. Lars bekam es wieder mit der Angst zu tun: Was, wenn es ihn verraten würde? Er musste an all die Sachen denken, die er dann nicht mehr machen könnte: Kein Fangenspielen mit seinen Eltern im Garten, kein Eisrutschen im Winter, keine Wettrennen mehr mit Lütte. Und auch den Opa von Lütte und seinen lustigen Schnurrbart würde er nie wieder sehen.
Doch da kam ihm eine Idee. Lars konnte zwar nicht quieken und grunzen wie ein Schwein, und das Ferkel verstand auch keine Menschensprache, aber das tat Lüttes Opa ja auch nicht. Und so, ganz vorsichtig, um das Schweinekind nicht zu erschrecken, hielt Lars sich den Finger vor die Lippen, wie die Frau Siebsand, wenn sie Psst machte, und dann legte er die Hände aufeinander, wie Lüttes Oppa, wenn er ins Bett ging. Nur legte er die Hände nicht unter den Kopf, sondern hielt sie vor sich hin, und dabei sagte er, ganz oft, und so leise, dass niemand es hören konnte: Bitte, bitte, bitte!
Das Ferkel blickte ihn immer noch an. Lars wurde übel. Am liebsten hätte er losgeweint.
Aber dann, ganz plötzlich, als er schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, drehte das Ferkel sich weg. Es hatte ihn verstanden. Es steckte noch ein letztes Mal den Rüssel in den Boden, dann quiekte es leise zum Abschied und verschwand mit wackelnden Ohren hinter dem Rest seiner Familie im Wald.
Kurz darauf kam Lütte zurück. Die blonden Haare klebten ihm in nassen Strähnen auf der Stirn, und außerdem schnappte er nach Atem, als wäre er gerade einmal um die ganze Welt gerannt.
»Wo … Wo warst du? Du … Du hast den … Du hast den Bigfoot verpasst!«
»Was?«
»Den … Den Bigfoot! Ich hab ihn angelockt! In Amerika …«
»Bring mich nach Hause, Lütte. Ich will nicht mehr spielen.«
»Baby … Gut … Komm.«
Die Sonne war schon halb hinter der Straße verschwunden, als Lütte und Lars daheim ankamen. Beide waren sie dreckig bis zu den Ohren, und wenn sie gleich in die Dusche stiegen, würde das Wasser, das den Abfluss herunterfloss, aussehen wie ein schwarzer Strudel.
»Lars? War cool heute, oder?«
»Ja.«
»Bis morgen?«
»Ja. Ach, und Lütte? Wusstest du, dass Wildschweinkinder Streifen haben?«
Lütte sah Lars forschend an.
»Echt?«
»Echt.«
»Woher weißt du das?«
»Geheim. Vielleicht erzähl ich's dir morgen.«
Und vielleicht, ganz vielleicht, würde Lars seinen Eltern heute Abend auch noch ein wenig erzählen. Aber nicht zu viel. Nur von der Leiche, von den Feuerameisen und von dem Bigfoot.
Und ganz bestimmt würde noch viel mehr dazukommen, denn die Sommerferien hatten ja gerade erst begonnen.