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Lüthis letzte Reise

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19.02.2014
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Lüthis letzte Reise

Wie Damoklesschwerter hingen nackte Neonröhren, zu pyramidalen Lustern gebündelt, in der Bahnhofshalle von Alba Julia und leuchteten deren Hässlichkeit so schonungslos aus wie einen OP-Saal, falls sie nicht gerade flackerten oder für mehrere Sekunden ganz ausfielen. Dann stand das Häuflein Menschen, das auf einen Reisezug aus Bukarest wartete, im abendlichen Dämmerlicht, und die eben noch auf Helligkeit geeichten Augen konnten die Silhouetten kaum auseinanderhalten. Man schrieb Freitag, den zweiundzwanzigsten Dezember, und jeder hatte seine Gründe, den unfreundlichen Ort schnellstmöglich hinter sich zu lassen.
Eine knarzende Tonbandstimme schnitt in die Stille, und wie auf Kommando brachen die Leute in Unmutsäußerungen aus. Lüthi freute sich, einige Flüche wiederzuerkennen. Wenig später ratterten die Lamellen der Verspätungsanzeige auf „15 Minute“, doch Lüthi zeigte keine Reaktion. Er hatte es nicht eilig, alles lief wie am Schnürchen. Stattdessen tat er, als wäre er in der Lage, auch andere Hinweisschilder zu dechiffrieren. Als ihn dieser Selbstbetrug zu langweilen begann, nahm er sich die Mitreisenden vor. Die meisten waren Rumänen mit altersschwachen Reisentaschen und Lederkoffern; reiseerprobtes Gepäck, das vereinzelt von Gurten oder Kälberstricken zusammengehalten wurde. Etwas abseits standen die Mitglieder einer Zigeunerfamilie mit verbeulten Geigenkästen und trösteten einander, indem sie sich mit Taschentüchern in die Augen fuhren. Lüthi fragte sich, ob in einem der Instrumentenetuis eine SIG550 Platz fände und verwarf den Gedanken im gleichen Atemzug. Dann gab es zwei ältere Leute mit eleganter, fast westlicher Kleidung, höchstwahrscheinlich ein ungarisches Ehepaar. Der Rest bestand aus jungen Frauen ohne großes Reisegepäck. Sie nutzten, das wusste er von früheren Fahrten, den Schnellzug als innerstädtisches Beförderungsmittel und würden schon nach wenigen Minuten in einem der Vorortbahnhöfe aussteigen. Die Jüngsten waren die lautesten. An ihren Schultern baumelten die bunten Plastiktaschen einer Billigmodekette, gefüllt mit – so mutmaßte Lüthi – bescheidenen Selbstbelohnungskäufen, die zu ihren dürftigen Gehältern passten. Wieder hatten sie eine Woche in den Fabriken und Spitälern durchgehalten, und jetzt schäumte ihnen das zurückgehaltene Leben aus den Mündern. Wahrscheinlich brannten sie darauf, die neuen Schuhe und Blusen später in verrauchten Vorstadtdiskotheken auszuführen und schwatzten von nichts anderem. Ältere Mädchen standen stumm dazwischen und ließen sich keine Vorfreude anmerken, als wäre der Freitagsnachmittagseinkauf nur noch eine hohle Gewohnheit, deren tieferer Sinn sich ihnen nicht mehr erschloss.
Als die Verspätungsanzeige von fünfzehn auf zwanzig Minuten vorsprang, waren es erneut die Jüngeren, die ihre Enttäuschung am deutlichsten zum Ausdruck brachten. Wütend stapften sie mit ihren Stilettos auf die Steinplatten und zischten Schimpfwörter. Über die anderen breitete sich indes eine Decke aus Lethargie, als hätten sie sich endlich an die Wartelektionen früherer Jahrzehnte erinnert. Eine Stille, die alles erstickte, außer einen schwachlodernden Rest Feindseligkeit, der in kurzen Augenbegegnungen aufblitzte wie eine Vorsichtsmaßnahme – oder als würden sie einander eine Mitschuld an den Unerquicklichkeiten der Gegenwart zumessen.
Lüthis Plastiktasche unterschied sich nicht nennenswert von denen der Mädchen, jedenfalls nicht äußerlich. Sie war so unauffällig wie möglich. Nur dass sie ziemlich schwer war, hätte ein aufmerksamer Beobachter an seinen weißen Fingerknöcheln und den langgezogenen Plastikschlaufen, die sich tief in das Fleisch seiner Hand gruben, ablesen können, sowie die offensichtliche Entschlossenheit, sich nicht von ihr zu trennen, egal was passierte.
„Haben Sie Feuer?”
Eine kleine Frau mit gezückter Zigarette war an Lüthi herangetreten. Ihre Wangen und die Nasenspitze leuchteten rot, als hätte sie zu lange im Freien gestanden. Trotz ihrer Winterkleidung schien sie zu frieren, beständig wippte sie von einem Fuß auf den anderen. Lüthi hatte sein Sturmfeuerzeug dabei, aber um es zum Beispiel aus seiner Innentasche zu holen, hätte er den Mantel aufknöpfen und dafür die zweite Hand zur Hilfe nehmen, das heißt, die Tasche einen Moment lang abstellen müssen, was nicht in Frage kam.
„Tut mir leid!“, sagte er deshalb, und wunderte sich erst jetzt, dass die Frau ihn ganz selbstverständlich auf Deutsch angesprochen hatte, als wäre ein Schriftzug auf seine Stirn gemalt. Wie als Draufgabe und gewissermaßen in Anerkennung ihrer Sprachgemeinschaft zuckte er lächelnd mit den Schultern. So signalisierte er, dass es ihm nicht eben leicht fiel, sie zu enttäuschen. Und dann, ja dann – hätte die Frau weggehen und einen anderen Mitreisenden um Feuer fragen müssen, jedenfalls hatte Lüthi fest damit gerechnet. Doch sie blieb wippend vor ihm stehen, als hätte sie weder seine Antwort noch das freundliche Zucken der Schultern registriert, und zeigte auf einen noch glimmenden Zigarettenstummel, der vor ihr am Boden lag.
“Das ist doch Ihre? Sie haben die Kippe vorhin weggeschnippt!”
„Nein“, sagte Lüthi und zuckte noch einmal mit den Schultern, diesmal ohne Lächeln. „Das ist ein Irrtum.“
“Tatsächlich? Dabei habe ich gesehen, wie Sie sich die Marlboro angesteckt haben, als Sie aus dem Taxi stiegen. Deutsche Packung. ‚Rauchen gefährdet Ihr irgendwas.’“
Lüthi stand still und versuchte knapp an ihr vorbeizusehen, wie er es in der Offiziersschule gelernt hatte, etwa wenn ein Ausbildnern wegen eines ungeputzten Gewehrs oder einer schlampigen Schlafstelle eine Szene machte. Ihr rotes Ohr leuchtete bedrohlich am Rand seines Blickfelds.
„Bevor ich jemand um Feuer bitte, mache ich mir die Mühe, herauszufinden, ob er überhaupt Raucher ist. Sie sind Raucher.“
Die Frau sprach in einer Art Bühnendeutsch. Es war schwer festzustellen, woher sie stammte, und ob Deutsch überhaupt ihre Muttersprache war. Lüthi hätte ihr gerne vorgeschlagen, in Zukunft ein eigenes Feuerzeug mit sich zu führen und sich ihre Mühen zu sparen, aber etwas in ihm war gewarnt, denn sie sprach mit äußerster Selbstkontrolle, als müsste sie ein starkes Gefühl unterdrücken, etwa Hass oder Angst. Er starrte nun nicht mehr an ihr vorbei, sondern betrachtete sie mit geschulter Gründlichkeit. Sie wirkte nicht gefährlich in einem unmittelbaren Sinn. Vermutlich war sie unter der dicken Winterhülle schmächtig und unbewaffnet. Ihre Daunenjacke sah rumänisch aus und hatte ein kleines Loch am Ellbogen, durch das bei jeder Armbewegung winzige Daunenfedern herausgepumpt wurden, die nun lustig durch die Luft schwebten. Über den Saum ihre Hose mäanderten die Ränder eingetrockneten Straßendrecks. Doch ihre Schuhe – und erst hier verhakte sich sein Blick – waren für die Jahreszeit auffallend leicht. Sommerschuhe.
Eine Verrückte? Oder bloß eine schlecht ausgerüstete Rucksacktouristin? Nein, für solche Reiseabenteuer war sie zu alt, er schätzte sie auf Ende Dreißig, außerdem war weit und breit kein Rucksack zu sehen.
Während Lüthi sie musterte, blieb sie ruhig, immer noch schien sie damit zu rechnen, dass er jeden Moment sein Feuer herausrückte. Als Lüthi keine Anstalten machte, fuhr sie fort, mit der kalten Zigarette vor seinem Gesicht herumzufuchteln.
„Wir Raucher sollten zusammenhalten in diesen Zeiten. Haben Sie daran schon mal gedacht?“ Sie hob ihre Stimme, als müsste sie dringend ihren Radius erweitern: „Solidarität ist für Deutschland leider ein Fremdwort geworden!“
Als wäre es ihre Gewohnheit, vor Publikum gewichtige Sätze zu deklamieren, drehte sie sich in die Runde und sprach den Satz erst auf deutsch, dann auf rumänisch, dann in einer dritten Sprache, die Lüthi nicht kannte. Ihre anschwellende Anklage veranlasste das ungarische Paar und einige der anderen Reisegäste sich umzudrehen, Lüthi befand sich im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Doch rasch änderte die kleine Frau ihre Strategie, streckte dem Publikum den Mittelfinger entgegen und rief: „Nieder mit Europa!”
Lüthi fasste sie mit seiner freien Hand am Ärmel und zog sie ein paar Schritte in den Hintergrund. Dabei sprach er beruhigend auf sie ein. Eine Zigarette, ein Feuerzeug, das seien alles keine Gründe, in der Öffentlichkeit die Kontenance zu verlieren. Zivilisation bedeutete auch Rücksichtnahme, sogar er als Raucher begrüße den Nichtraucherschutz in öffentlichen Gebäuden. Außerdem sei „Solidarität“ – er verwies auf die lateinische Wortwurzel – immer schon ein Fremdwort gewesen. Am Ende erregte seine gefasste Art sie noch mehr, und es kam zu einer kleinen Entgleisung. Sie entriss sich, glitt zu Boden, fasste nach den Schößen seines Mantels und flehte: „Geben Sie mir Feuer. Jetzt!“
Auch die restlichen Passanten drehten sich nun in Richtung Lüthi und schüttelten die Köpfe. Aufgrund der allgemeinen Ereignislosigkeit nahmen sie die Unterhaltung, die von ihm ausging, dankbar an. Ein deutscher Verrückter, der sich mit einer deutschen Verrückten einen Schlagabtausch lieferte – das waren die Dinge, die den Alltag erträglicher machten. Lüthi entfuhr ein Seufzer, dann zog er die Frau zu sich hoch. Nervös umtanzten ihn die Daunenfedern. Er durfte mit seiner Tasche nicht länger im Mittelpunkt stehen.
„Es ist leer“.
Weil die Frau ihn verständnislos ansah, präzisierte er: „Das Benzin.“
Abschließend – denn was sollte es jetzt noch zu besprechen geben? – spendierte er ihr eine Neuauflage seines Lächelns und hoffte, sie damit ein für allemal los zu werden.
„Eben hat es noch funktioniert – als Sie selbst geraucht haben. Aber eine Zigarette später, wenn eine Fremde Feuer braucht, ist es leer. Was für ein Pech!“
Anstatt aufzugeben, hatte sie sich wieder zur vollen Größe aufgeplustert und ihre Hände in die Hüfte gestemmt, als müsste sie ihm den Fluchtweg versperren. Längst war Lüthi zu der Überzeugung gelangt, dass es sich um eine Verrückte handelte. In ihren flackernden Mundwinkeln, das sah er nun ganz deutlich, lauerte Verzweiflung: eine gewohnheitsmäßige panische Verzweiflung, die sich – wie bei Paranoikern üblich – tief in die Gesichtsfalten eingegraben hatte, um jederzeit abrufbar zu sein. Und Lüthi ahnte, dass diese Inbrunst sich im Handumdrehen in Schrei- oder Heulkrämpfen entladen konnte, sowie schwerwiegenderen Ausschreitungen. Schon ballte sich ihre Rechte zu einer zitternden kleinen Faust. Alles war möglich bei dieser Frau mit Sommerschuhen, die ihn nun angaffte, als hätte sie lange darauf gewartet, dass sich ihr Lebensunglück mit seinem wahren Gesicht zeigte – dem Gesicht Beat Lüthis. Sie war ein schwerwiegendes Sicherheitsrisiko. Sein Sicherheitsrisiko. Erschrocken von seiner eigenen Folgerung wich er ein paar Schritte zurück, doch sie rückte nach, hielt den Abstand konstant. Nein, sie würde nicht aufgeben, Verrückte gaben niemals auf. Erst mit dieser Einsicht brach sein Widerstand zusammen.
„Wenn Sie diese Tasche einen Moment lang sehr vorsichtig für mich halten, könnte ich versuchen, meinem Feuerzeug eine allerletzte Flamme zu entlocken. Ich kann natürlich nichts versprechen!“, hörte er seine Stimme sagen, während eine andere Instanz seines Bewusstseins mehrere rote Alarmlichter zuschaltete. Er fühlte, wie sein Blutdruck stieg. Die Frau hingegen wurde ganz ruhig und nahm ihm die Plastiktasche ab. Erwartungsvoll steckte sie sich die Zigarette wieder zwischen die Lippen.
„Gut festhalten“, flüsterte Lüthi zärtlich seiner Tasche zu und durchsuchte alle Fächer seines Mantels, bis seine Finger in einer Innentasche an das warme Metall stießen. Das Feuerzeug zündete beim ersten Drehen des Steins.
In diesem Moment, er hatte es wieder in den Mantel gleiten lassen und griff erleichtert nach seiner Tasche, tippte ihm ein Mann an die Schulter. Er trug einen Art Uniform, aber nicht im Taubenblau der Căile Ferate Române oder im Flaschengrün der staatlichen Zollbeamten, sondern eine schwarzgraue Montur mit roten Aufnähern. Eine Sicherheitsfirma, die im Auftrag der Eisenbahn das Bahnhofsgelände kontrolliert, dachte Lüthi. Vielleicht war der Mann durch das laute Gespräch auf sie aufmerksam geworden und wollte nur nach dem Rechten sehen. Er war fast einen Kopf größer als Lüthi, und auf seiner Glatze saß ein schwarzes Barett wie bei einem Schweizer Panzersoldaten.
„Hat Sie diese Frau belästigt?“, fragte er in gebrochenem Englisch.
„Keineswegs“, antwortete Lüthi wie zur Entschuldigung. „Ein harmloses Missverständnis.“
In der Fragestellung des Glatzkopfs klang ihr genaues Gegenteil mit, nämlich ob Lüthi die Frau belästigt habe. „Ich wollte nur Feuer anbieten“, schob Lüthi deshalb erklärend nach, doch der Glatzkopf reagierte nicht, sondern wippte auf seinen Springerstiefeln auf und ab.
„Eben nicht!“, fuhr die Frau auf deutsch dazwischen, ohne dass der Sicherheitsmann auf den Zwischenruf geachtet hätte.
„Feuer anbieten“, wiederholte er mit Bedacht, als würde er eine neue Vokabel lernen. „Sich die Wartezeit mit einem Zigarettchen ein wenig verkürzen, sozusagen.“
Lüthi nickte erleichtert, ja, begeistert. Endlich schien jemand die läppische Dimension dieser Affäre zu begreifen, die immer noch die Aufmerksamkeit der gesamten Wartegemeinschaft auf sich zog, doch schon fasste ihn der Mann am Arm und zog ihn ganz nahe an sich heran. Mit dem Daumen deutete er stumm hinter seine Schulter, wo in etwa drei Metern Höhe, den Blicken der Reisenden fast entzogen, ein Schild angebracht war. Es sah sehr neu aus, und die zwei Messingnägel, mit denen man es festgeschraubt hatte, glänzten im Licht der Neonröhren wie Gold.
„Sie kennen dieses Symbol?“
„Aber ich habe hier früher immer geraucht“, protestierte Lüthi, obschon ihm völlig klar war, dass er damit nicht durchkommen würde.
„Früher. Ja, früher war alles besser!“ Der Glatzkopf grinste zur Frau hinüber, als wollte er sich vor ihr als schlagfertiger Witzbold präsentieren. „Früher haben sogar die Züge geraucht, nicht wahr? Die alten Dampflokomotiven.“
Die Frau, die nun auch Englisch zu verstehen schien, kicherte.
„Es war immer erlaubt, hier zu rauchen“, beharrte Lüthi auf seiner Erfahrung.
Früher erlaubt – jetzt verboten. Oder kostenpflichtig, wenn Sie es sportlich sehen wollen. Ich bekomme von Ihnen fünfzig Euro.“
„Aber ich habe hier in der Halle ja gar nicht geraucht!“ – Lüthi sah endlich den ersehnten Ausweg – „Diese Frau wollte rauchen!“
Längst hatte die Frau mit den Sommerschuhen ihre Zigarette verschwinden lassen und blickte den Sicherheitsmann einfältig an, als verstünde sie kein Wort.
„Moment, Moment.“ Der Glatzkopf kratzte sich am Kopf, um der Komplexität des Sachverhalts Rechnung zu tragen. Dann deutete er auf die Frau. „Sie hatten eben noch eine Zigarette in der Hand, richtig?“
Die Frau zögerte und nickte dann schuldbewusst.
„Eine Zigarette zu halten ist nicht verboten, sie war ja nicht angezündet", beruhigte sie der Wachmann. „Verboten ist lediglich das Anzünden einer Zigarette.“ Lüthis Miene verdüsterte sich. „Und wer hat Ihre Zigarette angezündet, wenn ich fragen darf?“
Lüthi gab auf und zog seine Geldbörse. Der Sicherheitsmann lächelte siegesbewusst.
„Hier. Ich habe hundert, können Sie rausgeben?“
„Einen Moment.” Der Sicherheitsmann war mit einem Schlag wieder ganz ernst, durchkramte seine Taschen und zog aus jeder ein paar zerknüllte Scheine und mehrere Münzen heraus, aber es reichte nicht. „Haben Sie es nicht genau?“
Längst waren die zwanzig Minuten der Verspätung abgelaufen. Das Leuchten zweier grüner Punkte auf der Anzeigetafel zeigte das Einfahren des Zuges an, auch wenn man ihn bislang weder sehen noch hören konnte.
„Egal“, sagte Lüthi. „Nehmen Sie die Hundert und lassen Sie mich einfach in Ruhe, O.K.?“
Der Glatzkopf ließ Lüthis Geldschein augenblicklich fallen, als könnte er eine ansteckende Krankheit übertragen. „Ist das Ihr Ernst?“ Ungläubig wandte er sich an die Frau mit den Sommerschuhen. „Ich glaube dieses Arschloch wollte mich eben bestechen!“
Auch sie schüttelte den Kopf, als könnte sie das Erlebte nur schwer verkraften. „Schmiert hier einen Angestellten der staatlichen rumänischen Eisenbahngesellschaft. In der Bahnhofshalle. Vor allen Leuten!“, rief der Mann und rückte sich sein Barett gerade – eine Kunstpause, um den Effekt des Finales zu unterstreichen: „Sie glauben, Sie können sich hier alles erlauben, weil Sie Deutscher sind?“
Mühelos überschrie er Lüthis Hinweis auf seine Schweizer Staatsbürgerschaft. Zum Glück erregte die Szene nur wenig Aufmerksamkeit, da in diesem Moment der Zug einfuhr, und die Menge durch das große Tor auf den Bahnsteig strömte, doch der Glatzkopf nahm davon keine Notiz.
„Kommen Sie bitte mit in mein Büro.“
Er deutete auf eine schmale Holztür am Ende der Halle, auf die jemand Vamă/Duane gemalt hatte, denn Alba Julia war einer der letzten Bahnknotenpunkte vor der Schengengrenze. Lüthi seufzte und griff nach seiner Tasche, die sich immer noch im Gewahrsam der Verrückten befand.
„Moment.“ Der Sicherheitsmann streckte den Zeigefinger vor. „Haben Sie hier eingekauft?“
Das war zu viel für Lüthis Nerven. Zwei lange Schrecksekunden stand er wie versteinert. Zum ersten Mal wusste er nicht, wie er eine Krisensituation entschärfen sollte. Er war für solche Verwicklungen einfach nicht ausgebildet.
„Nein, nein, das ist meine Tasche!“ Die Frau blickte erst Lüthi, dann den Beamten treuherzig an. Zwei weitere Sekunden furchtbare Stille, in denen sich der Sicherheitsmann am Kopf kratzte. Dann schien er zufrieden und wandte sich Lüthi zu.
„Dann kommen Sie jetzt mal mit.“
Von Lüthis Laufschritt ließ er sich nicht antreiben. In aller Ruhe suchte er den passenden Schlüssel aus seiner Sammlung. In der kleinen Kammer, die sich auf der anderen Seite zum Bahnsteig öffnete, befand sich ein grauer Spind, ein Schreibtisch nebst Drehstuhl, ein zerschlissenes Sofa und ein großer Plasma-TV-Schirm, vor dem ein zweiter Mann in schwarzer Fantasieuniform lümmelte, Bier trank und eine amerikanische Fernsehserie verfolgte. Er nahm weder von Lüthi noch von seinem Kollegen Notiz, der nun ohne Eile den rasselnden Bund nach dem Schlüssel für die Portokassa absuchte.
„Also: Fünzig Euro Rauchverbot übertreten, hundert Euro versuchte Beamtenbestechung. War sonst noch irgendwas?" Lüthi schüttelte stumm den Kopf. „Macht hundertfünfzig Euro.“
Während Lüthi einen weiteren Hunderter aus seinem Portemonnaie zog, sah er, wie die Frau geistesgegenwärtig auf den Bahnsteig hinaustrippelte, um vor dem Nachtzug Bukarest–Paris, dem ehemaligen Orient-Express, auf ihn zu warten. Versonnen zählte ihm der Glatzkopf das Geld in die Hand. „Sehen Sie jetzt, wie schädlich Rauchen ist?“
Er machte den Scherz nicht zum ersten Mal, dachte Lüthi, denn der Kollege verzog keine Miene. Dann entriss er ihm die Scheine und stürzte zur Glastür, um zur Frau auf den Bahnsteig zu gelangen.
„Halt. Warten Sie!“ Der Sicherheitsmann rief seinem zweiten Wachmann etwas zu, worauf der sich träge aus seinem Sofa schälte und mehrere Fächer des Spinds durchsuchte, bis er einen Quittungsblock herauszog. Dann schmierte er ein paar unleserliche Wörter auf das Formular, drückte einen Rundstempel darauf, riss das Blatt vom Block und reichte es nach vorne.
„Die Quittung. Ordnung muss sein.“
Lüthi zerknüllte den Zettel und stieß die Tür auf. Die Reisenden nach Alba Julia waren bereits ausgestiegen und bildeten ein hartnäckiges Hindernis. Fast alle waren Soldaten. Einige der jungen Rekruten fielen in die Arme ihrer Geliebten, andere gingen im gewohnten Gleichschritt auf den Ausgang der Bahnhofshalle zu. Viele hatten Zigaretten zwischen den Lippen oder nestelten sie in diesem Moment aus zerknitterten Packungen. Lüthi drängte sich ohne Rücksicht durch die Reihen. Die Menschen, die mit ihm auf den Zug gewartet hatten, standen bereits hinter den Fenstern der grauen Wagons oder zwängten sich mit ihrem Gepäck durch die engen Türen. Die Mitglieder der Zigeunerkapelle winkten mit ihren Taschentüchern. Der elegante Ungar reichte seiner Gattin einen Koffer in das Zuginnere. Nur von der Frau mit den Sommerschuhen fehlte jede Spur.

 
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Ich empfand das als eine hochinteressante Geschichte, baronsamedi. Auch wenn es im Grunde um nicht viel mehr als um einen unangenehmen Zwischenfall während einer Reise geht, steckt zwischen und hinter den Zeilen offenbar so viel mehr, dass mir die Lektüre ein wirkliches Vergnügen war.

… doch Lüthi zeigte keine Reaktion. Er hatte es nicht eilig, alles lief wie am Schnürchen. …. Lüthi fragte sich, ob in einem der Instrumentenetuis eine SIG550 Platz fände

Gleich zu Beginn machst du den Leser neugierig, was es mit diesem Lüthi auf sich hat, also ein gewöhnlicher Tourist scheint der ja nicht zu sein.
Und ein paar Zeilen weiter bestätigt sich der Verdacht:

Lüthis Plastiktasche unterschied sich nicht nennenswert von denen der Mädchen, jedenfalls nicht äußerlich. Sie war so unauffällig wie möglich. Nur dass sie ziemlich schwer war, hätte ein aufmerksamer Beobachter an seinen weißen Fingerknöcheln und den langgezogenen Plastikschlaufen, die sich tief in das Fleisch seiner Hand gruben, ablesen können, sowie die offensichtliche Entschlossenheit, sich nicht von ihr zu trennen, egal was passierte.

Dann taucht diese charmante verhinderte Raucherin auf, und Lüthis Rolle wird immer rätselhafter. Was zum Henker ist so Wichtiges in seiner verdammten Plastiktasche? Und mit dem Auftreten des Wachebeamten entgleitet Lüthi die Situation endgültig. Ja es passiert eigentlich nichts wirklich Aufregendes, das ist eine durch und durch alltägliche Situation, bzw. das Aufeinanderprallen verschiedener sozio-kultureller Verhaltensweisen, sehr alltäglich wie gesagt, und gerade in einem vereinten Europa umso witziger, aber aufgrund des Geheimnisses in Lüthis Tasche bekommt die ganze Szene so eine bedrohliche Dimension und ich als Leser wartete entsprechend gespannt auf die Auflösung bzw. den großen Showdown. Aber weder das eine noch das andere gönnst du mir und interessanterweise hat mich das gar nicht mal gestört. Obwohl du mich mit dem Rätsel alleine lässt, mochte ich die Geschichte. Vermutlich weil sie sprachlich sehr souverän ist und es dir obendrein gelingt, eine wirklich dichte Atmosphäre zu erzeugen. Die Figuren zeichnest du sehr glaubhaft, der Wachebeamte, dieses Schlitzohr, z.B. ist einfach herrlich. Und Lüthi? Hmm, ein Schmuggler? Gar ein Schweizer Geheimdienstmann?
Tja, eigentlich egal, wie gesagt, einfach weil der Text toll geschrieben ist.

Drei Winzigkeiten habe ich zu beanstanden:

die Mitglieder eine[r] Zigeunerfamilie

Der Rest bestand aus jungen Frauen ohne großem [großes] Reisegepäck.

Dann entriss er ihm die Scheine und drang zur Glastür,

dringen im Sinne von sich wo hinbewegen? Gefällt mir nicht recht. Selbst vordringen fände ich hier unpassend.
Vielleicht: er stürzte, er stürmte, er eilte, er lief, er hastete, usw.

offshore

 

Hallo Offshore,
ich habe deine drei Hinweise beherzigt! Danke auch für die anderen Anmerkungen. Mir ist nicht ganz klar, ob man mit der Entscheidung, weder die Identität des Helden noch den Inhalt der Tasche preiszugeben, beim Leser wirklich durchkommt. Ich glaube man könnte darin auch eine Dreistigkeit sehen.

 

„Wir Raucher sollten zusammenhalten in diesen Zeiten. Haben Sie daran schon mal gedacht?“ Sie hob ihre Stimme, als müsste sie dringend ihren Radius erweitern: „Solidarität ist für Deutschland leider ein Fremdwort geworden!“
Aber doch auch wir Biertrinker, oder?

Ja, ernst hat recht, da ist mehr drin als unsere Schrott gewohnten Augen eingestehn wollen,

lieber baron (Du hast doch nix mit 007 zu tun, oder?, dann wärstu ja ein Wiedergänger),

und das erste Mal, dass in einer nahezu kafkaesken Situation mit dem

Bahnknotenpunkte vor der Schengengrenze
die ach so große und doch nur aufgeblasene Europäische Union die Rolle spielt, die ihr zukommt: Keine! - oder nur unterm Mikroskop wahrnehmbar, da helfen auch keine Anti-Werbesprüche – die ja auch nur von Marketing-Fuzzies kreiert werden - wie „Rauchen kann …“, was mich mal kann ...!, das Leben ist tödlich und selbst die modernen Gehirne vermögen es nicht durch Erinnerung zu verlängern. Man könne ja guugeln, bingen udgl., wobei mir der Ort am Rhein (Bingen) und der Mäuseturm allemal lieber sind als wirrtuelle Welten je sein können.

Zurück zum Text, der mir wie Kafka goes Transsylvania (um es in unserer vermeintlich schönen Lingua franca zu sagen. Das moderne Fränkisch – das ja im franca durchscheint – wird leider nur von 17 Mio. Leuten gesprochen: Es ist das Niederländische [ik begrijp het niet, wird mancher, vllt. auch Du sagen, und hätt es doch verstanden]).

Und doch ein paar notwendige Hinweise:

Schon der schöne erster Satz, der uns nach Siebenbürgen entführt, beginnt mit einem riskanten Vergleich:

Wie Damoklesschwerter hingen nackte Neonröhren, …
Es kann nur ein Damoklesschwert geben - wie beim Highlander: Es kann nur einen geben! Den Heiland, eben.

Erinnern wir uns: Damokles war Höfling am Hofe Dionysios - ob des I. oder II. tut nichts zur Sache und es muss nicht der aus Schillers Bürgschaft sein, was aber bei seinem eigenwilligen Humor wahrscheinlicher ist als umgekehrt – und der ließ den Höfling köstliche Speisen unter einem an einem einzigen Pferdehaar aufgehängten Schwert verzehren, woher die Bezeichnung Damoklesschwert stammt - sprichwörtlich für eine drohende Gefahr.

Aber es gibt auch, was auf jeden Fall der Korrektur bedarf:

Hier schlägt die numerische Falle zu nebst der komatischen Komma-Setzung:

Dann stand das Häuflein Menschen, das auf einen Reisezug aus Bukarest warteten, im abendlichen Dämmerlicht, und ihre ...
„…das Häuflein …, das … wartete (Singular!) im … Dämmerlicht und ihre …“

Das Komma vorm „und“ ist entbehrlich (bloße Aufzählung zweier Hauptsätze, die durch es verbunden werden), wenn Du aber mit der Notwendigkeit, dem Leser die Struktur der Sätze aufzuzeigen herangingest oder gar dem Leser eine Atempause damit anempfehlen wolltest, wäre das in Ordnung … und meine scheinbare Verbissenheit in grammatischen Fragen schlüge in ein mildes Lächeln um (tut es jetzt schon angesichts dessen, dass sich dem Jever eine Flasche Portweins aus Portugallo - also nicht abgefüllt in xy - zugesellt. Da wird RTL und die Nationalmannschaft (leider auch Polski) auf mich verzichten müssen. Ist eh inzwischen nur noch Werbung.

Das Problem ist nun das „ihre“, denn das Häuflein bedeutet wie eine vergleichbare „kleine“ Gruppe mindestens zwo Menschlein, aber es ist wie die Gruppe Einzahl (was bei einer Gruppe gar nicht auffiele, wenn Du verstehst, was ich meine …)

Und auch

„15 Minute“,
führ ich übrigens auf die rumänisch-siebenbürgische Umgebung zurück

O. K. oder Okay (lustiger allerdings wäre Okey-do-key)

Vorortebahnhöfe
Nee, das braucht keines gedoppelten Plurals: Vorortbahnhöfe reicht, imm der hintere Teil von Zusammensetzungen bestimmt den Numerus


Eine knarzende Tonbandstimme …
Wisset ihr Leute aus der Ostmark überhaupt, dass ihr euch mit dem Knarzen gegenüber dem Knarren durchsetzt, langsam, aber stetig? Jedenfalls hierorts. Ich ahne auch warum: Das z "r[a]tzt" quasi und lässt das Knarren knar[t]ziger erscheinen. Aber wie knarzt der ganze Sprachapparat? Die Zunge schnalzt und schmatzet gemeinsam mit den Lippen, im Rachen röchelts schon mal usw.

Freitagsnachmittagseinkauf
Ein Wort, an dem Mark Twain seine helle Freude hätte, vielleicht noch mehr als am Hottentottentittentantenattentat

Ernst, Du & me and my monkey sollten den Club des Schrägen gründen …

Gruß & schönes Wochenende vom

Friedel

 

Hallo Friedel,

das freut mich, dass du diesen Text ausgegraben hast. Er hat hier bislang nicht sehr viele Freunde gefunden. Das liegt sicher auch daran, dass er dem Leser eine mustergültige Auflösung der Konflikte vorenthält. Er hat sozusagen etwas Hinterfotziges.

Der Hinweis mit dem Damoklesschwert und dessen Plural ist sehr scharfsinnig und er hängt über mir, während ich das schreibe. Muss mir noch überlegen, ob ich mich hier der Vernunft beuge.

Nein, ich bin original und neuwertig. Welcher 007 wäre das denn? Die Ziffern haben ein paar in ihrem Nick. Bin nur neugierig, wer dich an mich erinnert.


Vorortbahnhöfe

Hast Recht. Da dachte ich wohl an die Wiener „Vorortelinien“!

Deine Anmerkungen (die ja viel mehr sind als bloße Korrektur-Tipps, du bildest den Leser ja gleichsam zwischen den Zeilen, fast ohne dass er es merkt und so, dass es nicht mal sehr weh tut) habe ich wieder mit großem Vergnügen gelesen.


baronsamedi

 

Nein, ich bin original und neuwertig. Welcher 007 wäre das denn? Die Ziffern haben ein paar in ihrem Nick. Bin nur neugierig, wer dich an mich erinnert.
Hoppela, hier gibt's solche nullnullsiebenen? Baron Samedi ist kürzlich gestorben. Mit Recht!, denn es war ein böse böser Gegner des Herrn Bond, James.

Gruß

Friedel

 

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