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Lügen
Lügen
Dumpfe Schläge, Eisen und Rost, Schwarz… die riesige Halle war völlig leer. Nur in der Ferne war dieses schwere, metallische Schlagen zu hören. Es kam aus allen Richtungen, hallte von einem Ende des riesigen Gebäudes zum anderen, kehrte um und kam zurück, verzerrt, schwer, eisern, als würden Millionen Tonnen Stahl aufeinander treffen, sich verformen, miteinander verschmelzen und dann wieder auseinander gerissen werden.
Keine Menschenseele war zu sehen, keine Stimme zu hören. Thorsten war allein. Er sah an die Decke, wo er einige Öffnungen in der Halle entdeckte, durch die der Vollmond nebelartig trüb hindurch schien. Dunkelgraue Wolken zogen am Himmel entlang, als würden sie vor etwas fliehen.
Thorsten wartete… hier wollte er sie wieder sehen. In dieser Nacht würde sie zu ihm zurückkehren. Er saß nun schon seit Stunden hier und das eiserne Hämmern wurde immer lauter und durchdringender. Vereinzelt sprühten blaue Funken aus den Oberleitungen, die über die Schienen gespannt waren. Für einen Bruchteil einer Sekunde erhellte das blaue, grelle Licht die Halle. Teuflische Schatten tanzten an den Wänden. Ein lautes, quietschendes Geräusch ertönte, als würde Metall auf Metall reiben… oder war es doch ein Schrei? Das Geräusch zog sich immer länger, wurde zu einem Ausdruck der Qual, des Schmerzes. Der Tod selbst schien gegenwärtig, doch zeigte er nicht sein Gesicht.
Seit einer Ewigkeit wartete er auf diesen Moment, auf diesen Tag, an dem er seine Geliebte, Jaqueline, endlich wieder sehen würde. Er wusste nicht, wie lang er hier im Bahnhof schon wartete. Es war für ihn auch nicht von Belang. Er war hier, sie würde bald bei ihm sein, und nur das zählte. Nebel umhüllte die Bank auf der er saß. Er lehnte sich entspannt zurück, sah auf die Uhr, deren Zeiger sich sehr schnell zurück drehten. Schließlich näherten sich beide Zeiger der 12 Uhr Position, sie begannen sich langsamer zu drehen. Beruhigt lächelte er. Bald würde sie hier sein.
Aus den Schatten, die im Nebel tanzten, trat plötzlich ein Mann. Ein Gesicht hatte er nicht. Er stellte sich neben Thorsten, beachtete ihn jedoch nicht weiter. Thorsten sah ihn beunruhigt an, doch der Mann blickte nicht zurück. Wie sollte er auch? Er hatte weder Augen, Nase noch einen Mund.
Wieder blitzte eine elektrische Entladung aus den Oberleitungen, dann klingelte ein Telefon. Das klingeln kam von sehr weit weg. Das glaube Thorsten zumindest erst. Doch dann bemerkte er, dass sich das Telefon direkt neben ihm befand, an einer Säule neben der Bank, auf der er saß. Der Mann ohne Gesicht machte eine freundliche Geste. Er hatte keinen Mund, doch hörte Thorsten ihn plötzlich sprechen:
„Darf ich?“ fragte er und zeigte auf das Telefon, das nun schon seit mehreren Minuten klingelte. Thorsten zögerte einen Moment, nickte dann. Der Mann nahm den Hörer ab und hielt ihn an sein Ohr, das nun doch zu erkennen war. Er hörte sehr genau zu, was ihm am Telefon gesagt wurde. Es dauerte einige Minuten. Der Mann blieb ruhig, sagte selbst kein Wort. Schließlich legte er den Hörer langsam wieder auf. Er ging ohne Eile an Thorsten vorbei, verschwand wieder hinter der Bank wieder im grauen Dunst. Erneut blitzten elektrische Entladungen, als Thorsten plötzlich von hinten gepackt und über die Bank gezogen wurde.
Er konnte sich nicht wehren, er bewegte sich immer schneller rückwärts. Die riesige, dunkle Halle verwandelte sich mit einem Mal in einen engen Tunnel mit Wänden aus rostigem Eisen und kalten, flackernden Leuchtstoffröhren an der Decke, der in Thorsten ein klaustrophobisches Gefühl auslöste. Er schrie und sein Schrei zog sich von einem Ende des Tunnels zum anderen, kehrte um und wiederholte sich. Der Schrei endete nicht, schien bis in die Unendlichkeit hinein zu hallen.
Sie schlief, tief und fest. Sie saß auf der Couch, den Kopf in den Nacken gelegt Jaqueline sah so friedlich aus… und so wunderschön. Es war ein sehr kleiner Raum, ähnlich einem Hotelzimmer. Die Wände und beinahe die gesamte Einrichtung bestanden aus glattem, gepflegten Holz. Weiches, nicht aufdringlich helles Licht tauchte den Raum in eine beruhigende, beinahe hypnotische Atmosphäre. Thorsten kam alles so vertraut vor, doch er wusste nicht, woher.
Rote seidene Vorhänge waren vor die zwei Fenster, die sich im hinteren Teil des Raumes befanden, gezogen. Thorsten ging langsam hinüber und zog den Vorhang zur Seite. Draußen war es noch dunkel, nichts war zu sehen. Schließlich ging er leise zu Jaqueline hinüber, setzte sich zu ihr. Lange sah er wortlos zu, wie sie schlief und genoss die Stille um sich herum. Irgendwann berührte er sanft ihr Haar, ihr Gesicht, gab der schlafenden Schönheit schließlich einen sanften Kuss.
„Ich liebe dich“ sagte er leise. Die ganze Nacht blieb er dort sitzen und sah sie an. Endlich waren sie wieder zusammen. Endlich war alles, wie es sein sollte. Es war, als hätte es nie etwas Anderes gegeben. Es war, als wären sie niemals getrennt gewesen.
Am darauf folgenden Tag gingen sie draußen spazieren. Es war ein riesiger Park, der sich um das Gebäude scheinbar unendlich erstreckte. Sie waren allein. Thorsten ließ sich die Gegend von Jaqueline zeigen und genoss es einfach, mit ihr zusammen zu sein. Immer wieder lächelnd und lachend führte Jaqueline ihn herum, zeigte ihm den Wald, die Wiesen… alles war märchenhaft schön. Es war an diesem Tag windig, aber nicht kühl. Der Wind wehte durch ihre langen, schwarzen Haare. Ihr dünnes, weißes und knapp geschnittenes Kleid flatterte ebenfalls im Wind, folgte dennoch aber elegant jeder ihrer Bewegungen, legte sich wie eine zweite Haut um ihren schlanken Körper.
„Hier wohnen wir, erinnerst du dich?“ sagte sie leise und lächelte ihn an während sie an einer Hauswand des riesigen, alten Gebäudes entlang gingen. Thorsten erinnerte sich. Sie waren schon so oft hier gewesen, der ganze Park war ihm so vertraut. Er wusste genau, wo er sich befand. Alles fiel ihm wieder ein als sei er niemals fort gewesen. Jaqueline legte ihre Arme um Thorsten, zog ihn langsam zu sich heran und küsste ihn.
„Ich liebe dich“ flüsterte sie ihm leise ins Ohr, gab ihm dann noch einen Kuss. Es war bereits Abend und die Sonne ging unter. Die ganze Landschaft war in ein romantisches Abendrot getaucht. Der Wind wurde stärker, das Rauschen war laut in den Bäumen zu hören. Sie gingen noch ein wenig spazieren, dann zogen Wolken auf. Inzwischen war aus dem Wind ein Sturm geworden. Thorsten begann zu frieren, doch Jaqueline schien sich an der plötzlichen Kälte nicht zu stören. Sie schien den Wetterwechsel nicht einmal bemerkt zu haben. Sie trug noch immer das dünne Kleid, welches im Sturm hinter ihr her wehte.
Es wurde immer kälter, der wurde Sturm immer stärker und die Wolken verdeckten den Himmel. Es wurde dunkel. Nur noch ein kalter Schein, der all die bunten Farben der Blumen und Bäume verschlang, lag noch über der Landschaft. In der ferne zuckten Blitze, auf die ein leises Grollen folgte. Laut rauschte der Sturm in den hohen Bäumen, die sich bogen, dem Wind aber widerstanden.
Thorsten begann zu zittern. Dieser plötzliche Wetterumschwung machte ihn nervös. Jaqueline sah ihn sorgenvoll an. Sie sagte dann leise und ruhig, dass er keine Angst haben brauche. Sie lächelte dasselbe, freundliche, warme Lächeln, das er in der ganzen Zeit ihrer Trennung so vermisste. Ihre Nähe beruhigte ihn, nahm ihm nun wieder jedes Gefühl der Unbehaglichkeit.
Er strich ihr mit seiner Hand die Haare aus dem Gesicht, die der Sturm ihr zerzaust hatte. Er lächelte sie an, wollte seine Lippen auf die ihren legen, doch plötzlich spürte er etwas an seinem rechten Fuß. Er sah hinunter. Dort an seinem Bein kroch eine Schlange hinauf. Er schrie, geriet in Panik. Jaqueline sah ihn verwirrt, beinahe traurig oder enttäuscht an, sagte jedoch nichts.
„Was ist mit dir los?“ fragte sie irritiert. Eine Träne lief über ihr Gesicht. Thorsten sah sie nur kurz an, konnte dann schließlich die Schlange abschütteln, die sofort versuchte, wieder an seinem Bein hinauf zu kriegen. Er begann zu rennen. Jaqueline war nirgends mehr zu sehen. Das Donnern und die Blitze waren nun beinahe über ihm, es war auf inzwischen ziemlich dunkel geworden. Im Sturm konnte er nichts sehen, doch spürte er, dass irgendetwas ihn verfolgte.
Er drehte sich um, sah in den nahen Wald. Eine riesige Staubwolke kam dort auf ihn zu. Lautes Getrampel war zu hören wie von einer Tierherde. Er rannte weiter, rannte um sein Leben. Er spürte, wie die Tiere immer nähe kamen, spürte beinahe ihren heißen Atem in seinem Nacken. Ein Blitz zerriss die Luft, ein Donnerschlag ertönte. Thorsten rannte in einen anderen Wald, in der Hoffnung, die nicht erkennbaren Tiere abschütteln zu können. Doch dann kam der Lärm der Tierherde auch aus dem Wald vor ihm. Eine zweite Herde rannte auf ihn zu.
In der Dunkelheit und durch den Sturm konnte er nichts erkennen, außer, dass es irgendwelche großen, schwarzen Tiere waren, die ein langes Fell trugen. Ein tiefes Knurren ertönte. Die zweite Herde rannte an ihm vorbei, griff stattdessen die Herde an, die ihn bereits verfolgte. Gewaltiger Kampflärm war im ganzen Wald zu hören und wieder rannte Thorsten davon.
Später befand er sich wieder in dem kleinen, mit Holz vertäfelten Zimmer. Jaqueline saß auf der Couch. Sie schlief jedoch nicht, sondern sah ihn traurig an. Sie sprachen beide kein Wort. Irgendwie hatte sie sich verändert, seit er die Schlange an seinem Bein bemerkt hatte. Ihre Liebe, all das, was sie für ihn empfand, war aus ihrem Blick verschwunden. Jedoch sah sie sie sah so traurig aus und unendlich enttäuscht. Draußen tobte noch immer der Sturm, der erst am Morgen nachließ.
Thorsten sah aus dem Fenster, innerlich von dem Gefühl geplagt, alles verloren zu haben. Vor allem ihre Liebe. Er wusste genau, dass er etwas falsch gemacht hatte, wusste auch, dass er es nie wieder gut machen konnte. Draußen wurde es langsam wieder hell und schließlich schien die Sonne strahlend vom Himmel. Direkt vor dem Fenster des Raumes, der sich im 2. Stock des großen, alten Gebäudes befand, stand ein etwa drei Meter hohes Kreuz aus Holz. Thorsten bemerkte es zuerst gar nicht. An diesem Kreuz hing jemand. Thorsten war schockiert, im selben Augenblick dachte er an gemalte Bilder von Jesus, wie er gekreuzigt wurde.
Es war ein junger Mann, der dort hing. Er war an Armen und Beinen mit rostigen Nägeln an das Kreuz geschlagen worden. Thorsten sah ihm ins Gesicht. Keine Qual war darauf zu sehen, nein beinahe Freude… Erleichterung. Blut rann überall aus seinem Körper. Weiter unten standen Menschen um das Kreuz. Direkt daneben befand sich ein toter, alter Baum. Die Leute dort unten tanzten um den Baum und das Kreuz, waren offensichtlich glücklich. Sie schienen so etwas wie eine Party zu feiern. Sie sangen lustige Lieder, deren Text Thorsten jedoch nicht verstand, da es sich um eine ihm unbekannte Sprache handelte.
An dem Baum, der neben dem Kreuz stand, hingen zwei weitere Menschen. Ihre Gesichter waren mit Tüchern bedeckt. Sie regten sich nicht… sie waren tot. Doch die Menschen unten tanzten weiter, schienen die das Ganze zu genießen. Sie lachten und sangen. Wieder sah Thorsten den lachenden, doch blutenden und offensichtlich langsam sterbenden jungen Mann an, der an das Kreuz genagelt war. Er schien Freude an diesem merkwürdigen Fest zu haben. Er sang sogar mit, während seine Kräfte ihn langsam verließen.
Sein Gesicht… es kam Thorsten so bekannt vor. Es war… er glaubte nicht, was er sah. Es war Thorsten selbst, der dort hing. Er lachte, sang, während er offensichtlich auf die Erlösung durch den Tod wartete. Die Menschen tanzten immer schneller, sangen immer lauter.
„Die Leute hier sind nicht immer so, Thorsten. Nur wenn es etwas zu feiern gibt“ sagte Jaqueline leise. Sie stand schon eine Weile neben Thorsten ohne dass er es bemerkte. Ihre Stimme klang so unendlich traurig, doch sie schien sich mit dem abgefunden zu haben, was am Abend zuvor geschah. Doch was war überhaupt geschehen?
Jaqueline stand noch immer am offenen Fenster, durch das ein leichter, angenehmer Frühlingswind wehte. Thorsten ging zurück in den Raum und sah sie lang dort stehen. Sie drehte sich nicht um sah einfach nur weiter nach draußen. Thorsten hörte sie leise weinen, sagte jedoch nichts: Irgendwie wusste er, dass nun jedes Wort alles nur noch schlimmer machen würde.
Plötzlich öffnete sich die Tür und ein paar der Menschen, die er gerade noch unten tanzen sah, zerrten ihn fort. Sie wollten, dass er mit ihnen feierte. Er konnte sich nicht wehren, sie zerrten ihn aus dem Raum, zerrten ihn immer weiter fort von Jaqueline, die sich nicht einmal mehr umsah und stattdessen weiter traurig aus dem Fenster blickte. Als die Menschen Thorsten nach draußen geschleppt haben, schlossen sie die Tür.
Die lachenden Menschen zerrten ihn den Gang hinunter, immer schneller. Wieder veränderte sich alles. Wieder wurde aus den Wänden kalter, rostiger Stahl, auf dem blasses, kaltes Licht reflektiert wurde. Es wurde dunkel, immer dunkler, immer weiter zerrten sie ihn fort. Dumpfe, metallisch hallende Schläge waren zu hören. Man zerrte ihn immer schneller zur Quelle dieses Geräuschs.
„Ich liebe dich!“ schrie er verzweifelt. Das Echo verzerrte seine Worte, sie verschwanden in der Unendlichkeit der Dunkelheit, kehrten niemals wieder zurück.
Seine Suche war seine Wahrheit, jedes Ziel nur eine Lüge. War der Sinn denn nur zu suchen, jedoch die Wahrheit zu finden nicht seine Bestimmung? So oft fragte er sich, wohin sein Weg ihn führte…wohin, wenn nicht zu ihr? In ihr glaube er das Ziel seiner Suche gefunden zu haben, doch war sie nur die Lüge, die ihn auf falschem Wege hielt… fern der Suche. Warum suchen, wenn sein Glück zu finden niemals das Ziel seiner Suche war, sondern nur die Lüge?