Lüge
Daheim. Ana schmiss ihre Jacke auf den Boden, warf ihre Schuhe irgendwo hin und fiel in den Sessel. Blind tastete sie nach der Fernbedienung ihrer Stereoanlage und ließ eine ihrer Heavy-CD’s in voller Lautstärke aufdröhnen. Wo zum Teufel waren die Zigaretten? Sie durchwühlte hektisch das Durcheinander auf dem Wohnzimmertisch. Erst, als sie einen tiefen Zug genommen hatte, wurde sie etwas ruhiger. Sie schlich zum Kühlschrank und trank einen Schluck Orangensaft aus der Tüte. An der Pinnwand hing immer noch der Zettel von vor einer Woche, mit dem sie sich selbst daran zu erinnern versuchte, das Treppenhaus zu putzen. Scheiß Mietverordnung! Sie zerdrückte die Kippe in einem der vielen überfüllten Aschenbecher, die überall in der Wohnung zu finden waren. Nachdem sie auf der Toilette war, zog sie sich aus und stieg unter die Dusche. Das Wasser war viel zu kalt, aber es tat trotzdem gut. Sie rubbelte sich fest mit dem Waschlappen ab, bis ihre Haut schon fast rot zu werden begann. Das Wasser war jetzt warm. Sie zitterte und fror trotzdem. Ana wollte aus der Dusche klettern, da rutschte sie aus. Ihre nach Halt suchende Hand griff ins Leere und sie knallte mit voller Wucht auf den Wannenrand. Sie spürte den Schmerz kaum. Im Spiegel konnte sie sehen, dass ihre Lippe blutete. Mit dem Zeigefinger fing sie das Blut auf und malte damit ein rotes Herz auf das kalte Glas des Spiegels.
„Na, Schätzchen“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, „hey, du weißt doch, ich liebe dich!“
Mit Kranwasser schluckte sie zwei Aspirin. Dann trocknete sie sich ab und zog sich an. Eigentlich war es zu kalt, um soviel Haut zu zeigen. Na und?! Ihre noch feuchten kurzen Haare durchwuschelte sie nur mit ein bisschen Gel, dann machte sie sich ans Make-up. Damit ließ sie sich jedes Mal eine Menge Zeit, obwohl sie nie viel auflegte. Nur ein wenig Puder, Lidstrich und Glanz für die Lippen. Ihren Piercingstecker in der Lippe tauschte sie gegen einen Ring aus.
Ana warf der Gestalt im Spiegel einen Kuss zu. „So gefällst du mir besser. Und nicht nur mir.“
Die Uhr sagte Ana, dass es erst halb acht war. Noch würde nirgendwo etwas los sein. Aus dem undurchsichtigen Gestapel im Kühlschrank fischte sie zwei Scheiben Schinken, die sie gierig verschlang. Ihr Magen verlangte nach mehr, aber das konnte sie nicht. Sie wusste genau, wenn sie jetzt anfing zu essen, würde sie nicht mehr aufhören. Und die Packung Kekse und der Liter Eiscreme, die wollte sie sich eh aufheben, für einen Tag, wo sie mal wieder nix zu tun hatte. Außerdem hatte sie gestern erst die Toilette saubergemacht. Eingetrocknete Kotze war hartnäckig.
Sie zündete sich noch eine Zigarette an und begann, zu der Musik mitgrölend, durch die kleine Wohnung zu tanzen. Zeit totschlagen. Doch irgendwann stand sie nur noch am Fenster und starrte in den Hof hinunter. Die CD war mittlerweile durchgelaufen, es herrschte Stille.
Plötzlich schrillte das Telefon. Ana zuckte zusammen und ließ ihre Zigarette fallen. Dass sie einen Brandfleck auf dem Teppich hinterließ, beachtete sie nicht. Die Hand schon am Hörer, überlegte sie, ob sie überhaupt abnehmen sollte. Es war Tom, das war klar. Niemand sonst würde Gründe haben, sie anzurufen. Aber welche Gründe hatte eigentlich Tom...? Sie waren nun schon fast ein Jahr zusammen und er sagte und tat so wunderschöne Dinge, die sie eigentlich nie hätten dazu bringen können, an seiner Liebe zu zweifeln. Aber tief in ihrem Innern tat sie das. Egal, ob sie ihm damit Unrecht tat oder nicht - es war absolut gegen ihre Lebensphilosophie, dass sich jemand ehrlich für sie interessierte oder sie gar liebte. Sie selbst jedoch liebte Tom. Wahrscheinlich war sie sogar abhängig von ihm. Er war der perfekte, gutaussehende Typ mit vielen Freunden, der immer zu seiner Meinung stand und all seine Ziele verwirklichte. Er hatte dieses glückliche Leben, von dem Ana träumte. Durch ihn hatte sie Teil daran, durch ihn war ihre Illusion perfekt. Einerseits die Illusion nach außen, die andere in Ana das in jeder Hinsicht beneidenswerte Mädchen sehen ließ. Andererseits die Illusion für sich selbst, in die sie fliehen konnte und in der sie leben konnte. Tom war ihr Kontakt nach außen, ohne ihn war sie schon lange nicht mehr unter Leuten gewesen. Seine Freunde waren auch ihre Freunde, doch das auch nur, wenn sie neben Tom saß. So jedenfalls sah Ana das Ganze. So war es und nicht anders, Punkt.
Eigentlich hatte sie ja auf den Anruf gewartet. Wenn sie jetzt nicht abnahm, würde sie den Abend zuhause verbringen müssen. Und das war für Ana das Schrecklichste auf der Welt - sich selbst ausgesetzt zu sein.
„Wer da?“ flötete sie ins Telefon. Sie war wieder voll und ganz die Ana, die man kannte.
„Hi Süße!“ meldete sich Tom und begann gleich ohne Pause zu reden. „Du, sorry, ich hab nur wenig Zeit, ich rufe von Markus’ Handy aus an. Wir zelten heut’ nacht auf’m Platz. Ich kann dich leider nicht mehr holen kommen, sei nicht sauer ja? Trotzdem viel Spaß, und übertreib’s nicht, okay? Ich melde mich morgen! Lieb dich! Tschau!“ Bevor Ana auch nur ansatzweise verstand, was Tom da eben erzählt hatte, geschweige denn bevor sie etwas erwidern konnte, hatte Tom schon aufgelegt.
Eine Träne wollte ihrem Augenwinkel entschlüpfen, aber Ana zerdrückte sie schnell und gab sich selbst eine leichte Ohrfeige. Viel Spaß? Na gut, dann würde sie eben Spaß haben.
Sie schlüpfte in ihre Stiefel, puderte nochmal über ihre Nase und verließ die Wohnung, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, wo sie überhaupt hin wollte.
Es regnete - wie es sich gehörte, wenn Ana draußen war. Sie blieb einen Moment unter dem Vordach stehen und trat dann in den Regen hinaus. Sie breitete die Arme aus und drehte sich im Kreis. Es war wunderschön, wie der kalte Regen auf sie niederprasselte. Sie genoss es, jeden einzelnen Tropfen zu spüren. Langsam spazierte sie los. Je näher sie dem Stadtinneren kam, je näher sie den Leuten kam, desto schwerer wurden ihre Füße. Plötzlich war der Regen nicht mehr so angenehm, denn jeder Tropfen schlug jetzt wie ein Vorschlaghammer auf sie ein und hämmerte Angst in ihren Kopf. Irgendwann musste sie nachgeben und fiel hilflos auf die Knie. Sie zitterte und weinte.
Sie wusste nicht, wie sie es wieder zurück in den Schutz ihrer Wohnung geschafft hatte. Klitschnass lag sie mitten auf dem Wohnzimmerteppich. Durch den Boden spürte sie die Vibration der übermäßig lauten Musik, doch sie hörte sie nicht. Sie wusste auch nicht, woher ihre Finger plötzlich die Rasierklinge hatten. Blut tropfte auf den Teppich, als sie begann, in ihren Arm zu ritzen. Sie spürte den Schmerz nur dumpf, aber es war wunderbar - sie fühlte etwas. Sie konnte ihren Körper spüren. Der körperliche Schmerz ließ keinen Platz für seelischen. Sie machte tiefe Schnitte - ein Mahnmal, dass sie immer begleiten würde. Sie wischte das Blut weg. L-Ü-G-E stand auf ihrem Arm. Immernoch quoll ein wenig Blut aus den Buchstaben. Tränen tropften darauf und vermischten sich damit. Sie war allein, außer ihrem Freund, dem Schmerz, war keiner für sie da. Ihre Hand mit der Klinge strich sanft an der Pulsader entlang. Sie war feige. Sie war zu feige, feige zu sein und der Lüge ein Ende zu setzen.
Sie legte die Rasierklinge weg und schwankte, fast erstickend an Tränen und Schluchzen, zum Kühlschrank.
Sie merkte nicht, dass das Telefon klingelte. Sie konnte auch nicht wissen, dass es Natascha war, die mit ihrer besten Freundin Ana ins Kino gehen wollte.