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- Anmerkungen zum Text
Am Ende verweise ich auf den Film Butch Cassidy and the Sundance Kid. Hoffe, das führt nicht allzu sehr zu Verwirrung.
Lörtsch
„Ich glaube ja nicht an den Himmel, weißt du? Ich glaube an die Hölle.“
Ich mache eine vage Geste in Richtung Autofenster.
„Da draußen.“
Mein Beifahrer zeigt sich unbeeindruckt. Lehnt mit seinem Körper lässig an der Tür und kippt in jeder Kurve mit seinem Kopf entweder aus dem offenen Fenster oder wieder nach innen. Statt zu antworten, beginnt er leise vor sich hinzublubbern. Ich bekomme bei so was ja auch nach all den Jahren noch manchmal eine Gänsehaut. Nicht zu fassen, was? Aber klar, da muss man natürlich schon auch ein wenig aufpassen. Das nichts hochkommt. Ich werfe ihm einen Blick zu, schiele auf die Striemen an seinem Hals.
„Könnt mir vorstellen, dass es dir ähnlich ging. Mein Tipp? Du hattest keinen Bock mehr, der Menschheit weiter dabei zuzusehen, wie sie sich Tag für Tag selbst fickt.“
Er spart sich eine Erwiderung und lässt das mal so stehen. Ich nicke.
„Glaub mir Bruder, ich versteh dich.“
Eine Weile schweigen wir uns wieder an. Ich finde ja, es ist ein gutes Schweigen. Kein Druck.
Irgendwann beschließe ich, ihm einen Namen zu geben. Lurch, wie den riesigen, dürren Butler aus der Addams-Family. Kennen Sie den? Genau so sieht er aus. Sogar die schwarzhaarige Pilzfrisur passt. Außerdem klingts gut. Lörtsch!
Ich bremse und er sackt vornüber. Übelriechende Flüssigkeit beginnt aus seinem Mundwinkel auf die zerlöcherte Hose und das Sitzpolster zu tropfen.
„Mach dir nichts draus. Gehört ja irgendwie dazu“, murmele ich und wische mir den Schweiß von der Stirn. Halb elf und immer noch diese Hitze. Wirklich nicht mein Wetter. Lurchs aber sicherlich auch nicht.
„Weißt du früher, da haben wir diese Jenseits-Nummer deutlich ernster genommen. Haben Klamotten, Schmuck und was weiß ich noch alles mit ins Grab gepackt. Oder die Ehefrau gleich mit. Auch nicht einwandfrei, schon klar. Aber im Grunde ehrlicher, oder? Ich meine, frag doch mal so nen Priester, wenn der davon erzählt, dass uns alle das ewige Reich Gottes erwartet, warum man denn dann nicht gleich die Oma mit zu Opa in den Sarg legt, statt die Arme noch ein halbes Jahr in nem Heim verschimmeln zu lassen? Oder warum genau es sich eigentlich nicht gehört, der kürzlich tragisch verstorbenen Freundin nachzufolgen und mit dem Auto entspannt in den Gegenverkehr zu brettern?“
Lurchs Kopf kippt wieder aus dem Fenster. Ich hebe die Stimme, damit er mich trotz des Fahrtwinds hören kann. Es stört mich nicht, dass er sich anscheinend lieber das Haar zerstrubbeln und die Lippen verziehen lässt, anstatt so zu tun, als würde ihn das, was ich sage, sonderlich interessieren. Ich brauche niemanden, der mir nach dem Mund redet oder Aufmerksamkeit heuchelt.
„Ich sag dir, warum. Weil das zu einfach wäre. Dann würde ja alles komplett den Bach runtergehen. Mehr noch als ohnehin schon, meine ich. Warum sich dann überhaupt noch die Laune mit dem üblichen Leistungsdruck oder der eventuellen Krebsdiagnose verhageln lassen, anstatt einfach fröhlich grinsend zu akzeptieren, dass der Tod gar nicht so ne schlechte Option ist? Wer sollte denn dann noch die Straße fegen? Unsere Pakete mit nem Knieschaden in den dritten Stock schleppen? Unsere T-Shirts nähen und sich dabei mit Lauge die Hände, Lungen und Augen verätzen? Nee, nee, das geht natürlich nicht. Also hat man sich was Feines einfallen lassen.“
Ich zwinkere ihm zu.
„Selbstmord wurde zur Sünde erklärt. Clever, was?“
Stumm betrachten wir die ausgebreiteten Werkzeuge vor uns. Pinzetten unterschiedlicher Größe, Scheren, ein Skalpell, eine kleine Säge, Hygienetücher und Watte.
Dazu verschiedene Chemikalien. Desinfektionsmittel, Verdickungspulver und eine Menge Formaldehyd. Ich nehme ein Fläschchen in die Hand.
„Das, Lurch, ist das Zeug, was die Amerikaner benutzen. Ich kann mich an so ein junges Hippiepaar erinnern. Mitte zwanzig und auf Findungstripp ausgerechnet durch den mittleren Westen.“ Ich schüttele den Kopf.
„Dummerweise schläft er irgendwann ein. Prallt frontal mit einem dieser riesigen Trucks zusammen. Tragisch. Ich sags mal so, als die beiden in ihren improvisierten, eingeschweißten Plastiksargtüten bei uns ankamen, hatte ich echt Schiss. Nicht unbedingt wegen des Anblicks. Nee, mittlerweile steck ich so was eigentlich meistens ganz gut weg. Der Geruch ist das, was mich aus der Fassung bringt. Ich steh also da, die Schere in der Hand und mache mich darauf gefasst, trotz Mundschutz gleich mit dem Odem zweiwöchiger Verwesung konfrontiert zu werden. Ich schneide den ersten Sack auf. Und … nichts. Kein Geruch. Formaldehyd heißt das Zauberwort. Eigentlich klar. Die Amis, die ja noch mehr auf Äußerlichkeiten gehen als unsereiner, ziehen das dann natürlich auch bis zum Ende durch."
Ich stelle das Fläschchen beiseite und greife nach Pinzette und Watte.
"Ist wirklich beeindruckend, Lurch. Stell dir die entstelltesten Leichen vor. Schusswunden im Gesicht, halbseitig verbrannt, kein einziger heiler Knochen mehr im Leib, solche Sachen eben. Jetzt bringen die es in den Staaten aber fertig, dich so zurecht zu schminken, dass sich im Anschluss deine ganze weinende Familie am offenen Sarg staunend fragen kann, warum du so unglaublich vital aussiehst. Rouge auf den Wangen, Schminke im Gesicht, eventuelle Löcher mit Wachs modelliert und den kompletten Körper vollgepumpt … hiermit.“ Ich tippe gegen das Formaldehyd.
„Natur – null, Bestatter – eins. Zumindest für den Moment.“
Lurch hat mir geduldig zugehört. Jetzt blickt er mich mit seinen milchigen Augen erwartungsvoll an. So, als wolle er sagen:
„Lass endlich knacken, Bruder."
„Na dann, gehen wirs also an.“
Neulich hab ich in einem Artikel gelesen, dass man ab dreißig im Grunde keine neuen Freundschaften mehr schließt, sondern nur noch bereits Bestehende verwaltet. Verwaltet. Was für ein zynisches Autorenarschloch das wohl geschrieben hat? Inhaltlich muss ich jedenfalls widersprechen. Aber fangen wir besser von vorne an.
Hatten Sie schon mal mit städtischen Bestattern zu tun? Nein? Glück gehabt. Das sind nämlich in der Regel nicht diejenigen, die mit hübschen schwarzen Limousinen vorfahren, um in gut sitzenden Anzügen und mit andächtiger Miene ihre Großmutter auf dem letzten Weg zu begleiten. Nein, diese Typen rücken an, wenn keine Kohle da ist, keine Angehörigen sich kümmern, Obdachlose steif gefroren unter Brücken entdeckt werden oder Junkies sich aus nichtigen Gründen gegenseitig abstechen. Ein bisschen wie die Müllabfuhr. Traurig, aber wahr.
Der Umgang mit diesem Kundenstamm ist jedenfalls ein grundlegend anderer, als sagen wir, mit dem altehrwürdigen und unzweifelhaft liquiderem Familienpatriarchen.
Ab und an geht so eine Leiche sogar mal verloren. Das fällt nur eben nicht auf, weil a) niemand ein Interesse daran hat, so was zu melden und b) kein Schwein den Toten vermisst. Ehrlich gesagt, passiert das sogar erschreckend oft. Meist bei weiblichen Leichen zwischen zwanzig und sechzig Jahren. Sie können sich vermutlich schon denken, warum. Was soll ich sagen? Menschen sind kranke Schweine. Und weil man als Bestatter wirklich miserabel bezahlt wird, hat sich über die Jahre ein unschöner Geschäftszweig etabliert. Sie würden ja nicht glauben, was manche Leute bereit sind, für eine Leiche zu zahlen.
Was das jetzt mit Freundschaften zu tun hat? Sehen Sie, Lurch ist so ein verloren gegangener Toter. Hat sich an einer der alten Bahnhofsbrücken am Stadtrand aufgehängt. Keine Papiere. Keine Angehörigen, von denen wir wussten, ja nicht mal ein Name. In besseren Zeiten hätte so was vermutlich intensive polizeiliche Ermittlungen nach sich gezogen. Aber sie wissen ja selbst, was zur Zeit los ist. Da macht für irgendnen abgerissenen Tramp kein Mensch mehr nen Finger krumm.
Also hab ich meinem Kollegen die üblichen zwanzig Prozent in die Hand gedrückt, Lurch in meinen klapprigen Wagen gesetzt, ihn angeschnallt und bin in meine schimmelige Wohnung gefahren. Weil wir Sommer haben und sich Hitze mit totem Fleisch nun mal nicht verträgt, musste ich mich ein wenig ranhalten.
Lurch sitzt mir gegenüber. Draußen beginnt es zu dämmern und wir rauchen. Beziehungsweise rauche ich. Lurch begnügt sich mit einer glimmenden Zigarette zwischen seinen kalten Lippen. Es war ein wilder Ritt, aber ich bin zufrieden. Ich erspare Ihnen die Details. Sagen wir nur, dass ich Lurchs Nase und Rachen mit Watte und Verdickungspulver versiegelt, einige wirklich unappetitliche Dinge mit seinen Organen angestellt und den Körper mit Unmengen Formaldehyd vollgepumpt habe. Schminke und Rouge habe ich ihm erspart. Ein geschminkter Lurch wäre albern. Das Ergebnis kann sich jedenfalls sehen lassen. In meinem Anzug, die Beine lässig übereinandergeschlagen und mit der Zigarette im Mundwinkel macht er echt was her. Ich bin gut in dem, was ich tue, aber dieses Mal … würde sagen, meine mit Abstand beste Arbeit bisher. Auch wenn das Jackett an Armen und Beinen zu kurz ist. Lurch sieht aus, als ob er gleich aufstehen würde, um sich aus dem Kühlschrank eine Cola zu besorgen.
Ich schneide ihm die langen Fingernägel, wasche und kämme sein Haar. Nach hinten mit ein wenig Haarwasser darin. Ja, ich bin zufrieden.
„Wirklich schmuck siehste aus, Kumpel.“
Ich greife nach meiner Jacke und bringe die Mülltüten nach unten. Der glitschige Inhalt sieht genauso aus, wie es gelegentlich auf dem Flur riecht. Nach Innereien. Aber ich mache mir keine Sorgen wegen der Nachbarn. Die paar, die überhaupt noch in diesem zerfallenden Block leben, haben andere Sorgen, als die Untiefen der riesigen Mülltonnen im Hof auf verdächtiges Gekröse zu untersuchen.
Auf dem Weg beschließe ich, dem Käufer noch nicht Bescheid zu geben. Lurch kann ruhig noch ein paar Tage bei mir bleiben. Warum auch nicht? Hab nichts weiter vor und Besuch, der sich an seiner Anwesenheit stören würde, erwarte ich auch nicht. Außerdem ists mal ganz schön, nicht ständig alleine in der Wohnung rumzusitzen. Vergnügt pfeife ich vor mich hin, während ich im Supermarkt billiges Bier in eine Plastiktüte stopfe.
„Oh good. For a moment there, I thought we were in trouble.“
„Fuego!“ RATATATATA. „Fuego!“ RATATATATA.
Butch Cassidy and the Sundance Kid. Ein echter Western-Klassiker. Ich hab den Eindruck, dass auch Lurch begeistert ist. Seine Augen strahlen so was aus.
„Das Ende bei dem Film kriegt mich jedes Mal.“ Ich schüttele den Kopf und nehme einen Schluck Bier. Mittlerweile sind wir auf das Dach umgezogen. Sitzen auf Klappstühlen und betrachten die Lichter der Stadt.
„Die besten Geschichten sind doch ohnehin die über Freundschaft, meinst du nicht auch? Thelma und Louise? Eine Wahnsinnsstory.“ Ich zünde uns beiden die Zigaretten an und mach mir noch ein Bier auf.
„Wusstest du, dass Stan Laurel wochenlang kein Wort gesagt hat, nachdem Oliver Hardy gestorben ist? Kein Wort! Dem hats einfach die Sprache verschlagen. Oder nehmen wir Marx und Engels. Ich weiß, ist nicht das erste Freundschaftspaar, das einem einfällt, aber denk mal drüber nach. Ich würd mich zu der steilen These hinreißen lassen, dass die beiden ohne den jeweils anderen nicht mal die Hälfte von dem geschafft hätten, was Sie schlussendlich alles geschrieben haben. Und das war ne Menge! Neben dem ganzen politischen Kram haben die vermutlich auch einfach den Spaß ihres Lebens zusammen gehabt.
Das ist auch das, was uns heutzutage fehlt, weißt du? Wo gibt’s denn das noch? Echte Freundschaft? Nicht dieses elendige Jeder für Sich-Gequatsche. Nee, Zusammenhalt, Rücksicht ...“
Ich verliere den Faden. Vermutlich hat das viele Bier was damit zu tun.
„Na ja, was ich dir jedenfalls sagen will Lurch. Ist wirklich gut, dich kennengelernt zu haben.“
Die Lichter der Stadt spiegeln sich in Lurchs Augen.
Ein paar Tage später sitze ich angespannt am Küchentisch. Lurch hat es sich im Sessel bequem gemacht, die langen Beine lässig übereinandergeschlagen. Vor mir liegt das Telefon. Der Käufer hat gerade angerufen. War ja nur eine Frage der Zeit. Wollte wissen, wie es denn nun mit seiner Bestellung aussieht. Jetzt ist er auf dem Weg hierher.
Ich erkläre Lurch, dass es schon nicht so schlimm werden wird. Versuche, meine Unruhe vor ihm zu verbergen.
„Wahrscheinlich wird er dich einfach nur tagein, tagaus darüber vollquatschen, wie er zu seinem verdammten Vermögen gekommen ist."
Mein Grinsen misslingt mir.
Lurchs Augen sagen: „Alles cool, Bruder. Mach dir um mich keine Sorgen.“
Ich mache mir aber Sorgen. Schließlich kenne ich den Typen. Habe ihm schon mal wen verkauft. Ein reicher Wichser mit besten Kontakten in Regierungskreise und einem eindeutig, fragwürdigen Sex-Fetisch. Dieser Blick, den er dem Letzten bei der Abholung zugeworfen hat? Will mir gar nicht vorstellen, was er mit Lurch alles vorhat.
Man sagt, man solle Berufliches und Privates nicht vermischen. Alles, nur das nicht. Tja, zu spät. Der Käufer wird sauer sein. Lurch und ich sitzen im Auto und fahren eine Landstraße entlang. Haben nichts mitgenommen außer ein paar Bier, Zigaretten und natürlich das Geld. Kein Vermögen, das nicht, aber immerhin soviel, dass er es ohne Zweifel persönlich nehmen wird. Schließlich hatte er mir die Kohle im Vorhinein gegeben und steht jetzt ziemlich blöd da.
„Weißt du, ihm tuts ja finanziell nicht mal weh. Aber die Reichen sind da wohl ein bisschen eigen, wenns um Geld geht. Ist vermutlich son Prinzipiending. Und du bist ja immerhin auch weg. Na ja, besser ist jedenfalls, wenn er uns nicht in die Finger kriegt. Sonst komm ich aus der Nummer unter gebrochenen Beinen wohl nicht mehr raus.“
Ich habe dem Kunden eine Nachricht hinterlassen. Einen Zettel an meiner Wohnungstür. Mit dem Hinweis, dass der Deal geplatzt ist und er sich ficken soll. Und dass ich nicht davor zurückschrecken werde, der Presse zu stecken, dass er ein krankes nekrophiles Schwein ist, wenn er uns nicht in Ruhe lässt. Wenn ich so darüber nachdenke, wird ihn spätestens das wohl dazu bringen, nach mir suchen zu lassen.
„Warst du schon mal am Meer, Lurch? Glaub mir, wird dir gefallen.“
Wir parken am Strand. Es ist unruhig. Der Wind geht und es regnet. Ich sitze auf der Motorhaube. Lurch liegt neben mir, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Wir rauchen, ignorieren den Regen und betrachten schweigend die Brandung.
Irgendwann sehe ich mehrere Männer langsam auf uns zukommen. Sie tragen lange Mäntel und haben die Hände in ihren Taschen.
„Siehst du ihn? Ist er dabei? Nein?“
Ich beginne zu grinsen.
„For a moment there, I thought we were in trouble.“
Ich klopfe Lurch auf die Schulter. Dann gehe ich den Männern entgegen.