- Beitritt
- 31.01.2016
- Beiträge
- 2.217
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 20
Löcher, in die Frauen fallen
Vor dem Bild eines expressionistischen Malers bleibe ich länger stehen und betrachte es, indem ich den Kopf mal zur einen, dann zur anderen Seite neige. Es ist ein kleines Format. Rot und Schwarz dominieren. Auch Grün, Blau und Gelb spielen mit ein, entwickeln eine energetische Wirkung. Doch was mich an diesem Gemälde fesselt, ist ein weißer Kreis inmitten der zentralen Person. Nicht ganz rund, eher ein Oval. Es scheint nicht zur Kleidung zu gehören. Es ist ein weißes Nichts. Ich habe das Gefühl, gezogen zu werden.
Ich verliere mich, nichts, woran ich mich halten kann. Nur eine Leere und ein Sog. Ich beuge mich leicht nach vorn und empfinde ein Schwindelgefühl, etwas schnürt an meinem Hals, ich spüre mein Herz dort, wie es sich gepresst anfühlt, als würden es kräftige Hände umschließen und zusammendrücken. Ich ziehe an dem schwarzen Rollkragen meines Pullovers und stehe regungslos, atme schnell, als wäre ich sehr schnell eine Kurzstrecke gerannt. Der Zustand dauert nur einen Augenblick. Niemand nimmt Notiz von mir.
Als ich mich gefangen, mein Herz wieder einen erträglichen Rhythmus und eine entsprechende Weite hat, laufe ich eilig zum Ausgang des Museums.
An der Garderobe blicke ich in den Spiegel. Ich sehe mich an, als hätte ich mich nie zuvor gesehen. Dort steht eine fremde Frau. Es kommt mir vor, als sähe ich zum ersten Mal das Gesamtbild. Nicht nur die Augenbrauen, die ich morgens nachziehe, den Schwung der Lippen, die ich konturiere, die Hautunebenheiten, die ich mit Make-up überdecke, die gefärbten Haare, die ich sorgfältig frisiere. Ich sehe das Gesicht einer alternden Frau, die schlaffen Augenlider, die Falten zwischen Nase und Mund, die fahle Haut, selbst die Farbe meiner Augen ist mir fremd. In diesem Moment verkleinert sich mein Sichtfeld.
„Es geht schon wieder", höre ich mich sagen und nippe am Wasserglas. Ich sitze im Museumscafé und werde umringt von Personal. Ein Gast hat mich vor der Garderobenausgabe liegend aufgefunden und ins Café begleitet.
„Möchten Sie, dass Sie jemand abholt?", fragt eine ältere Frau mit weißen Haaren und tätschelt dabei meine freie Hand.
„Vielen Dank. Ich hab's nicht weit nach Hause" und versuche ein Lächeln, bringe aber vermutlich nur eine Grimasse zustande, denn die Wärme ihrer Hand brennt auf meiner und ich ziehe sie ruckartig weg.
Als das Interesse an mir nachgelassen hat, verlasse ich das Museum und gehe zurück an meinen Arbeitsplatz. Ich besitze eine kleine Galerie, die ich von meinem Vater übernommen habe.
Auf dem Foto ist Mutter etwa so alt wie ich jetzt. Vierzig oder einundvierzig. Sie trägt dieselben Ohrringe wie an dem sehr heißen Tag im August, als ich sie fand. Ich war sechs und die Erinnerung an diesen Nachmittag kommt im Laufe der Jahre nur langsam zurück. Ich erinnere mich an das bleiche Gesicht meiner Mutter in der Badewanne, die Augen geschlossen, die Arme über den Beckenrand hängend, der Kopf zur Seite gelegt. Als schliefe sie. Sie trägt nur einen Ohrring. Er ist aus gold und die Perle, die daran hängt, ruht in der kleinen Mulde, zwischen Hals und Schlüsselbein. Den anderen fanden sie in der Wanne nachdem sie fortgetragen wurde. Die goldenen Hänger liegen jetzt in meiner Schublade. Das herablaufende Blut nahm ich erst wahr, als Vater mich aus dem Badezimmer zerrte.
Die kleine Glocke an der Eingangstür holt mich aus meinen Gedanken und ich stelle den Rahmen zurück auf den Schreibtisch.
„Hallo Anja." Mit ausgestreckten Armen kommt mir Vater entgegen. „Wie geht es dir?" Ich greife seine Handgelenke und drücke sie langsam hinunter, blicke ihm stattdessen in die Augen.
„Es geht schon." Er reibt sich den Knöchel seiner linken Hand und sieht sich um.
„Wieso hast du es aufgehängt?", fragt er. Ich muss nicht aufsehen, um zu wissen, wovon er spricht. Es ist ein Landschaftsbild. Impressionistisch, belanglos. Weder Licht noch Farben beeindrucken. Vermutlich hat sie deshalb das weiße Loch gemalt. Es ist nicht groß, auch nicht zentral, aber nicht zu ignorieren.
Ich nehme die kleine Pistole aus der Schublade, sie liegt direkt neben den Ohrringen und stecke sie in meine Manteltasche. Das tue ich aus reiner Gewohnheit. Ich gehe nie ohne sie aus. Sie ist klein und hat einen Griff aus Perlmutt. Ich fühle mich sicherer, wenn ich sie spüre.
„Es ist das schlechteste Bild, das sie je gemalt hat", nörgelt er, „und dabei waren etliche nicht gut." Er hat sie sicher immer schon spüren lassen, was er von ihren Arbeiten hielt. Und sie war zu intelligent, um ihre Mittelmäßigkeit nicht zu erkennen.
Wir betreten den Gehweg und ich schließe hinter uns ab.
Der Vater winkt dem Kellner und bestellt noch Kaffee für uns beide.
„Livia ist für zwei Wochen bei Friedrich. Die beiden verbringen die Ferien gemeinsam im Sommerhaus. Wenn du Lust hast, komm' mich doch in der Zeit besuchen", sagt er wohl wissend, wie ungern ich das Haus betrete seit Livia es nach Mutters Tod eingenommen hatte.
„Anja, das ist alles so lange her. Kannst du nicht endlich einen Schlussstrich ziehen?", fragt er und seine Stimme klingt ungeduldig. Er greift nach meiner Hand, doch ich entziehe sie ihm, kann es nicht ertragen, dass er mich berührt. War das eigentlich schon immer so? Konnte ich jemals seine Nähe aushalten? Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Er kommt gar nicht vor in den schwachen Bildern meiner Kindheit.
„Wann ist denn Schluss?", erwidere ich und sehe an ihm vorbei an die Wand. Er ignoriert es. Wie er wohl Vieles im Leben ignoriert und fährt stattdessen fort, sich aus der Verantwortung zu ziehen.
„Die Internate hast du doch aber selbst zu verantworten", flüstert er und ich möchte genauso wenig wie er immer und immer wieder darüber reden. Livia hat meine Gegenwart von Anfang an nicht ertragen und als Friedrich unterwegs war, sorgte Vater dafür, dass sie das auch nicht länger musste. Das erste Internat war im Nachhinein gar nicht übel. Danach verschwimmt alles in grau. Gedanken an diese Zeit legen sich um mein Herz wie ein schwarzes Tuch.
Ich war verloren. Von Beginn an.
„Ich bin verloren, Vater." Er hebt den Arm und verlangt die Rechnung.
„Was gibt es noch zu sagen, Alan? - Gut. - Ja. Um halb acht. Einverstanden."
Ich stecke das Telefon in die Handtasche zurück. Alan hat mich vor einer Woche gegen eine andere Frau ausgetauscht. Wir waren nur knapp ein Jahr ein Paar, wohnten nicht einmal zusammen, deshalb war es ein kurzer, schmerzhafter Prozess.
Sie ist jünger als ich. Viel jünger. Beinahe ein Kind. Sie sprüht vor Lebenslust. Sie weiß von nichts. Ihr Weg schien glatt bis hierher. Man sieht es ihr an. Sie geht, ohne zu wissen wohin. Sie fürchtet sich nicht. Nicht zu stolpern, nicht zu fallen. Sie geht schnell.
Aus reiner Gewohnheit mache ich mich zurecht. Ich sehe keinen Sinn darin, ihn zu treffen, aber Alan wird nicht müde, zu betonen, wie unglücklich er ist.
Unfassbar. Er ist in der Lage, mich abzuservieren und sich auch noch zu beklagen.
Alan sitzt schon am Platz im Restaurant als ich auf ihn zukomme, steht auf und begrüßt mich, indem er meine Wange küsst. Ich nehme ihm gegenüber Platz. Er sieht hässlich aus. Wieso fällt mir das erst jetzt auf?
„Du siehst sehr schön aus", sagt er verlegen. „Ich wünschte, wir hätten eine Lösung finden können", beginnt er überstürzt und theatralisch.
„Für welches Problem?" Ich verstehe nicht, was er meint.
Alan stößt Luft aus der Nase. „Anja, Raissa ist nicht der Grund, weshalb es mit uns nicht klappt. Du weißt das genau!"
„Zur Kränkung schiebst du noch Schuld hinterher? Ich bin nicht gekommen, um mich beleidigen zu lassen." Ich bleibe ruhig. Ich bin großartig darin, so zu tun als ob.
„Ich wünschte, du würdest es verstehen", sagt er niedergeschlagen und nippt am Wein, wobei er die Unterlippe vorschiebt. Jetzt sieht er auch noch dumm aus.
Wir schweigen. „Deine Unnahbarkeit, deine Verschwiegenheit ... Ich komme nicht an dich heran." Er imitiert einen Verzweifelten.
„Du möchtest die Absolution? Ich erteile sie dir. So etwas passiert. Belassen wir es dabei." Ich sehe auf die Tischdecke. Die gestickten Kreise darauf ziehe ich mit dem Finger nach. Es beruhigt mich, etwas zu tun.
„Anja", versucht er es erneut, " ich hätte sehr gerne mit dir gelebt." Er greift nach meiner Hand. Deswegen zeichne ich das Muster schneller nach. Mein Atem beschleunigt sich und ich stehe auf, das Glas fällt um, der rote Wein verursacht einen Fleck. Mein Blick verfängt sich daran, es fällt mir schwer ihn abzuwenden.
Die Stille um mich wabert wie eine weiche, weiße Masse. Ein weißes Nichts, das alles überdeckt, das mir die Luft nimmt. Ich klammere mich an den Griff meiner Pistole, in meiner Jackentasche. So stehe ich vor ihm und er sieht mich an, als würde er mich zum ersten mal sehen. Dann fällt ein Schuss.
Das Restaurant ist gefüllt mit Sanitätern und Polizisten, als man mich bedrängt. Die Waffe halte ich immer noch fest umklammert. Wie es scheint, habe ich auf ihn geschossen. Jemand versorgt seine Hand. Er beachtet mich nicht. Ich bin Luft, kann mich nicht bewegen, stehe wie unter einem Glas.
Eine junge Polizistin ist aufgelöst. Ihre Stimme klingt gedämpft: „Wieso hat sie das getan? Ich kenne sie. Beide. Er ist der neue Freund meiner Schwester."
Sie weint. Ein Kollege stützt sie, redet auf sie ein.
„Hoffentlich lernt Ihre Schwester über die Löcher zu springen, die sich vor ihr noch öffnen werden", flüstere ich und bin nicht sicher, ob sie mich verstanden hat.