- Beitritt
- 02.01.2002
- Beiträge
- 2.436
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 17
Kyrie eleison
"Du bist reingegangen, stimmt's?"
Ich nickte und wischte mir über das Gesicht. Die Tränen klebten an meinen Wangen. Wahrscheinlich sah ich völlig verheult aus. Aber es war mir egal. Ich hätte kotzen können, so schlecht fühlte ich mich.
Karin nahm mich in den Arm und drückte mich. Es tat gut, sie bei mir zu haben. Allein ihre Nähe wirkte beruhigend auf mich und ich hatte das Gefühl, dass jemand für mich da war und sich um mich kümmerte.
Vorsichtig strich sie mir ein paar Strähnen aus der Stirn, die sich aus meinem verstrubbelten Zopf gelöst hatten.
"Wenn du drüber reden willst ...", sagte sie leise und warf mir einen vielsagenden Blick zu. Ich zögerte, dann nickte ich. "Du musst nicht, wenn du nicht magst", fügte sie hinzu als sie sah, wie mir erneut Tränen in die Augen stiegen.
"Nein, ist schon gut", murmelte ich, während ich ein zerknülltes Taschentuch hervorkramte. "Ich will ja drüber reden. Ich glaub, ich muss es sogar."
"Ist gut, Süße", meinte Karin, erleichtert, wie mir schien, und küsste mich auf die Wange. Ich war gerührt von ihrer Anteilnahme, ich fühlte mich nicht mehr ganz so dreckig und benutzt wie vorhin.
"War sowieso eine Scheißidee, da hinzugehen", brachte ich undeutlich hervor als ich mir die Nase putzte. "Hätte wissen müssen, dass es zu früh ist."
"Nein, mach dir keine Vorwürfe", beeilte sich Karin zu sagen und drückte mich nochmal an sich. "Das war schon ganz richtig. Und es war unglaublich mutig von dir."
Ich schnaubte. "Was ist daran mutig? Ich habs gerademal geschafft ein paar verdammte Minuten zu bleiben, ich, ich ...-" Ich brach ab, weil ich das Schluchzen, das in meiner Kehle hochgestiegen war, nicht mehr zurückhalten konnte. Karin streichelte mir unentwegt den Rücken bis ich mich wieder soweit beruhigte, dass ich weitersprechen konnte.
"Ich hatte mir mehr erhofft", gab ich schließlich zu. Ich sah meiner Freundin direkt in die Augen. "Ich dachte, ich geh hin und ... und danach ..."
"... und danach ist es vorbei, oder?"
Ich nickte. Karin schüttelte den Kopf.
"Das geht nicht so schnell. Das weißt du selber. Dass du es soweit gewagt hast ist schon eine ganz großer Schritt, wirklich. Mensch, die letzten Jahre hättest du dich das bestimmt nicht getraut, oder?"
Ich verneinte. Natürlich hatte Karin Recht, ich wusste selber, dass es mit dem heutigen Tag niemals vorbei gewesen wäre. Trotzdem tat es weh zu realisieren, wie sehr mich alles wieder verletzt hatte. Ich verdrängte den Gedanken wie es jetzt wohl weitergehen würde, wann ich den nächsten Schritt wagen würde. Heute konnte ich darüber nicht mehr nachdenken. Heute nicht mehr.
"Es war nur, weil ich mich heute ganz gut fühlte", fing ich mit leiser Stimme an. "Dachte, heute könnte es klappen. War irgendwie ein guter Tag bis dahin und ich wusste, ich könnt's schaffen."
"Ich weiß, Süße, ich weiß", flüsterte Karin und rückte eng an mich heran. "Sag einfach was du willst, ich hör dir zu."
Ich schniefte, nickte, fuhr mit dem Taschentuch nochmal über meiner Nase und fuhr dann fort:
"Ich hab's schon vor ein paar Tagen beschlossen, ich wollte es einfach probieren. Als ich heute Morgen aufstand fühlte ich mich okay, ich dachte, so schlimm wirds schon nicht werden. Irgendwann muss ich es wagen, jetzt oder nie, wenn schon denn schon, und all so 'ne Scheiße. Weißt schon." Ich räusperte mich, mein Hals war wie ausgetrocknet. "Bin dann heute Nachmittag los als meine Mutter zur Arbeit weg war. Ich hab das Fahrrad genommen und bin erst etwas in der Gegend rumgefahren ... so zur Ablenkung. Irgendwann hab ich dann den Weg zur Kirche eingeschlagen." Einen Moment lang stockte ich in meiner Erzählung und musste mich sammeln. Karin hatte sich halb hinter mich gesetzt und die Arme um mich geschlungen. Es tat mir unendlich gut, sie so nah bei mir zu haben. Ohne sie wäre ich durchgedreht.
"Ich hatte gehofft dass niemand da war und Glück gehabt in der Hinsicht. War keiner da. Keine Fahrräder draußen außer meinem, alles ruhig, keine Kinder, niemand. Klar, drinnen hätte jemand sein können, aber die Hauptsache war, dass niemand draußen herumlief und mich beobachten würde, oder so. Dann hätte ich mich nie reingetraut, soviel steht fest." Ich zog die Nase hoch. "Ich hab das Rad abgeschlossen und bin zur Tür gegangen. Irgendwie ist mir ziemlich schwindelig geworden. Ich hab eine Weile davorgestanden und mich gefragt: Was machst du überhaupt hier? Ich hab mich so verrückt gefühlt, ich wollte nur noch weg. Und hatte gleichzeitig totale Angst davor umzudrehen und abzuhauen. Irgendwie war ich nämlich ... stolz auf mich ..." Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Nicht schon wieder weinen, beschwor ich mich innerlich.
"Du hast auch allen Grund, stolz zu sein", hörte ich Karin neben mir. Ihr warmer Atem kitzelte mein Ohr. Ein angenehmes Kribbeln. Dankbar ergriff ich ihre Hand.
"Ja, ich weiß schon. Deswegen bin ich dann ja auch nicht zurück. Nicht direkt Ich stand bestimmt ein paar Minuten lang einfach nur so da und hab die Tür angestarrt. Ich bin echt froh, dass keiner vorbeikam, sonst wäre ich garantiert abgehauen. Es war auch so schon ... schwer genug.
Irgendwann hab ich mich dann gelöst und bin reingegangen. Einfach so." Unwillkürlich schloss ich meine Augen während ich sprach. "Die Tür hat geqietscht beim Öffnen. So wie damals. Im ersten Moment wollte ich wegrennen, aber das kam mir dann doch albern vor. Alle Türen quietschen hin und wieder, das kenn ich auch von anderswo her. Ich bin also nicht umgekehrt. Ich bin rein und ... und dann war erstmal alles dunkel."
Kurze Pause, durchatmen. Zurücklehnen.
"Ich blieb ein bisschen im Vorraum stehen und lauschte, ob ich irgendjemanden reden höre. Es war aber alles still. Zum Glück. Mir wurde erst jetzt klar, wie sehr ich mich vor einem Beobachter gefürchtet hatte." Eine Träne rann mir aus dem Augenwinkel und Karin griff nach dem Taschentuch um sie abzuswischen, aber ich wehrte ihre Hand sanft ab. Keine Störung jetzt, keine Unterbrechung. Sonst brachte ich es nie zuende. Ich spürte den salzigen Tropfen auf meinen Lippen. Mechanisch leckte ich ihn ab. Meine Augen starrten ins Leere und meine Stimme klang erschreckend hohl, als ich fortfuhr.
"Ich hatte echt Dusel, dass keiner da war, sonst sind doch meistens immer ein paar alte Frauen in der Kirche, oder? Auch wenn keine Messe ist. Ich hab jedenfalls das Weihwasserbecken gesehen und überlegt ob ich etwas davon nehmen soll." Ich gab einen verächtlichen Laut von mir. "Wie lächerlich. Gar nichts hab ich davon genommen. Stattdessen ... stattdessen bin ich geradewegs hin zu den Bänken."
Weiterreden, nicht aufhören.
"Vielleicht hätte ich mich erst umsehen sollen, an alles gewöhnen, alles mit mehr Muße angehen - aber ich wusste, wenn ich zu lange da herumstehe, schaff ichs nicht weiter. Also bin ich einfach hinmarschiert."
Weiter.
"Einfach - hinmarschiert. Direkt zur Bank. Ich hab mich nochmal umgeguckt ob außer mir niemand da ist und dann ... wollte ich mich hinsetzen."
Nicht weinen, alles wird gut. Du schaffst das.
Ich biss so mir stark auf die Lippen, dass sie schmerzten. "Dann ging alles furchtbar schnell. Ich, ich hab auf einmal so ein Rauschen gehört. Ganz laut und ich weiß nicht woher. Es, es hat sich alles gedreht. Überall roch in den Weihrauch. Mein Kopf tat weh, mir wurde schwindelig - ich hab Bilder gesehen." Ich schluchzte trocken auf. "Überall waren diese verdammten Bilder. Ich hab mich gesehen - mich. Ich ... - scheiße."
"Ganz ruhig ...", hörte ich Karins Stimme wie aus weiter Ferne. Ich meinte ihre Hand auf meinem Haar zu spüren, aber ich war mir nicht sicher - ich sah nur noch die Bilder vor mir.
"Ich hab mich gesehen, mich, mich, in diesem gottverdammten weißen Kommunionskleid. Ich weiß noch genau wie scheißstolz ich darauf war es tragen zu dürfen und hab mich gefühlt wie ... - wie ... - wie eine Prinzessin." Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. "Ich sollte Messdienerin werden und er sagte, er würde mir zeigen was für Gewänder man trägt. Ich dachte, vielleicht gibt es da noch andere Sachen außer denen, die die Kinder immer in der Messe getragen haben, vielleicht bekomme ich ein schöneres Kleid, so eines wie ich gerade trug. Ich bin mit ihm in die Sakristei und ... - scheiße, er hat mir jede Menge von diesen Klamotten gezeigt, alles mögliche. Und dann sollte ich sie anziehen."
Pause. Einmal tief durchatmen. Gleich hast du es geschafft.
"Ich sollte sie anziehen damit er sieht, ob ich genauso hübsch darin aussehe wie in meinem weißen Kommunionskleid. Mir gefielen die Kleider nicht, rote Umhänge, alles etwas schmutzig - aber er sagte, ich sähe aus wie ... wie ein Engel und mir würden sie ganz bestimmt stehen." Ein Würgen stieg in mir hoch. "Und ich solle mich nicht schämen vor ihm auszuziehen, das sei ganz normal und dafür würde er mir auch etwas Schönes zeigen."
Oh Gott.
"Ich wusste, dass Mama und Papa ja auch oft dabei waren wenn ich mich umzog, und der Pastor ist ein besonders netter Mann, hatte Mama immer gesagt. Einmal war er bei uns zum Abendessen zuhause, da hab ich ihm mein Zimmer gezeigt ... er war sehr lieb zu mir, schenkte mir ab und zu etwas. Den anderen Kindern auch, aber mich ... - mich schien er noch mehr zu mögen als sie. Also hab ich mir nichts dabei gedacht. Ich ... hab mich ausgezogen. Vor ihm."
Ich muss kotzen.
"Und dann kam er an und ... er sagte er hilft mir, weil das Kleid so kompliziert zum ausziehen sei. Er hat's mir über den Kopf gezogen und ... hat mich die ganze Zeit dabei angesehen." Ich konnte nicht mehr, alles drehte sich. "Er hat mich angesehen, er hat gesagt wie wunderschön ich aussähe, wie ein Engel, ja wirklich. Ich meinte, dass meine Mama mich manchmal Engel nannte und er lachte. Ja, da habe meine Mama Recht, meinte er. Und dann sagte er, Engel seien etwas ganze Besonderes und jetzt wolle er mir auch mal etwas zeigen, weil er mich so gerne habe."
Oh Gott, scheiße, oh mein Gott.
"Er ... scheiße, verdammt, er hat dann sein ... - ich weiß nicht wie es heißt, sein Ornat abgelegt und hatte darunter so ein Hemd und das fing er dann auch an aufzuknöpfen ..." Ich sah nichts mehr, ich war blind vor Tränen, alles tat furchtbar weh. "Als er dann seine Hose auszog sagte er, ich solle ihm dabei helfen. Er habe mir ja auch geholfen bei meinem Kleid und ich sei sein kleiner Engel und dürfe alles bei ihm machen ..."
"Lass gut sein, du brauchst nicht weiterzureden."
Karins Stimme klang heiser und ich sah undeutlich durch meinen Tränenschleier wie sie sich die Augen abwischte. Ich weinte jetzt hemmunsglos, mein Körper wurde wie von Krämpfen geschüttelt, ich ließ mich in ihre Arme fallen.
"Er durfte mich nicht Engel nennen, das durfte nur meine Mama", stieß ich heulend hervor. "Er hatte kein verdammtes Recht dazu, mir das anzutun. Ich hasse ihn, ich hasse sie alle, er hat .. er hat mir wehgetan und das durfte er nicht ..."
"Ich weiß, Kleines, ich weiß ...", raunte Karin. Unablässig strich sie mir über Kopf und Rücken, wiegte mich hin und her wie ein kleines Kind, das ich in diesem Moment wieder war. Ich weinte und weinte und wusste nicht, ob ich jemals wieder aufhören würde.