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19.04.2017
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Kyra

„Ich bin ein Gott! Ich gebe Leben und ich nehme Leben, so wie ich es will!“ Tim lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und blickte nun Johanna an. Klein, mollig und mit einem Pickel an ihrem Kinn, seine Assistentin sah heute so langweilig aus wie immer. Aber eine treue Seele und einer seiner besten Kritiker. „Warum kann ich sie nicht sterben lassen?“
„Die Leute werden sie lieben, sie ist eine leidenschaftliche Kämpferin, intelligent und hübsch, aber eigensinnig, geheimnisvoll und seelisch zerbrechlich. Du hast sie wunderbar angelegt und eingeführt. Wenn Du sie jetzt so sterben lässt, dann legt die Hälfte der Leute das Buch an genau dieser Stelle weg. Sie kann das Gegengewicht zu Louis sein, die „Partnerin-im-Geiste“ von Mr. Kortas,“ wobei Johanna die Gänsefüßchen in die Luft zeichnete, „und ja, meinetwegen springt noch eine Sexszene dabei heraus.“
Und damit war Johanna, ohne es zu wissen, schon ziemlich nahe an der Ursache von Kyras Tod. Kyra war eine desertierte Soldatin der Leibgarde von Mr. Kortas. Sie war eine gläubige Anhängerin von „Kortas Prinzipien“, aber sie hatte in Ihrer Dienstzeit zu viel gesehen das sie nicht mehr akzeptieren wollte und hat sich bei einem Einsatz in der Megacity Chian von der Truppe gelöst. Seitdem stand sie auf sowohl der Todesliste des Roten Kartells wie der der lokalen Armee und natürlich weit oben auf der von Mr. Kortas. Lediglich ein Mann war in allen drei (und noch ein paar weiteren) vor ihr platziert: Louis Boreaux, genannt „Lubox“. Agent seiner Majestät Theresia, Herrscherin der freien Welt, Verteidigerin des Glaubens und Tochter des Lichts. Lubox hatte Kyra bei Ihrer Flucht aus der Leibgarde geholfen, natürlich nicht ohne einen Hintergedanken. Kyra kannte Mr. Kortas Angewohnheiten, seine Häuser und seine Fluchtwege. Nachdem Kyra in Sicherheit war und Lubox all das anvertraut hatte, hätten sich ihre Wege trennen sollen. Jedoch kam ein Spion der Chian Armee Kyra auf die Spur, als sie auf dem Weg zu einem weiteren Treffen mit Lubox war. Der Spion hatte Lubox mit einem Schuss aus der Entfernung töten wollen, traf jedoch Kyra und wurde danach selbst von Lubox getötet. In der Folge würde Lubox von Mr. Kortas für einen weiteren Toten verantwortlich gemacht werden, nämlich für Kyra, seine heilige Kriegerin, für die er schon immer eine kleine heimliche Schwäche hatte. Das würde die ohnehin schon miserablen Beziehungen zwischen dem Kaiserreich Neoasia, in dem Chian lag, und dem Bund der freien Länder unter ihrer Exzellenz Theresia weiter verschlechtern. Aber Lubox würde dann, erst als Doppelagent und dann sozusagen als Trippelagent, für eine Art Revolution in Chian sorgen und dann… weiter war Tim mit seinem Plot noch nicht gekommen. Aber es würde großartig, episch, ja geradezu opulent und bahnbrechend werden: „Lubox III“, der letzte Band und (möglicherweise) Abschluss der sagenhaften Trilogie über den unwahrscheinlichen Agenten seiner Majestät…
„Hallo, jemand zu Hause?“ Johanna schnipste mit Ihren Fingern vor Tims Augen.
„Jajaja, was ist denn?“, der wieder aus seinen Träumen auftauchte.
„Kyras Tod, das geht so nicht. Das habe ich Dir jetzt schon zweimal gesagt und ich bleibe dabei. Du solltest Sie nicht umbringen, im Gegenteil: gib Louis zum Abschied ein bisschen Liebe. Er hat es verdient.“ Damit legte sie ihm ihren Ausdruck von „Kortas Krieg“, das war der Arbeitstitel für das Manuskript, auf den Schreibtisch.
Als Tim nichts weiter sagte, rollte sie mit den Augen, ging in Richtung Küchenzeile und wollte sich einen Joghurt-Shake aus dem Kühlschrank holen. Tim sah ihr nach und sagte schließlich: „Sie muss sterben, sie, sie… passt nicht so recht, denke ich.“
Johanna öffnete die Kühlschranktür und griff hinein. Mit einem Seufzer, der entweder davon kam, dass sie sich zu dem Shake hinunterbeugen oder dass sie Tims widersprechen musste, sagte sie: „Normalerweise würde ich sagen: ‚Dann mach sie passend!‘, aber sie ist schon perfekt. Darum kannst Du sie jetzt auch nicht sterben lassen. Aber das ist natürlich nur meine Meinung. Du bist der Autor.“ Damit ließ sie die Kühlschranktür zuklappen und öffnete den Joghurt-Shake. „Denkst Du an das Radiointerview morgen früh? Ich hole Dich um halb sechs ab, das Interview ist um halb sieben. Zweimal fünf Minuten zu Lubox II, dem Verkauf der Filmrechte und Ausblick auf Lubox III. Willst Du sonst noch etwas loswerden?“
„Neinnein, alles gut, blablabla wie immer. Aber Kyra bleibt!“
Johanna blinzelte überrascht mit den Augen: „Bleibt? Gerade eben hast Du noch…“
„Ähh, ich meine, ihr Tod bleibt, verstehst Du? Sie bleibt… tot. Ok?“ Tim sah Johanna mit einem Blick an, den sie lange nicht mehr gesehen hatte: er war unsicher. Diesen Ausdruck kannte sie nur aus der Zeit, als sie gerade angefangen hatte für Tim zu arbeiten, eine Zeit vor dem unglaublichen Erfolg von Lubox. Mit der Arbeit an Lubox hatte Tim sich verändert, war sicherer geworden mit seinen Ideen, verfolgte unorthodoxe Wege konsequent und risikofreudig. Der Erfolg hatte ihm Recht gegeben, was ihn natürlich bestärkt hatte. Aber jetzt dieser Blick… Während sie das dachte, kramte Johanna in Ihrer Handtasche nach ihrem Autoschlüssel.
„Gut“, sagte sie schließlich und ging mit Schlüssel, Handtasche und Shake in den Händen zur Tür. Sie hoffte, dass Tim morgen wieder normal sein würde. Jetzt war sie zu müde, um hier weiter nachzufragen. Und vielleicht war sie sowieso nicht die richtige Ansprechpartnerin. „Also dann bis morgen. Versuch noch ein bisschen zu schlafen.“
„Jo, werde ich. Bis morgen“, erwiderte Tim. Aber vielleicht auch nicht, dachte er. Es war ein langer Tag gewesen, Tim hatte ein langes Interview mit einem Professor für Datenverarbeitung und Netzwerktechnik, um die Technik in Lubox‘ Welt besser beschreiben zu können. Daraufhin musste er ein paar Ideen in das Manuskript einbringen und vorhandene Passagen editiert, bis schließlich Johanna gekommen war, um die Pressearbeit zu machen: welche Reaktionen hatte es gegeben, worauf möchte er antworten und welche Termine stehen in Zukunft an.
Jetzt endlich war er allein und konnte sich den Personen der Geschichte widmen, seinen Personen. Da war natürlich allen voran Louis „Lubox“ Boreaux, der großmäulige, gewitzte und gutaussehende Held der Geschichte. Er war spätestens seit dem Anfang von Lubox II vollständig entwickelt, als herauskam, wer seine Eltern waren und warum er im Dienst ihrer Majestät steht. Dann Mr. Kortas, der mächtige Mann aus der Unterwelt, dem Tim nach Belieben weitere Bosheiten andichtete. Nicht alle davon waren wahr, aber das war egal. Mr. Kortas Leben war umgeben von Mythen, Legenden und Halbwahrheiten, das machte ihn so fabelhaft für seine Jünger und so unberechenbar für seine Gegner. Ihre Majestät Theresia, die elegante, zierliche Tochter des ersten Sekretärs und nun selbst Sekretär des Bundes der freien Länder. Auch sie arbeitete mit Halbwahrheiten, aber natürlich nur zum Wohle ihres Volkes. Ihr Charakter war der einer hart arbeitenden, unnachgiebigen Powerfrau, die nur ab und an Probleme damit hat zu unterscheiden, ob sie etwas zum Wohle des Volkes oder zu ihrem eigenen tat. Und ein Haufen weiterer mehr oder weniger interessanter Typen, Charaktere und Statisten, die sich auf den Straßen von Lubox‘ Welt herumtrieben: der Weinhändler seines Vertrauens, sein Kommandant, zwei Freunde aus seiner alten Einheit, die Leute aus der Leibgarde von Mr. Kortas und so weiter und so fort. Und: Kyra!
Als Tim Kyra erfunden hatte, hatte er keine echte Person als Vorlage. Nur eine Fantasie, einen Traum, den er seit seiner Jugend hatte: dunkle Haare, grüne Augen, die Figur eines Engels, nur ohne Flügel, und eine Stimme, die nicht hoch, aber rein und klar war. Sie war ihm eingefallen, als er nach einer Motivation für Lubox suchte, wieder nach Chian zu gehen und Kortas Krieg anzuzetteln. Er hatte sich dann zwar für eine Mischung aus Finte und Befehl von Theresia entschieden, aber Kyra war in seinem Kopf geblieben. Nach und nach hatte er, neben seiner Arbeit an „Kortas Krieg“, zuerst eine Background Story für Kyra geschrieben, dann ihre Vergangenheit detailliert und schließlich ihr ein Leben gegeben, das so ausführlich war wie das von Lubox. Ohne dass sie in „Kortas Krieg“ überhaupt vorgesehen war. Eine behütete Kindheit in einem Vorort von Chian, das damals noch New Shanghai hieß. Ihre Eltern waren im Baugewerbe, ihr Vater als Projektleiter, ihre Mutter als Innenarchitektin. Kyras Schwester Bena, ihr Hund Antop, ihre Straße, ihre Schule, ihre Universität, all das erschien Tim so, als würde er es in einem Fotoalbum sehen. Kyras Atem, ihr Blick, selbst ihr Geruch war für Tim nicht nur ein Gedanke, sie waren so real wie von jeder anderen Person. Nur anfassen konnte er sie nicht. Aber sie war da. Sobald er an sie dachte stand sie da und sah ihn an, wartend, fordernd, erwartungsvoll. Manchmal schrieb er nur ein paar Zeilen, dachte mehr an sie, als an den Text. An anderen Tagen schrieb er in kurzer Zeit drei oder vier Seiten darüber, wie Kyra durch einen Park ging, einen gemütlichen Abend verbrachte oder was sie in der Universität gemacht hatte. Dann hatte er angefangen, mit Ihr zu sprechen, schrieb Dialoge darüber wie es Kyra ging, was sie fühlte und was ihr Spaß machte. Er lernte sie kennen wie eine neue Freundin, die nach und nach ihre Gefühle, Erinnerungen und Hoffnungen offenbart. Und schließlich hatte er mir Ihr geschlafen. Auf fünf, acht, manchmal zehn Seiten beschrieb er, wie er sie liebte und wie sie ihn liebte, was sie spürte, wann sie zweifelte und zagte, was sie erregte und wie wohl sie sich in seinen Armen fühlte.
Nein, er würde Kyra nicht diesem Lubox geben, diesem dahergelaufenen Helden, der zugegebenermaßen einmal die Welt direkt und ein weiteres Mal indirekt gerettet hatte. Aber wie! Wenn Tim es nicht selbst geschrieben hätte, er hätte die Bücher lachend in die Ecke geschmissen. Dieser vorlaute Pistolenschwinger und Intrigant, dem Menschenleben so wenig wert sind, sobald sie auf der falschen Seite stehen. Wobei „falsch“ ein dehnbarer Begriff ist. Nein, Lubox nicht, der ist Kyra nicht wert. Und auch alle anderen in Lubox‘ Welt sind nichts als schmutzige, unwichtige, unfertige Abziehbildchen von Männern, egal ob adlig, reich oder erleuchtet. Nein, Kyra würde nicht in diesem Dreck leben müssen.
In einem schwachen Moment, als sein Verleger Harry, Johanna und unzählige Fans ihn bereits mehrfach nach einer Fortsetzung für Lubox gefragt hatten, hatte er es jedoch zugelassen, dass die Texte über Kyra in Lubox einflossen. Sie lagen ja schon da und er musste Harry irgendetwas geben. So kam Kyra in die Welt von Lubox. Von nun an erhellte sie alle Nächte in denen sie Dienst tat, sie war der Beweis, dass es sich auch in Neoasia lohnte zu glauben, zu hoffen und zu beten. Sie war ein Licht, das in Chian strahlte, bis sie in Mr. Kortas Leibgarde beordert worden war. Dann wurde es dunkel und Tim wurde wütend auf Chian, Mr. Kortas und diesen dummen Lubox, der nicht begriff, wer Kyra wirklich war, wer sie wieder sein würde, wenn er sie nur endlich retten würde. Als er dies schrieb war Tim manchmal schweißgebadet vom Schreibtisch aufgeschreckt, weil er den Monitor angeschrien hatte. An anderen Tagen war er weinend davor eingeschlafen, weil er immer noch keinen Weg gefunden hatte, Kyra zu retten. Nicht nur aus der Leibgarde von Mr. Kortas, sondern aus diesem ganzen kalten, technoiden, ungnädigen Neoasia.
Bis ihm schließlich der Tod als Ausweg eingefallen war: schnell, ohne viele Schmerzen und unschuldig, so würde Kyra gehen können. Und fortan wieder in Tims Gedanken und Geschichten auftauchen können, losgelöst von allem Ballast. Denn: was heißt schon „Tod“ in einer Geschichte? Kugeln verfehlen ja auch mal lebenswichtige Organe, die Atmung kann dabei auf Grund des Schocks ein bisschen aussetzen und schon wird man von allen für tot gehalten. Schließlich braucht Tim ja lose Fäden für Lubox IV.
„Ich bin ein Gott“, sagte sich Tim jetzt wieder leise und schmunzelnd, „ich nehme Leben und ich gebe Leben. Adieu Kyra!“

 

Hallo jmuelle4,

das ist wirklich ein interessantes Thema, das du dir herausgesucht hast. Viele Leute, die selber schreiben, können Tims Überlegungen gewiss nachvollziehen. Auch deinen Stil finde ich wirklich gut. Sehr gelungen finde ich auch, wie du im letzten Absatz den ersten Absatz wieder aufgreifst und dadurch den Kreis schließt.

Doch nun zu den Problemen mit dem Text. Zunächst einmal: Wozu brauchst du Johanna? Sie bestimmt die erste Hälfte der Geschichte, dient wohl als Kritikerin für Tim und trägt sogar die Perspektive. Doch auf einmal ist sie weg, und Tim übernimmt die Perspektive. Diesen Bruch in der Erzählstruktur ist meiner Ansicht nach ziemlich störend, vor allem, weil der zweite Teil der Geschichte ein einziger innerer Monolog ist.

Ferner steigst du ziemlich tief in den Plot von Lubox ein. Dadurch gerät der Konflikt, den Tim auszutragen hat, oft in den Hintergrund. Ich habe die Zeilen nicht abgezählt, habe aber den Eindruck, die Hälfte der Geschichte ist eine Zusammenfassung von Lubox. So stellt sich die Frage, ob du den Plot von Lubox oder Tims Konflikt in den Mittelpunkt stellen willst. Zwei Mittelpunkte parallel verträgt aber eine Kurzgeschichte normalerweise nicht. Du solltest dich entscheiden: Welche Geschichte möchtest du erzählen? Viele Details zu Lubox sind vollkommen unwichtig, wenn es darum geht, Tims Konflikt zu verstehen.

Schließlich bezweifle ich, dass das Thema für Nicht-Schreiber von Interesse ist. Wer gerne Science-Fiction liest (oder wohl eher Fantasy), wird mit den Konflikten eines Autors wohl wenig anfangen können. Insofern ist deine Leserschaft zwangsläufig begrenzt. Hier in diesem Forum bist du damit natürlich goldrichtig.

Gruß
Notker

 

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