Mitglied
- Beitritt
- 21.04.2016
- Beiträge
- 6
Kurzgeschichten aus Himmelriss: Die gesteinigte Hexe
Die ersten Regentropfen fielen gen Boden, als der Pöbel auf dem Marktplatz unruhiger wurde. Ihre Drohungen und Flüche galten der schwarzhaarigen Frau, welche bis zu dem Oberkörper in der Erde eingegraben wurde. Ihr Blick war zum Boden gerichtet und immer wieder zuckte sie zusammen, als die Stimmen lauter wurden. Doch sie sagte nichts.
Ein älterer Mann in weißgoldener Montur tänzelte um die Frau, während er sich immer wieder der Masse zuwandte. Freudig verkündete er: „Bewohner der Grafschaft Wolkenbruch! Wir haben uns heute hier versammelt, um über das Schicksal dieser Frau zu entscheiden!“
Lächelnd deutete er auf den herausragenden Kopf der Frau, worauf die Flüche des Pöbels wieder lauter wurden. Vereinzelt flogen Essensreste und Steine in ihre Richtung, ein besonders hart geworfener Stein traf sie an der Stirn und sorgte für eine Platzwunde. Dennoch verließ kein Schmerzensschrei ihre Lippen.
Beruhigend senkte der ältere Mann seine Hand, worauf auch die Stimmung der Bewohner zumindest etwas abebbte. Dann packte er der Frau an den Hinterkopf, um ihr Gesicht besser den Menschen zu präsentieren. „Diese Frau hat es gewagt, über die Götter zu lästern, indem sie die verbotene Kunst der Magie ausübte – Und das, obwohl eben jene Magie dafür sorgte, dass wir mit dem Fluch der Götter gestraft wurden!“
Nun deutete der Mann auf den tiefgrauen Himmel, welcher sein Handzeichen mit einem zuckenden Blitz beantwortete. Die Menge tobte vor Wut, wieder flogen Unrat und Steine auf die Frau zu.
„Seit einer gefühlten Ewigkeit befinden wir uns schon unter dieser Wolkendecke“, fuhr der Mann fort, wobei er von der Frau abließ, um nicht auch das Ziel der Meute zu werden. „Wann habt ihr das letzte Mal die Sonne gesehen? Wann das letzte Mal ihre Wärme gespürt? Unsere Kinder und Enkel halten sie für kaum noch mehr als ein Märchen, und das nur wegen Abschaum wie dieser Frau!“
Die Menschen mussten sich gegenseitig zurückhalten, um die Frau nicht jetzt schon mit den großen Steinen zu bewerfen. Jedoch wurden die Forderungen der Masse immer deutlicher:
„Tötet sie!“
„Bringt sie um!“
„Erschlagt ihre ganze Familie!“
Auch dies rang der Frau keinerlei Reaktion ab. Erneut sank ihr Kopf lautlos nach vorne, ihr Blick fixierte sich auf die paar Steinchen, die direkt vor ihrer Nase lagen. Selbst, als ein weiterer Stein ihren Schädel traf, sprach sie nichts.
Zufrieden blickte der Mann zur Frau hinab, ehe er sie erneut der Masse präsentierte und laut fragte: „Was sollen wir mit ihr machen?“
„Tötet Sie!“
„Was sollen wir machen?“
„TÖTEN!“
„Und wie machen wir das?!“
„STEINIGEN!“
„NEIN!“
Spontan verstummte der Pöbel, als ein junges Mädchen mit schwarzen Haaren schreiend zu der halb zugeschaufelten Frau rannte und sich an dieser klammerte. Zum ersten Mal regten sich die Augen der Frau leicht und ihre Pupillen wurden größer, als sie die kleinen Hände des Mädchens an ihrem Hals spürte.
„Was machst du da?“, fragte ein korpulenter Mann aus dem Pöbel. „Das ist eine Hexe!“
„DAS ist meine Mama!“, schrie das Mädchen heulend und drückte sich noch fester an dieser. „Was hat sie denn euch getan?!“
Nun beugte sich der ältere Mann in der weißgoldenen Rüstung hinab, ehe er dem Mädchen ruhig zusprach: „Deine Mutter wurde gesehen, wie sie einen Zauber aussprach.“
Das Mädchen zuckte zusammen. „Was...?“
„Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen!“ Ein weiterer Mann mit lauter Stimme mischte sich in das Gespräch ein und deutete dabei abwertend auf die angebliche Hexe. „Sie hat in Zungen geredet, als sie am Fluss die Wäsche wusch! Bevor ich wusste, was geschah, flog eine leuchtende Kugel quer über den Horizont und explodierte in der Ferne. Es war ein Zauber, und sie hat ihn gewirkt!“
Wütend keifte das junge Mädchen den Mann an: „Mama ist stumm! Seitdem Papa sie verlassen hat, hat sie kein einziges Wort mehr gesagt! Wie soll sie da einen Zauberspruch sagen, hä?!“
Leicht verwirrt schauten sich die Menschen der Meute untereinander an. „Ja, sie hat wirklich noch nichts gesagt…“
„Das ist komisch…“
„Aber sie ist doch eine Hexe…?“
„Was für ein Ziegenmist!“ Nun deutete der laute Mann bedrohlich auf das Mädchen. „Du bist bestimmt auch eine Hexe und versuchst, deine Hexenmutter zu retten!“
Das Mädchen schüttelte heftig ihren Kopf. „Ich bin keine Hexe! Und meine Mama auch nicht!“
„Erzähl doch keinen Scheiß!“, brüllte der Mann und trampelte auf das Mädchen zu. „Ich sollte dich gleich erledigen, du…!“
„Wartet.“
Der laute Mann stockte, als der ältere Mann in weißgoldener Kleidung wieder das Wort erhob. Überrascht fragte der laute Mann: „W-Wieso…?“
„Es gibt keinen Grund, sie sofort zu richten“, sprach der Mann in weißgoldener Montur und legte seine Hand auf die Schulter des Mädchens. „Zwar sind Kinder von Magienutzern anfälliger, ebenfalls den verdammten Künsten zu verfallen, jedoch kann dies nicht als handfester Beweis gegolten werden.“
Leicht begann das Mädchen zu lächeln, als sie die Worte des Mannes vernahm. Dennoch klammerte sie sich nur noch fester an ihrer Mutter, welche ihre Augen langsam schloss.
Verwirrung machte sich hingegen unter dem Pöbel breit. Einer rief schließlich: „Und wie können wir sichergehen, dass das Mädchen keine Hexe ist?“
„Ganz einfach“, meinte der ältere Mann und hielt dem Mädchen einen faustgroßen Stein hin. „Sie wird den ersten Stein werfen.“
Zu winzigen Punkten schrumpften die Pupillen des Mädchens, als sie die Worte des Mannes in weißgoldener Montur vernahm. Heulend wandte sie sich dem Mann zu und fragte ungläubig: „W-was?!“
„Eine Hexe kann eine andere Hexe nicht verletzen“, erklärte der ältere Mann, während er sich dem Pöbel wieder zuwandte. „Augenzeugen haben schon oft berichtet, wie einige Menschen bei Steinigungen ihre Steine warfen, diese jedoch ohne Effekt an der gesteinigten Person abprallten. Diese Menschen sind ebenfalls Magienutzer, welche unter den ehrlichen Bewohnern nicht auffallen wollen, aber auch ihren alten Komplizen Leid ersparen wollen.“
Die Menschen blickten sich zustimmend einander an.
„Ja, das macht Sinn…“
„Das klingt logisch…“
Das Mädchen hingegen wurde völlig bleich im Gesicht, die Tränen liefen wie Flüsse über ihr Gesicht. „Das… das ist doch-!“
„Es ist der einzige Weg, mein Mädchen!“ Wieder präsentierte der ältere Mann den faustgroßen Stein, gleichzeitig deutete er auf einen Fleck vor dem Pöbel. „Beweise uns, dass du keine Hexe bist. Wirf den Stein!“
„NEIN!“ Das Mädchen versank ihr Gesicht tief in die Brust ihrer Mutter.
Überrascht hoben sich die Augenbrauen des älteren Mannes. Langsam beugte er sich zu ihr herunter und flüsterte in ihr Ohr: „Bist du verrückt? Wenn du den Stein nicht wirfst, wirst du sterben!“
„Dann tötet mich halt“, keifte das Mädchen schluchzend. „Aber lasst meine Mama in Ruhe!“
Ratlos blickten sich die Menschen der Masse an.
„Wir können doch nicht…“
„Sie ist doch nur ein Kind…“
„Vielleicht liegen wir ja falsch…?“
„Kuhscheiße!“ Der laute Mann des Pöbels hatte genug. Fest schleuderte er einen größeren Stein und traf das Mädchen so hart auf dem Hinterkopf, das sie das Bewusstsein verlor und reglos gegen ihre Mutter lag. Blut floss aus Strömen über ihren Nacken und benetzte den matschigen Boden.
Fassungslos drehte sich der Pöbel zu dem Mann um. „Seid Ihr verrückt?!“
„Das sind Hexen“, rief der Mann, „alle beide! Wenn die hohen Pferde der Hauptstadt Wind davon bekommen, das wir zwei Hexen leben lassen, werden sie uns alle bestrafen!“
Nun wandten sich die Leute zu dem älteren Mann in der weißgoldenen Kleidung. Dieser nickte erst leicht, bevor er zugab: „Dieser Herr hat nicht unrecht. Lasst uns kein Risiko eingehen.“
„A-aber Ihr habt doch selbst gesagt-!“
„Das Mädchen will lieber mit der Mutter sterben, als ihr einen einzigen Stein entgegenzuwerfen“, meinte der ältere Mann, ehe er aus der Wurfbahn der Menschen verschwand. „Dies ist mehr als Beweis genug dafür, dass auch sie eine Hexe ist.“
Der vorher so Leute und hasserfüllte Pöbel murmelte unwohl vor sich hin. Schließlich erhob nach einer gefühlten Ewigkeit eine junge Frau das Wort: „Und was, wenn wir uns weigern, sie zu steinigen?“
„Dann werdet ihr als Komplizen der Hexen angesehen“, sprach der Mann in weißgoldener Montur unerwartet kalt. „Irgendwelche Fragen?“
Während des ganzen Tumultes starrten die seelenlosen Augen der eingegrabenen Frau auf ihr Kind. Fassungslos drückte sie immer wieder leicht mit ihrer Nase gegen den Kopf des Mädchens, doch keine Reaktion folgte. Sie spürte nicht einmal mehr den warmen Atem des Kindes auf ihrer Brust. Ein lauter Blitzeinschlag in der Nähe brachte ihr Gehör schließlich wieder zu den Menschen um sich.
„Bewohner von Wolkenbruch… zeigt diesen Hexen den Willen der Götter!“
Gerade hatte die Mutter ihren Kopf gehoben, da traf ein faustgroßer Stein ihre schon blutende Platzwunde. Sie biss ihre Zähne zusammen, doch immer mehr und mehr Steine flogen in ihre Richtung. Ihr eigener Schmerz war jedoch nicht das, was ihr die Sinne raubte – Stattdessen brannte sich der leblose Leib ihrer Tochter, welcher den geworfenen Steinen voller Wunden und Blutungen war, in ihre Augen ein.. Auch Versuche, das Kind mit Küssen zu wecken, blieben erfolglos.
Als ein weiterer Stein den Hinterkopf des Mädchens zertrümmerte, beugte sich die Mutter rasend auf.
„LASST MEINE TOCHTER IN-!“
Ihre Worte, so laut vor Zorn und Wut, wurden von einem weiteren, großen Stein gegen ihre Kehle abgewürgt. Ihre Augen wurden weiß, bevor sie bewusstlos nach hinten abklappte.
Stein um Stein schlug auf die leblosen Körper ein. Erst, als sie unter einen Haufen begraben wurden, hob der ältere Mann seine Hand, um die Würfe anzuhalten. Ein Bewohner nach dem anderen stoppte, bis auch der letzte Kiesel auf den Haufen fiel und Ruhe einkehrte.
„Bewohner von Wolkenbruch – Es ist vollbracht! Mögen die Götter uns gnädig sein!“
Obwohl der Regen stärker wurde, feierte der Pöbel die Hinrichtung mit lautem Applaus. Mit Gesang und Sprechchören verließen sie alle den Marktplatz, ohne auch nur einen Blick zurück auf den Steinhaufen zu richten, welcher jetzt den Platz zierte...
„Endlich ist diese verdammte Schnepfe weg.“
Zufrieden trat der laute Mann aus dem wütenden Mob die Tür eines Hauses ein. Die Nacht war eingetroffen, weshalb er eine kleine Laterne mit einer weißen Flamme vor sich hielt, um den Flur zu erkunden. Ein kleiner, verunsicherter Mann folgte ihm, welcher aufgeregt umherschaute.
„I-ist das wirklich eine gute Idee?“, fragte der kleine Mann. „D-du meintest doch, sie wäre eine Hexe!“
Der laute Mann lachte herzhaft auf. „Man, das war eine Lüge! Ich wollte sie nur einfach loswerden, ohne meine eigenen Hände schmutzig machen zu müssen.“
Aufgeregt schluckte der kleine Mann. „U-und jetzt?“
„Suchen wir ein paar Wertsachen“, meinte der laute Mann nur, während er die Treppen hinab in den Keller ging. „Angeblich war sie eine Bildhauerin, bevor ihr Mann zur Garde ging. Damit lässt sich bestimmt einiges verdienen.“
Auch die Kellertür gab erst mit einem beherzten Tritt nach – jedoch traf Ernüchterung bei dem lauten Mann ein, als er nicht viel mehr als einen Haufen von umgeworfenen und zerbrochenen Steinstatuen erblickte. „Was für ein Saustall“, murmelte er, während er in den Keller eintrat. „Die Alte kam wohl nicht ohne ihren Kerl klar.“
„M-mir gefällt es hier unten nicht“, wimmerte der kleine Mann.
„Jetzt scheiß dir nicht in die Hose“, fluchte der laute Mann und packte dem kleinen ans Schlafittchen. „Komm gefälligst mal runter oder ich verpfeife dich als Magier!“
Hastig nickte der kleine Mann, ehe er einfach von dem lauten fallen gelassen wurde und auf den morschen Holzboden landete. Einen Moment lang rieb er sich den Hintern, bevor er überrascht in die Ecke des Kellers blickte. „Hey, schau mal.“
„Was?“ Desinteressiert schwang der laute Mann seine Laterne in Richtung der Ecke – worauf sich in nur kurzer Zeit seine Pupillen vergrößerten.
Dort kniete sie: eine lebensgroße Statue der angeblichen Hexe, geformt aus grauem Stein. Die Kleidung, ihr Gesicht, ja selbst ihre Haare – jedes noch so kleine Detail wurde makellos dargestellt. Selbst einzelne Haarsträhnchen wurden perfekt gezeichnet und schienen sogar im schwachen Kellerwind zu wehen. Einzig ihre Kehle hat eine seltsame Abweichung in Form einer Narbe, welche schon eher einer Tätowierung ähnelte als einer schlecht verheilten Wunde.
„Die Frau mochte wohl sich selbst“, meinte der kleine Mann leise, während er zu dem lauten Mann ging.
„Und wenn schon“, meinte der laute Mann und hielt dabei die Laterne in das Gesicht des kleinen. „Das Ding ist ein Meisterwerk. Damit sichern wir uns einen Weg in die Hauptstadt!“
Die Hand des kleinen Mannes drückte vorsichtig die Laterne zur Seite, um nicht von dem Licht geblendet zu werden. „Und wie sollen wir das Teil transportieren? Das wiegt doch bestimmt eine halbe Tonne!“
„Das überlass mal fein mir“, meinte der laute Mann grinsend. „Ich hab einen Kumpel gefragt, ob wir seinen Karren-.“
Ein lauter Knall unterbrach die Worte des Mannes. Der kleine sprang sofort auf und zog sich zusammen, der laute hingegen blickte sich nur um.
„W-Was war das?!“, fragte der kleine Mann aufgeregt.
„Keine Ahnung“, murmelte der laute Mann, während er die Laterne erneut in Richtung der Statue hielt.
„Sie... sie ist weg?!“
„Wo kann sie denn bitte hin sein?!“
Ein weiterer Knall ertönte hinter den Männern. Aufgeschreckt drehten sie sich um.
Zwei Kopfgroße Felsen waren das letzte, was sie sahen, bevor sie erschlagen wurden.