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kurze Röcke
Im Nachhinein fragte sie sich immer wieder, ob es nicht vielleicht ihre Schuld gewesen war. Hatte sie ihm falsche Signale gegeben? Ihr Rock war kurz gewesen an jenem Abend. Zu kurz. Sie hatte sich ganz bewusst für ihn entschieden gehabt, um die Blicke auf sich zu ziehen. Wäre es nur bei Blicken geblieben.
In der Dunkelheit glaubte sie seine Stimme zu hören, rau und brüchig: „Komm schon Süße, du willst es doch auch, ich weiß es ganz genau!“ Sein Atem in ihrem Nacken. Sie wollte schreien. Aber da war niemand, der ihr helfen konnte.
Sie hatte mit ihrer besten Freundin in der Bahn gesessen und sich mit ihr unterhalten. Heute wusste sie nicht mehr, worüber sie geredet hatten, doch sie konnte sich erinnern, dass sie viel gelacht hatten bei ihrem Gespräch. Der Mann am Ende der Straßenbahn war ihr direkt aufgefallen. Muskulös und gutaussehend war er gewesen und er hatte sie die ganze Zeit beobachtet. Einmal hatte er sie sogar angelächelt und sie hatte freundlich zurück gelächelt. Besser hätte sie einfach weg gesehen.
Ihr Oberarm tat weh. Eine Raue Hand hatte sich darum gelegt, drückte zu. „Du willst es doch auch!“ Die andere Hand zog schmerzhaft an ihren Haaren. Sie wollte sich bewegen. Aber sie befand sie in einer Lage, aus der sie sich nicht befreien konnte.
An ihrer Haltestelle war sie ausgestiegen, hinaus in die Dunkelheit. Er hatte die Bahn ebenfalls verlassen und obwohl sie an der letzten Tür vorbei gegangen war, hatte er sich hinter ihr befunden. Jetzt wusste sie noch, wie sie sehr sie überlegt gehabt hatte, ob sie ihn ansprechen sollte. Doch dazu fehlte ihr der Mut. Mit dem kurzen Rock hatte sie bewirken wollen, dass die Männer sie ansprachen.
Ein Gewicht legte sich auf ihre Brust und sie hatte das Gefühl zu ersticken. Zitternd drehte sie sich um und schaltete ihre Nachttischlampe ein. Nur langsam wurde es heller, in ihrem kleinen Zimmer, dem einzigen Ort, der ihr noch Sicherheit vermittelte. Langsam atmete sie ein und aus. Alles war gut.
„Du siehst sehr schön aus!“, hatte plötzlich eine Stimme neben ihr gesagt. Leise und etwas höher, als sie es erwartet hatte. Überrascht hatte sie den Kopf gedreht und ihn an gelächelt.
„Danke“, hatte sie verschämt geflüstert. Bisher hatte man ihr gesagt, sie hätte einen geilen Arsch oder geile Titten oder geile sonst was, aber als „schön“ hatte sie noch keiner bezeichnet.
Still schweigend waren sie nebeneinander her gelaufen. In diesem Moment war es ihr nicht falsch vorgekommen, dass ein Fremder denselben Weg wie sie ging. Es schien richtig zu sein. Passend, perfekt, plausibel – irgendwie.
Sie fühlte sich schmutzig. Sie hatte geduscht. Oft geduscht, doch diese Art von Schmutz konnte man nicht einfach mit einer heißen Dusche und ein wenig Seife weg waschen. Er steckte tief in ihr, in ihrer Seele und in ihrem Kopf. In den Erinnerungen, die so mühsam zu verdrängen versuchte und sie doch wie ein nie enden wollender Albtraum.
Doch das was sie nachts vom Schlafen abhielt waren nicht der Schmutz und die Erinnerungen, nicht die blauen Flecken, die schon längst verblasst waren oder die Narben auf ihrer Seele. Was ihr am meisten zu schaffen machte war der kurze Rock, der noch immer auf dem Stuhl in der Ecke des Zimmers lag und sie jedes Mal, wenn sie ihn ansah anzuklagen schien: „Du hast mich doch ausgesucht, du hast ihn dazu aufgefordert.“
Sie war selbst schuld. Warum sollte sie jemandem davon erzählen?