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Kurze Erzählung über das Dasein im Niemandsland

Beitritt
19.06.2001
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Kurze Erzählung über das Dasein im Niemandsland

KURZE ERZÄHLUNG ÜBER DAS DASEIN IM NIEMANDSLAND

Noch weit unterhalb der Ebenen für die arme Bevölkerung im achtundneunzigsten Stockwerk von Moloch B-52, auf zwei Quadratmeter stinkenden Wohnraum beschränkt, führte Mister Reynard McShore ein überschaubares Leben zwischen Schlafen, Essen und Nichtstun. Wenn die giftigen Dämpfe und ätzenden Abgase draußen in den unendlich tiefen Straßenschluchten abschwächten, was selten bis nie vorkam, hatte er für einen kurzen Moment die willkommene Gelegenheit, sein Nichtstun zu unterbrechen und aus dem winzigen unzerstörbaren Fenster hinaus zu Moloch B-51 zu blicken, der gut eine halbe Meile entfernt war, jedoch das gesamte Sichtfeld McShores vereinahmte. Vor vielen Generationen hatten es die Menschen geschafft, in Jahrhunderte andauernden Bauarbeiten die stählernen Ungetüme gen dunklen Himmel zu wuchten und somit das größte Problem der damaligen Epoche eindrucksvoll zu bewältigen. Der Begriff ‚Überbevölkerung‘ war wohl nur noch wenigen Gelehrten geläufig, die oberhalb der Hell-Dunkel-Grenze in tempelähnlichen Anlagen an den Rändern der Molochs fest mit gigantischen Datennetzen verknüpft waren und stetig das Wissen vergangener Zeiten begierig in sich hineinsaugten. Irgendwann, ein paar Jahrzehnte nach dem letzten großen Krieg, verfiel die einst friedlich zusammenlebende Gesellschaft in eine neue postkapitalistische Form der Existenz, und bald darauf gab es nur noch Arme und Reiche. Und Menschen wie Reynard McShore.

Konzentriert starrte Mister Reynard McShore zu dem anderen Turm. Immer wieder wanderten seine blutunterlaufenen Augen nach oben, um die Spitze von B-51 zu erspähen. Giftwolken bildeten gut einen Kilometer über ihm eine undurchdringliche grüne Masse. Zwecklos. Hier unten wurde es draußen nur hell, wenn die Generatoren eingeschaltet wurden, und riesige Scheinwerfer mit einem mechanischen Summen eine Art Sonnenersatz für die Unbedeutendsten der Unbedeutenden fertigten. Dreiundzwanzig Stunden lang lieferte meistens eine zwanzig Zentimeter große Wachskerze die Quelle für schwaches Licht in McShores Wohnzelle. Die restlichen sechzig Minuten verbrachte Mister McShore in völliger Dunkelheit mit Schlafen und Essen. Meistens saß McShore auf dem schmalen Eisenbett und betrachtete seine verkrüppelten Finger. Früher hatte er weiter oben in großen Hallen mit einer eigenen Atmosphäre Stahlträger ausgefräst, die für den Bau von Moloch E-12 gedacht waren. Mister Reynard McShore stellte sich oft vor, wie die Erde in der jetzigen Zeit aussehen würde. Moloch an Moloch in Zweierreihe einmal um den Erdball herum? Was anderes gab es ja nicht mehr. Das hatte jedenfalls eine krächzende Stimme geschrien, die die stummen und gesichtslosen Wächter damals an seiner Wohnzelle vorbei zerrten. „Nichts ist mehr da.“, flüsterte McShore und sah wieder rüber zu B-51. Er hatte bis jetzt erst einmal einen dieser Wächter gesehen. So richtig gesehen. In schwarzes Leder gekleidete, hühnenhafte Wesen mit Masken über dem Gesicht, die nichts weiter als zwei dünne Schlitze für die Augen hatten. Ganz kurz nur, als die Klappe unten in der verriegelten Tür aufging, und eine neue Kerze ihm in den Raum geschoben wurde. Zufällig lag McShore damals auf dem Boden, um das Fieber mittels des kühlen Steinbodens abklingen zu lassen. Und da hatte er einen von ihnen gesehen. Nur ganz kurz. Aber es hatte gereicht, um einen ewig prägenden Eindruck zu hinterlassen. Seufzend registrierte McShore, dass der Nebel aus Abgasen und Dämpfen sich wieder verdichtete. Nach einigen Minuten erinnerten nur ab und zu kleine blinkende Lichter, dass da draußen ein weiterer Moloch war. Einer von vielen. Ob E-12 schon fertig war? Ihm fiel ein, dass er nicht mehr viele Streichhölzer hatte. Nur noch acht Stück. War schon wieder ein Monat vergangen? Einer von vielen? Eine Packung Streichhölzer beinhaltete vierzig Stück. Er hatte sich angewöhnt, den seit Jahrtausenden gebräuchlichen Kalenderrhythmus an die Streichhölzer anzupassen. Vierzig Stück, vierzig Tage, ein Monat. Vierhundertachtzig Stück, vierhundertachtzig Tage, ein Jahr. Mister Reynard McShore setzte sich auf das Eisenbett, blickte zur brennenden Wachskerze, und tat das, was er seit Jahren am besten konnte: Nichtstun.

In seinen Träumen träumte Mister Reynard McShore oft von seiner Kindheit, die er direkt unterhalb der Hell-Dunkel-Grenze verbracht hatte. Gemeinsam mit anderen Kindern, die so wie er nicht wußten, dass sie degeneriert waren und keine Chance auf eine bessere Zukunft besaßen, rannte er die endlos langen, spärlich beleuchteten Gänge von Moloch B-52 entlang.
„Hab dich, Rey!“, brüllte Owen Lowerten ihm ins Ohr und schlug mit der zusammengewachsenen Faust auf McShores Rücken.
Der junge Reynard McShore lachte und schrie zurück: „Na warte!“ Schnell rappelte er sich auf, wischte sich kurz den schimmernden Eisenstaub von seiner Hose und rannte den anderen wieder hinterher. „Ich erwisch euch!“

Automatisch öffnete Mister McShore seine Augen. Fünfundvierzig Minuten Schlaf. Fünfzehn Minuten Nahrungsaufnahme. Dreiundzwanzig Stunden Pflichterfüllung für diejenigen, die ganz oben in den Molochs ihr Leben lebten. Dreiundzwanzig Stunden Nichtstun für den Erhalt des Systems. „Guten Morgen, Reynard.“, sagte er leise zu sich selbst, holte tief Luft und stand auf. Es war stockfinster. Er machte genau drei Schritte nach links, streckte die Arme aus und spürte die Kälte der Stahltür. Langsam ging er in die Hocke. Mit seinen Händen suchte er nach der neuen Wachskerze und der Schale mit den zu kleinen Pillen gepreßten Nahrungskonzentraten. Doch anstatt wie gewohnt nach einer kurzen Suche beide Sachen mühsam mit seinen verkrüppelten Fingern aufzunehmen, fand er nichts. Nur kalten Stein und krankmachenden Schmutz. „Oh nein!“ Plötzlich bemerkte Mister Reynard McShore einen hellen Fleck, der mal stärker, mal schwächer wurde. Er stand auf, drehte sich um, sah zu dem kleinen unzerstörbaren Fenster und erstarrte vor Angst. Die Welt außerhalb seiner zwei Quadratmeter messenden Wohnzelle brannte. „Oh nein!“ Durch das winzige Fenster, durch Gase und Dämpfe hindurch, konnte er deutlich erkennen, dass Moloch B-51 in Flammen stand.

Er hatte nachgedacht. Er hatte überlegt. McShore hämmerte an die Tür, die ihn vom Rest der Welt trennte. Vergeblich. Weder hörte er Geräusche, und schon gar nicht hörte er Stimmen. Wieder und wieder schlug er mit seinen inzwischen blutenden Fäusten gegen den Stahl. Als das merkwürdige Ekel erregende, gleichzeitig erregende Geräusch den Zusammenbruch von Moloch B-51 verkündete, sackte Mister Reynard McShore erschöpft zusammen, schleppte sich zum Eisenbett und legte sich stöhnend auf selbiges. „Was passiert hier?“ Er verfiel in eine embryonale Haltung und schloss die Augen. Für ihn, der seit mehr als dreißig Jahren das Leben tief unten im Niemandsland von B-52 lebte, bedeutete das plötzliche Brennen von B-51 eine einzige Katastrophe. Wenn er brennt, dachte er, dann brennen auch wir. Mister Reynard McShore, geboren in den Wirren einer niedergeschlagenen Revolution, die mit als längst ausgestorbenen Viren den Umsturz erzwingen wollte, lag zitternd auf seinem langsam wärmer werdenden Eisenbett. Und je wärmer es wurde, um so mehr erinnerte McShore sich daran, wie er aus den großen Hallen, in denen er gearbeitet hatte, urplötzlich eines Tages von den Wächtern abgeführt wurde und dazu verdammt war, ein Leben weit unterhalb der Ebenen zu führen, die für die Armen gedacht waren. Vielmehr für die, die noch ärmer als die Armen waren. Für die, die nicht in das Bild der herrschenden Klasse passten.

„Ich hatte so etwas wie ein Leben.“, flüsterte er leise. Dann schloß er die Augen und schlief ein. Seit vielen Jahren das erste Mal schlief er länger als eine Stunde. Das Geräusch des Zusammenbruchs von B-51 war hilfreich. Irgendwie. Unergründlich. Mister Reynard McShore schlief ganze fünf Tage am Stück. Er wachte rechtzeitig wieder auf, um gerade noch den Stahlträger als Stahlträger zu identifizieren, bevor dieser ihn zermalmte. Bruchteile von Sekunden, die ihn vom Tod trennten, benutzte er dazu, sich an seine Kindheit zu erinnern, an sein kurzes Leben als Drohne einer sich selbst vernichtenden Gesellschaft, an sein Leben als überflüssiges Etwas in dem nun brennenden achtundneunzigsten Stockwerk von Moloch B-52.

ENDE

copyright by Poncher (SV)

29.01.2003

 

Hallo Poncher,

das ist eine beeindruckende Schilderung eines sich hoffentlich nicht als realistisch erweisenden Lebens, wenn man es denn so nennen kann. Interessant finde ich, wie Du den Protagonisten in eine Welt schickst, die ihm keine Würde lässt, Du ihm diese aber durch die Anrede `Mister´ wiedergibst.
Der letzte Satz hört sich komisch an:

(...) an sein Leben als überflüssiges Etwas in des nun brennenden achtundneunzigsten Stockwerks von Moloch B-52.
Genauer gesagt: den Genitiv bei `Stockwerk´ finde ich unglücklich. Besser wäre, meine ich: "... als überfl. Etwas in dem nun br. Stockwerk von Moloch B-52."

Auf bald,

tristhor

 

Hi Poncher,

Du hast eine bedrückende Endzeit-Stimmung erzeugt. Am Anfang hast Du allerdings ziemlich weit ausgeholt und ziemlich viel erklärt. Die eigentliche Handlung beginnt erst kurz vor Schluss. Da der Prot sein Zimmer offenbar nicht verlassen kann und es zudem praktisch leer ist, bleiben für eine Handlung allerdings auch nicht viele Möglichkeiten.

Sehr gut fand ich die eingeschobene Rückblende. Kursiv, Plusquamperfekt vermieden - genau richtig.

Ist es Zufall oder Absicht, dass der Moloch B-52 heißt, also genauso wie die amerikanischen Bomber im zweiten Weltkrieg? Falls es Absicht ist, würde mich interessieren, was Du Dir dabei gedacht hast ;)

Darüber, wie wahrscheinlich das beschriebene Szenario ist, könnte man sicher länger diskutieren. Es ist schon ziemlich stark überzeichnet, und entsprechend muss man es als sprachliches Mittel werten und nicht wörtlich nehmen. Die deutliche Sozialkritik in der Geschichte bleibt meiner Meinung nach relativ oberflächlich.

Fazit: Sprachlich mitreißend, inhaltlich interessantes Ambiente, aber am Anfang etwas zäh, da die eigentlich Handlung zu spät einsetzt.

Uwe

 
Zuletzt bearbeitet:

Die Stimmung ist in der Tat sehr düster, und ich bin überzeugt, dass die Menschheit vom natürlichen Gleichgewicht dezimiert oder ausgerottet wird, bevor es so weit kommt.
Die häufige Verwendung des "Mister Reynard McShore" soll sicher Distanz oder eine sarkastische Note in den Text bringen, macht das Lesen jedoch anstrengend.
Mir gingen ein paar Fragen durch den Kopf:
Wieso beträgt McShores Wachphase 23 Stunden? Wodurch verringert sich das Schlafbedürfnis der Menschheit so rapide? Und wozu?
Wieso kann er (als Degenerierter) zunächst arbeiten, wird dann aber in die "unteren Etagen" verbannt?
Als Kind spielte er mit anderen. Wieso werden bei Erwachsenen alle Sozialkontakte unterbunden?
Wieso Kerzenlicht? Ein einem solchen Moloch würde ich eher eine 5-Watt Glühbirne erwarten. Bzw, warum überhaupt die Energie verschwenden, für jemanden, der ohnehin nur nichts tuend in seiner Zelle dahin vegetiert. Er liest ja nicht einmal.

Was aus meiner Sicht der Kern der Story wäre: die Empfindungen des Reynard McShore angesichts seiner extremen Einsam- und Überflüssigkeit, bleiben außen vor oder sind nicht eindringlich genug geschildert.

Ein paar Fehler, die mir aufgefallen sind:

(..), in Jahrhunderte andauernden Bauarbeiten die stählernen Ungetüme gen dunklen Himmel zu wuchten, und somit das größte Problem der damaligen Epoche eindrucksvoll zu bewältigen.
Da hast du zwar einen ganz schönen Mamutsatz zusammengebaut, aber vor dem "und" kommt (soweit ich weiß) trotzdem kein Komma. ;)
(..), dass sie degeneriert und keine Chance auf eine bessere Zukunft besaßen, ..
hinter "degeneriert" müsste noch "waren" folgen?
..rannte er die endlos langen spärlich beleuchteten Gänge von Moloch B-52 entlang.
"..endlos langen, spärlich beleuchteten.."


Gruß :: lucutus

 

Hallo Poncher,

obwohl Du eine ziemlich bekannte Thematik aufgreifst, hat mir die Geschichte gefallen, weil sie durch Stil und Schluß eine andere Facette der Thematik, als die bekannten, beschreibt.
Einige Änderungsvorschläge: wenn sich die giftigen Dämpfe, oder - schwächer wurden; der Unbedeutenden; in Zweierreihen, oder - in einer Zweierreihe; dreiundzwanzig Stunden Nichtstun, hier unten, für; weder hörte er Geräusche und erst recht keine Stimmen (hörte- hörte vermeiden); merkwürdige, Ekel erregende (erregende doppelt); stöhnend darauf (auf´s Eisenbett).
McShore - toller Name, bei der Aussicht (schottische Sparvariante), in den Himmel zu wuchten - da mußte ich gleich an Speer- Architektur denken.

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

Hallo Forum! :D

Danke fürs Lesen. Fehler hoffentlich nun alle beseitigt. Ich muß zugeben, daß es mir beim Verfassen des Textes hauptsächlich um Sprache und Stil ging. Sicherlich sind rein inhaltlich gesehen einige Ungereimtheiten vorhanden, aber naja... An den B-52 Bomber hab ich nicht gedacht, nein. Aber witziger Gedanke. Warum die nun so einen Aufwand für einen eigentlich mehr als überflüssigen Jemand machen... ich weiß es nicht.

Gruß,

Poncher

@Ein-Seiten-Leser-und-Schreiber Wolto:

... (schottische Sparvariante) ...
Hehe!

 

Na, na, her Poncher,

// Hallo Forum! //

sollte sich da eine kleine sarkastische Note eingeschlichen haben? (musst du aber schon auf den Ursprung verweisen, damit alle mitlachen können :)

// Ich muß zugeben, daß es mir beim Verfassen des Textes hauptsächlich um Sprache und Stil ging. //

Das hast du auf jedenfall gut hingekriegt.

Gruß lucutus

 

Tut mir ehrlich leid- aber ich kann mit dieser Geschichte eigentlich nichts anfangen.
Der Handlung- so weit wie sie vorhanden ist- liegt in meinen Augen keine wirkliche Idee zu Grunde.
ODer hab ich da was übersehen?
Der Stil ist nett und leicht bedrückend, was ja wohl beabsichtigt war.
Aber ich würde mir von einer guten GEschichte- vor allem von einer SciFi Geschichte- etwas mehr, naja Originalität erwarten.
Und Spannung kam bei mir auch nicht gerade auf.
Dafür is die GEschichte finde ich auch zu kurz.
Naja is alles subjektiv, sollte vor jedem Satz ein "Ich finde, dass" stehen, aber was soll's.
Sorr- ey
Mattt

 

Moin!

Also ich hab kein Problem mit "negativer" Kritik. Allen kann man es als Autor auch gar nicht recht machen. Hier lag die Betonung, wie bereits von mir zugegeben, auf Sprache und Stilmittel, weniger auf Inhalt. Eine Idee, originell oder nicht, gab es allerdings.

Danke fürs Lesen.

Gruß,

Poncher

 
Zuletzt bearbeitet:

Bewertet nach Stil und Sprache, ist die Geschichte durchaus in Ordnung. erinnerte mich an irgendwas zwischen Bradbury und Sid Meiers Alpha Centauri.
Gewundert hat mich nur, dass der Protagonist in einer Zwei-Quadratmeter- Zelle lebt, und sich dann ins Eisenbett schleppen muss.
Viele Grüße,
para

 

Na klar...
:)
Ich finde es immer noch recht philosophisch und halte es für hervorragende Science Fiction.
:bla:

 

naja ..... der stil ist nicht schlecht. aber bei dem "drückende stimmung erzeugen" könntest du noch ein klein wenig zulegen. so richtig depressiv fand ich es nicht. mir war der aspekt der hilflosigkeit und eintönigkeit ein bisschen zu ....... unauffällig .....

aber ansonsten ist es ok.

in dem sinne,

The Angellus

 

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