- Beitritt
- 19.06.2001
- Beiträge
- 2.198
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Kurze Erzählung über das Dasein im Niemandsland
KURZE ERZÄHLUNG ÜBER DAS DASEIN IM NIEMANDSLAND
Noch weit unterhalb der Ebenen für die arme Bevölkerung im achtundneunzigsten Stockwerk von Moloch B-52, auf zwei Quadratmeter stinkenden Wohnraum beschränkt, führte Mister Reynard McShore ein überschaubares Leben zwischen Schlafen, Essen und Nichtstun. Wenn die giftigen Dämpfe und ätzenden Abgase draußen in den unendlich tiefen Straßenschluchten abschwächten, was selten bis nie vorkam, hatte er für einen kurzen Moment die willkommene Gelegenheit, sein Nichtstun zu unterbrechen und aus dem winzigen unzerstörbaren Fenster hinaus zu Moloch B-51 zu blicken, der gut eine halbe Meile entfernt war, jedoch das gesamte Sichtfeld McShores vereinahmte. Vor vielen Generationen hatten es die Menschen geschafft, in Jahrhunderte andauernden Bauarbeiten die stählernen Ungetüme gen dunklen Himmel zu wuchten und somit das größte Problem der damaligen Epoche eindrucksvoll zu bewältigen. Der Begriff ‚Überbevölkerung‘ war wohl nur noch wenigen Gelehrten geläufig, die oberhalb der Hell-Dunkel-Grenze in tempelähnlichen Anlagen an den Rändern der Molochs fest mit gigantischen Datennetzen verknüpft waren und stetig das Wissen vergangener Zeiten begierig in sich hineinsaugten. Irgendwann, ein paar Jahrzehnte nach dem letzten großen Krieg, verfiel die einst friedlich zusammenlebende Gesellschaft in eine neue postkapitalistische Form der Existenz, und bald darauf gab es nur noch Arme und Reiche. Und Menschen wie Reynard McShore.
Konzentriert starrte Mister Reynard McShore zu dem anderen Turm. Immer wieder wanderten seine blutunterlaufenen Augen nach oben, um die Spitze von B-51 zu erspähen. Giftwolken bildeten gut einen Kilometer über ihm eine undurchdringliche grüne Masse. Zwecklos. Hier unten wurde es draußen nur hell, wenn die Generatoren eingeschaltet wurden, und riesige Scheinwerfer mit einem mechanischen Summen eine Art Sonnenersatz für die Unbedeutendsten der Unbedeutenden fertigten. Dreiundzwanzig Stunden lang lieferte meistens eine zwanzig Zentimeter große Wachskerze die Quelle für schwaches Licht in McShores Wohnzelle. Die restlichen sechzig Minuten verbrachte Mister McShore in völliger Dunkelheit mit Schlafen und Essen. Meistens saß McShore auf dem schmalen Eisenbett und betrachtete seine verkrüppelten Finger. Früher hatte er weiter oben in großen Hallen mit einer eigenen Atmosphäre Stahlträger ausgefräst, die für den Bau von Moloch E-12 gedacht waren. Mister Reynard McShore stellte sich oft vor, wie die Erde in der jetzigen Zeit aussehen würde. Moloch an Moloch in Zweierreihe einmal um den Erdball herum? Was anderes gab es ja nicht mehr. Das hatte jedenfalls eine krächzende Stimme geschrien, die die stummen und gesichtslosen Wächter damals an seiner Wohnzelle vorbei zerrten. „Nichts ist mehr da.“, flüsterte McShore und sah wieder rüber zu B-51. Er hatte bis jetzt erst einmal einen dieser Wächter gesehen. So richtig gesehen. In schwarzes Leder gekleidete, hühnenhafte Wesen mit Masken über dem Gesicht, die nichts weiter als zwei dünne Schlitze für die Augen hatten. Ganz kurz nur, als die Klappe unten in der verriegelten Tür aufging, und eine neue Kerze ihm in den Raum geschoben wurde. Zufällig lag McShore damals auf dem Boden, um das Fieber mittels des kühlen Steinbodens abklingen zu lassen. Und da hatte er einen von ihnen gesehen. Nur ganz kurz. Aber es hatte gereicht, um einen ewig prägenden Eindruck zu hinterlassen. Seufzend registrierte McShore, dass der Nebel aus Abgasen und Dämpfen sich wieder verdichtete. Nach einigen Minuten erinnerten nur ab und zu kleine blinkende Lichter, dass da draußen ein weiterer Moloch war. Einer von vielen. Ob E-12 schon fertig war? Ihm fiel ein, dass er nicht mehr viele Streichhölzer hatte. Nur noch acht Stück. War schon wieder ein Monat vergangen? Einer von vielen? Eine Packung Streichhölzer beinhaltete vierzig Stück. Er hatte sich angewöhnt, den seit Jahrtausenden gebräuchlichen Kalenderrhythmus an die Streichhölzer anzupassen. Vierzig Stück, vierzig Tage, ein Monat. Vierhundertachtzig Stück, vierhundertachtzig Tage, ein Jahr. Mister Reynard McShore setzte sich auf das Eisenbett, blickte zur brennenden Wachskerze, und tat das, was er seit Jahren am besten konnte: Nichtstun.
In seinen Träumen träumte Mister Reynard McShore oft von seiner Kindheit, die er direkt unterhalb der Hell-Dunkel-Grenze verbracht hatte. Gemeinsam mit anderen Kindern, die so wie er nicht wußten, dass sie degeneriert waren und keine Chance auf eine bessere Zukunft besaßen, rannte er die endlos langen, spärlich beleuchteten Gänge von Moloch B-52 entlang.
„Hab dich, Rey!“, brüllte Owen Lowerten ihm ins Ohr und schlug mit der zusammengewachsenen Faust auf McShores Rücken.
Der junge Reynard McShore lachte und schrie zurück: „Na warte!“ Schnell rappelte er sich auf, wischte sich kurz den schimmernden Eisenstaub von seiner Hose und rannte den anderen wieder hinterher. „Ich erwisch euch!“
Automatisch öffnete Mister McShore seine Augen. Fünfundvierzig Minuten Schlaf. Fünfzehn Minuten Nahrungsaufnahme. Dreiundzwanzig Stunden Pflichterfüllung für diejenigen, die ganz oben in den Molochs ihr Leben lebten. Dreiundzwanzig Stunden Nichtstun für den Erhalt des Systems. „Guten Morgen, Reynard.“, sagte er leise zu sich selbst, holte tief Luft und stand auf. Es war stockfinster. Er machte genau drei Schritte nach links, streckte die Arme aus und spürte die Kälte der Stahltür. Langsam ging er in die Hocke. Mit seinen Händen suchte er nach der neuen Wachskerze und der Schale mit den zu kleinen Pillen gepreßten Nahrungskonzentraten. Doch anstatt wie gewohnt nach einer kurzen Suche beide Sachen mühsam mit seinen verkrüppelten Fingern aufzunehmen, fand er nichts. Nur kalten Stein und krankmachenden Schmutz. „Oh nein!“ Plötzlich bemerkte Mister Reynard McShore einen hellen Fleck, der mal stärker, mal schwächer wurde. Er stand auf, drehte sich um, sah zu dem kleinen unzerstörbaren Fenster und erstarrte vor Angst. Die Welt außerhalb seiner zwei Quadratmeter messenden Wohnzelle brannte. „Oh nein!“ Durch das winzige Fenster, durch Gase und Dämpfe hindurch, konnte er deutlich erkennen, dass Moloch B-51 in Flammen stand.
Er hatte nachgedacht. Er hatte überlegt. McShore hämmerte an die Tür, die ihn vom Rest der Welt trennte. Vergeblich. Weder hörte er Geräusche, und schon gar nicht hörte er Stimmen. Wieder und wieder schlug er mit seinen inzwischen blutenden Fäusten gegen den Stahl. Als das merkwürdige Ekel erregende, gleichzeitig erregende Geräusch den Zusammenbruch von Moloch B-51 verkündete, sackte Mister Reynard McShore erschöpft zusammen, schleppte sich zum Eisenbett und legte sich stöhnend auf selbiges. „Was passiert hier?“ Er verfiel in eine embryonale Haltung und schloss die Augen. Für ihn, der seit mehr als dreißig Jahren das Leben tief unten im Niemandsland von B-52 lebte, bedeutete das plötzliche Brennen von B-51 eine einzige Katastrophe. Wenn er brennt, dachte er, dann brennen auch wir. Mister Reynard McShore, geboren in den Wirren einer niedergeschlagenen Revolution, die mit als längst ausgestorbenen Viren den Umsturz erzwingen wollte, lag zitternd auf seinem langsam wärmer werdenden Eisenbett. Und je wärmer es wurde, um so mehr erinnerte McShore sich daran, wie er aus den großen Hallen, in denen er gearbeitet hatte, urplötzlich eines Tages von den Wächtern abgeführt wurde und dazu verdammt war, ein Leben weit unterhalb der Ebenen zu führen, die für die Armen gedacht waren. Vielmehr für die, die noch ärmer als die Armen waren. Für die, die nicht in das Bild der herrschenden Klasse passten.
„Ich hatte so etwas wie ein Leben.“, flüsterte er leise. Dann schloß er die Augen und schlief ein. Seit vielen Jahren das erste Mal schlief er länger als eine Stunde. Das Geräusch des Zusammenbruchs von B-51 war hilfreich. Irgendwie. Unergründlich. Mister Reynard McShore schlief ganze fünf Tage am Stück. Er wachte rechtzeitig wieder auf, um gerade noch den Stahlträger als Stahlträger zu identifizieren, bevor dieser ihn zermalmte. Bruchteile von Sekunden, die ihn vom Tod trennten, benutzte er dazu, sich an seine Kindheit zu erinnern, an sein kurzes Leben als Drohne einer sich selbst vernichtenden Gesellschaft, an sein Leben als überflüssiges Etwas in dem nun brennenden achtundneunzigsten Stockwerk von Moloch B-52.
ENDE
copyright by Poncher (SV)
29.01.2003