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Kurier
Kurier
Mit einem schnellen Blick über die Schulter vergewisserte er sich, daß ihm niemand folgte. Auch jetzt, auf der fünften Tour, spürte er noch diesen sauren Geschmack im Mund. Die Straße hinter ihm war leer und er fühlte sich albern, denn wer sollte ihm schon folgen. Die anderen Male war es doch auch gutgegangen. Aber das Päckchen machte ihn nervös. Leo machte ihn nervös. Die Art, wie er ihm das Bündel in die Hand drückte. "Verlier's besser nicht!", war drohend. Ganz beiläufig. Aber mit diesem Unterton. Und jedes Mal, wenn er mit einem Päckchen Leos Haus verließ, glaubte er, jeder könne sehen, welche Ware er herumtrug.
Der Bahnsteig war leer. Nichteinmal der Penner, der sonst in der hintersten Ecke im Schatten in einer seiner Taschen kramte, war zu sehen.
Sechs Stationen, einige Blocks die Straße hinunter und durch einen viel zu dunklen Hof. Er haßte die Tour. Zu viele Orte, an denen er nicht gesehen werde wollte. Zu viele Kameras in den Stationen, von denen er nicht festgehalten werden wollte. Ecken, von denen er nicht wußte, wer dort wartete.
Aber niemand war ihm gefolgt und Stück für Stück entspannte er sich. Im Wagen ließ er sich in eine leere Sitznische fallen und sah sich um. Es nur eine Hand voll Menschen im Zug, aber jeder schien ihm verdächtig. Ihre Blicke verfingen sich flüchtig in seinem und sie schienen zu wissen, dass er heute nacht der Kurier war. Schienen zu wissen, was er bei sich trug, hinten in den Gürtel gesteckt.
Zwei Stationen lang beobachtete er angestrengt die anderen Fahrgäste und das Öffnen und Schließen der Türen. Niemand sprach ihn an, niemand kam näher, niemand sah länger herüber. Aber das mußte nichts heißen. Er zwang sich, die Augen zu schließen, konzentrierte sich auf die Geräusche. Zählte die Stationen. Um ihn herum war es jetzt weitgehend still. Menschen stiegen ein, aus, sahen ihn wohlmöglich an, könnten ihn erkennen, auch wenn er sie nicht sah. Deshalb hielt er den Kopf gesenkt, während die Adrenalinwellen durch seine Adern pumpten.
Der Zug kam zum Stehen. Er hörte, wie die hydraulischen Türen sich öffneten, aber er saß bewegungslos, unbeteiligt still. Er wartete bis zur letzten Sekunde, schnellte vom Sitz und durch die Türen hinaus, die hinter ihm zuglitten. Wäre ihm jemand bis hierher gefolgt, hätte er ihn abgehängt. Der Zug wirbelte ihm Davonfahren Papierschnipsel auf. Er war allein auf dem Bahnsteig und lächelte befriedigt. Nur noch ein paar Straßen, dann hatte er auch diese Lieferung rübergebracht. In Gedanken gab er das Geld aus, das er von Leo bekommen würde.
Er folgte dem Eisengitter, das den Bahnsteig von der Straße trennte und warf flüchtige Blicke auf die Plakate der Rockbands, die die Sicht durch das Gitter beinahe vollständig versperrten.
Die Drehtür, die ihn hinausließ, war mit dem Gitter verzahnt, um Schwarzfahrer aufzuhalten. Sie quietschte verhalten, als er sich dagegenstemmte.
Der Schlag, der durch seine Schulter fuhr, als die Tür blockierte, kam überraschend. Sekundenbruchteile später rückten die Gesichter vor das Gitter, nahm er die Eisenstange wahr, die zwischen die Tür und das Gitter geklemmt war, durch das sie zurück auf den Bahnsteig drehte. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür, aber sie gab keinen Milimeter nach.
Die Gesichter auf der Straße schoben sich näher heran. Er trat einen Schritt zurück, drückte sich gegen das rückwärtige Gitter. Die Tür würde die Stange freigeben und in wenigen Augenblicken würde er wieder auf dem Bahnsteig stehen. Er würde einen Vorsprung haben, bis sie durch die Tür gekommen waren. Aber anstelledessen war nur ein trockenes Klicken im Gestänge zu hören. Dies war die Ausgangstür. Sie würde nicht zurückdrehen. Keinen Milimeter. Aus Sicherheitsgründen.
Die Gesichter auf der anderen Seite schoben sich näher heran, waren jetzt dicht vor seinem Käfig. Einer von ihnen streckte eine Hand in seine Richtung aus, hielt sie ausgestreckt direkt vor das Gitter. Er rührte sich nicht, versuchte wenigstens, trotzig an ihnen vorbeizusehen. Die Hand rückte näher, öffnete und schloß sich auffordernd. Er bewegte sich nicht.
"Raus damit", die Stimme brach an den Betonwänden der Station, so leise sie war. Er blieb trotzig. "Keine Spielchen, Mann." – "Verschwindet", er legte allen Mut hinein. Ein trockenes Lachen vor dem Gitter. "Leo hat diesmal wohl einen ganz Mutigen aufgegabelt." – "Nein, einen ganz Dummen", konterte eine Stimme von weiter hinten im Pulk.
"Ok, Schluß mit den Spielchen", die Stimme wurde hart. "Wenn du schlauer bist, als du aussiehst, rückst du das Zeug raus und die Sache ist erledigt. Kurz uns schmerzlos."
"Was?", er fühlte den Punkt in seinem Rücken, wo das Päckchen in seinem Hosenbund steckte jetzt deutlich. Es begann zu glühen, bohrte sich in seine Haut.
In dem undefinierten Licht, das von der Straßenlaterne herüberschien, sah er die Klinge nur flüchtig aufblitzen, bevor sie den Ärmel seiner Jacke durchtrennte.
"Keine Spielchen!" Jetzt unterdrückte er nur noch mühsam das Zittern. Die Klinge schnellte nocheinmal herein, erreichte den Ärmel etwas höher, näher am Oberarm, beinahe die Haut. Er konnte nicht weiter zurückweichen.
Das Päckchen war gerade dünn genug, dass er es durch die Stäbe schieben konnte. Er preßte sich fest gegen das hintere Gitter, noch Minuten nachdem sie verschwunden waren. Sie hatten die Stange nicht herausgenommen, aber das kümmerte ihn nicht. Er konnte weder vor noch zurück. Nicht zum Kunden, denn er konnte nicht liefern. Nicht zu Leo, denn er hatte die Ware verloren. Als der Wachmann kam, hatte er sich am Boden zusammensinken lassen. Sprach kein Wort und rannte davon. Leo würde ihn finden.