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Kunst in Blut
Kunst in Blut
Irgendetwas hatte Lisa geweckt. Schlaftrunken tastete sie nach dem Wecker. Dabei flog ein Buch zu Boden und sie wischte einige Papiere zur Seite. Endlich fühlte Lisa das kühle Metall des Weckers. Sie brachte ihn vor ihre Nase und öffnete die Augen. Die grellen Leuchtziffern blendeten sie. Ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an das noch grelle Licht. Als sie wieder sehen konnte, verrieten ihr die Ziffern, dass es noch mitten in der Nacht war. Lisa warf den Wecker wieder auf den Nachttisch zurück, mit einem lauten Scheppern landete er stattdessen auf dem Boden. Lisas Hand fuhr auf die rechte Seite des Bettes. Die Stelle war leer und kalt. Sie seufzte. Michael arbeitete bestimmt wieder unten im Atelier. Lisa schloss die Augen. Sie hörte auf das Schlagen ihres Herzens, dem Rauschen des Windes, der an den Jalousien zog und auf ihren Atem. Einige Minuten lag sie so da. Danach schwang sie die Füße aus dem Bett und schlüpfte in ihre Hausschuhe. Lisa ging zu dem Panorama Fenster und zog die Jalousien auf. Silbriges Mondlicht ergoss sich in das Schlafzimmer. Die Straße lag verlassen da und der Wind spielte mit den welken Blättern im Garten. Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Es hörte sich ungewohnt an.
„Michael?“, rief sie in die Dunkelheit hinein. Wer sollte es sonst sein, er bekam seine Inspirationen zu den unmöglichsten Zeiten, vor allem nachts wenn normale Menschen schliefen. Es war nun mal die Bürde des Genies. Sie nahm ihren Morgenmantel und streifte ihn über. Leise und mit Bedacht stieg sie die lang gewundene Wendeltreppe vom Loft in das Atelier hinab. In die ehemalige Lagerhalle waren sie vor zwei Jahren gezogen, als Michael mit seiner Kunst der große Durchbruch gelang. Seine Werke waren so morbid, dass die Fachwelt ihn als „Gunther von Hagen“ der Kunst bezeichnet hatte. Jetzt konnte er auf dem Markt hohe Preise für seine Skulpturen, Gemälde und Plastiken erzielen. Sie konnten also von Michaels Kunst leben.
Seltsamerweise war auch im Atelier alles dunkel und still. Lisa rief nicht in die Dunkelheit hinein. Ihr Mann war sehr empfindlich, vor allem wen er an einem neuen Projekt arbeitete. Sie betätigte den Lichtschalter. Die Neonröhren flammten auf.
Dann sah sie es. Am Tag vorher war es noch nicht hier gewesen. Eine Tür stand mitten im Raum. Sie sah sehr massiv und alt aus. Kunstvolle Verzierungen waren auf dem Rahmen, dem Türblatt und dem Türsturz zu erkennen. Die Tür war in einen bleiernen Sockel eingelassen, eine einzelne Stufe führte zur Klinke hinauf. Vielleicht ein neues Projekt meines Mannes, dachte Lisa. Die Tür war einen kleinen Spalt weit offen. Daraus drang ein gelblich schwacher Schein. Lisa ging um das Gebilde herum, dahinter war nichts. Das Portal führte nirgendwo hin. Es sah aus wie ein Kunstwerk von Michael. Wo kam dann aber der gelbliche Schimmer her? Hinter der Tür hörte sie die Stimme von ihrem Mann. Sie ging noch einmal das ganze Atelier ab, konnte ihn aber nirgends finden. Sie lauschte an der Tür, die Stimme drang dahinter hervor.
„Michael?“, rief sie. Keine Antwort. „Wo bist du?“ Sie ging ein weiteres mal um das Gebilde herum, kam aber zu demselben Ergebnis. Sie begann ihre Hände zu kneten und sah sich unsicher um. Woher kam dieser gelbe Schein? War es überhaupt ein Kunstprojekt von Michael? Sie hörte zwar ihren Ehemann, konnte ihn aber nicht sehen. So als wäre er in einem anderen Raum. Sie hörte Michael lachen. Lisa ging langsam die Stufe zu dem Portal hinauf. Der kristallne Türknauf wurde unter ihrem Griff rutschig. Vorsichtig zog sie das Türblatt zu sich her. Ein gelber Schleier ergoss sich wie ein Vorhang vom Türsturz bis zum Anfang des Sockels. Dahinter konnte Lisa nur Schemen erkennen. Zaghaft streckte sie eine Hand nach dem Schleier aus und trat dann hindurch. Ihr wurde übel und alles drehte sich um sie. Lisa blinzelte und stand auf der anderen Seite. Sie befand sich in einer Höhle, die von einem kränklich grünen Schimmer erhellt wurde. Das Licht schien direkt aus den Wänden zu kommen. Hier und da tropfte es von der Decke. Es stank nach einer Mischung aus Schwefel und Mülldeponie. Sie sah zurück. Der Durchgang zum Atelier war noch da, sie konnte verschwommen durch den Schimmer sehen. Lisa wandte sich wieder um. Links und rechts von ihr erhob sich der nackte Felsen. Hinter einer Biegung hörte sie Gelächter, es hallte von den Wänden wieder. Michael und noch Jemand. Sie ging darauf zu, bei jedem Schritt platschte es unter ihren Füßen. Als sie um die Biegung kam, sah sie Michael und einen Fremden. Die beiden standen vor einer Staffelei mit einer Leinwand. Der Fremde war kein Mensch. Sie hielt ihre Hände vor den Mund. Es sah aus wie ein abscheulicher Zwerg mit einem riesigen Buckel. Die Kreatur war nackt und ihre Haut giftgrün. Eine enorm lange Nase beherrschte das verzerrt entstellte Gesicht. Die Beine waren krumm verwachsen, die Arme kurz und mit Klauen anstatt Fingern versehen. Vor den beiden auf dem Boden lag etwas. Lisa sah genauer hin. Entsetzt wich sie einige Schritte zurück. Es war ein totes Mädchen. Lisa schätzte sie auf siebzehn Jahre. Die Leiche war Ausgeweidet worden. Wie Schlachtvieh, schoss es Lisa durch den Kopf. Die braunen Locken des Mädchens hingen wirr im Gesicht. Sie starrte Lisa mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Mann und das Wesen bemalten die Leinwand mit dem Blut des Mädchens. Auf einmal fielen ihr wieder die vielen Berichte über verschwundene Kinder und Jugendliche wieder ein. Genau vor zwei Jahren, als Michael seinen großen Durchbruch gehabt hatte und sie beide in dieses Loft gezogen waren.
„Mein Gott!“, entfuhr es Lisa. Der Zwerg fuhr auf und starrte Lisa aus zwei rot glühenden Augen an.
„Die Tür muss sichtbar gewesen sein. Du hast sie nicht richtig geschlossen, du Idiot!“, schrie das Wesen Michael an.
„Verzeiht mir meine Dummheit und meine Unzulänglichkeit, Meister“, er drehte sich zu seiner Frau um. „Gefällt dir unser neustes Projekt? Es heißt Schlachtfest.“
Lisa wich vor den beiden zurück.
„Was machst du hier?!“, schrie Lisa. Michael lächelte und zog ein langes Messer.
„Kunst in Blut nimmt oft die seltsamsten Formen an“, er kam näher. „Alles hat seinen Preis und diesen Preis bezahle ich gern für den Erfolg. Das alles verdanke ich meinem Meister. Alles was er dafür verlangt ist nur meine Seele, alles was es mich kostet ist nur mein Gewissen. Ich brauche diese beiden Dinge nicht mehr.“ Lisa stieß mit dem Rücken gegen eine Wand.
„Diese Höhle führt überall hin. So komme ich leicht an die Kinder und bringe sie zu dem Wesen ohne Namen.“ Er packte Lisa und zog sie zu sich heran. Michael presste seine Lippen auf die ihren.
„Danke, dass du immer an mich geglaubt hast. Ich werde aus dir ein besonders schönes und eindrucksvolles Kunstwerk machen“, sagte Michael und hob das Messer. Lisa sah sich nach allen Seiten um. Überall an den Wänden hingen Gesichter, als wären sie dort eingemeißelt worden. Die Gesichter waren grauenvoll entstellt und zu furchtbaren Fratzen verkommen. Waren das die Seelen der Opfer die das Wesen dort gefangen hielt? Lisa riss ihr Knie nach oben und rammt es Michael mit ganzer Kraft in den Unterleib. Der eiserne Griff um ihre Taille lockerte sich und sie riss sich los. Lisa rannte und begann zu lachen.
„Warte“, rief Michael ihr nach.
Sie lief auf die Biegung und auf den Ausgang zu. Dieser war noch immer offen. Mit einem Satz sprang sie durch den Schimmer. Sie verfehlte die Stufe des Sockels und fiel auf den Boden. Etwas knackte in ihrer Schulter und ein furchtbarer Schmerz durchfuhr ihren Arm. Sie hörte die beiden, wie sie sich der Tür näherten. Lisa stand mühsam wieder auf. Ihr Mann steckte den Kopf durch den Schimmer.
„Hallo Lisa.“ Sie rannte zur Haustür und auf die Straße. Sie schrie, wie noch nie in ihrem Leben. In den Fenster gingen Lichter an und der Asphalt kam ihr entgegen.
Von irgendwoher, aus weiter Ferne, kam ein regelmäßiges Piepen. Es drang in Lisas Bewusstsein und wurde immer lauter. Das Bett unter Lisas Rücken fühlte sich fremd an. War furchtbar hart und unbequem. Sie roch einen ätzenden, beißenden Geruch von Desinfektionsmittel. Sie hörte Stimmen und öffnete langsam ihre Augen. Langsam nahm ihre Umgebung Konturen an. Sie war an Maschinen angeschlossen. Lisa versuchte sich aufzurichten, doch es ging nicht. Sie war an dem Krankenbett fixiert worden. Ein Gesicht beugte sich über sie. Es war ein älterer Herr, mit grauen Schläfen und einem Bart.
„Bleiben Sie ruhig liegen, sie sind im Heilbronner Gesundbrunnen. Ihr Arm und ihre Nase sind gebrochen.“ Er leuchtete mit einer Stabtaschenlampe in ihre Augen. „Ich bin Doktor Mangold. Ihre Nachbarn habe uns alarmiert, nachdem sie Sie auf der Straße schreien hörten und gesehen haben wie Sie zusammen gebrochen sind. Was ist passiert?“
„Was ist mit der Tür?“, fragte Lisa. Mangold runzelte die Stirn.
„Ich weiß nicht was Sie meinen.“
„Kann ich mit der Patientin sprechen, Doktor?“ Es war eine raue und tiefe Männerstimme.
„Sie steht noch unter Schock Kommissar. Seien Sie also behutsam, ich werde hier bleiben für den Fall der Fälle.“
Ein anderes Gesicht schob sich herein. Es war von mittlerem Alter und eisig blaue Augen sahen sie an.
„Mein Name ist Hardinger. Ich bin von der Kripo Heilbronn. Ich habe eine traurige Mitteilung zu machen und danach einige Fragen. Nicken Sie nur, wenn Sie es soweit verstanden haben.“ Lisa nickte. Hardinger faltete seine Hände vor seinem Kinn.
„In ihrem Loft, unten im Atelier haben wir Ihren Mann tot aufgefunden. Ich möchte Ihnen die Einzelheiten ersparen, aber es war kein schöner Anblick. Nur so viel, so etwas habe ich noch nicht gesehen. Es sieht fast so aus als wäre Ihr Mann von einem Tier angefallen worden. Die Ärzte sagen, dass die Wunden von Klauen verursacht wurden. Von der Leiche gehen seltsame Fußspuren ab, wir können sie nicht zuordnen. Sie gehen bis zur Mitte des Ateliers und hören dann plötzlich auf. Wir können noch nicht sagen, ob aus dem Loft etwas gestohlen wurde, wir stehen noch ganz am Anfang. Waren Sie es allein? Oder hatten Sie Komplizen? Was ist passiert?“
„Tür!“, rief Lisa.
„Das reicht nun wirklich Kommissar.“ Mangold schob ihn nach draußen. Er wandte sich wieder zu Lisa.
„Schlafen Sie jetzt, ich werde morgen wieder nach Ihnen sehen.“ Er schaltete das Licht aus und schloss die Tür. Nur noch ein grünes Nachtlicht schimmerte in der Finsternis. Sie schloss die Augen. Ein ganz leises knarren ließ sie aufhorchen. So gut es ging richtete sie sich auf. Ihr gegenüber stand ein Kleiderschrank. Die Tür schwang auf und ein gelblicher Schimmer drang in die Dunkelheit. Eine Klauenhand schob sich durch den gelben Schleier. Lisa schrie.