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Kriegsspiele

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10.07.2007
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Kriegsspiele

Für A.

1 Installation

Der Tag, an dem Jenny Reilly beschloss, Soldatin zu werden, war ziemlich beschissen gewesen. An einem guten Tag hätte sie sich möglicherweise anders entschieden. Andererseits waren gute Tage ziemlich selten für Leute wie Jenny. Vielleicht war ihre Entscheidung also letztendlich unvermeidlich.
Jener Tag hatte schon nicht besonders angefangen. Morgens hatte es wieder einmal kein warmes Wasser gegeben, und das eiskalte Rinnsal, mit dem sie geduscht hatte, war braun gewesen und hatte diesen stechenden Chemikaliengeruch verströmt. Dann hatte sie (natürlich) den Bus verpasst und eine halbe Stunde im Regen gewartet. Aber es war das Gespräch auf dem Arbeitsamt, das es zu einem wirklich miesen Tag machte.
Es tut uns leid, Ms. Reilly, aber für Leute mit Ihrem Qualifikationslevel gibt es nicht viele Stellen. Dieser Satz würde eines Tages auf ihrem Grabstein stehen, dachte Jenny.
Und es war nicht einmal die Wahrheit. Es hätte heißen müssen: Für Leute wie dich gibt es überhaupt keine Stellen, und „es tut uns leid“ ist nur so eine Redewendung, die dir das Gefühl geben soll, mehr als eine Nummer zu sein.
Es war nicht fair.
Sie war neunzehn Jahre alt, nicht dumm und für ein Mädchen aus dem C-District sogar recht hübsch. Sie hatte noch all ihre Zähne, und die typischen Hautkrankheiten waren ihr bisher erspart geblieben. Aber trotz allem blieb sie ein Mädchen aus dem C-District, und C-District war das Wort, das man eingeführt hatte, um nicht mehr „Slums“ sagen zu müssen.
Sie hatte keinen Schulabschluss, keinen Job, keine Perspektive. Ja, sie hatte noch nicht einmal einen Freund. Sie war bloß eine dieser Jugendlichen, die den größten Teil ihrer Zeit vor dem Computer verbrachten und stundenlang dämliche Spiele spielten, weil es immer noch besser war, die Zeit totzuschlagen als sich gegenseitig.
Natürlich, sie hatte das Plakat gesehen, das mit dem lächelnden jungen Mann und der lächelnden jungen Frau in Uniform und dem Slogan Für Demokratie und Menschenrechte warb. Es war nicht zu übersehen, wenn man vom Arbeitsamt im B-District auf dem Weg zurück zur Bushaltestelle war. Aber es interessierte sie nicht besonders.
Jenny Reilly gehörte nicht zu den jungen Leuten, denen man beigebracht hatte, dass die Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte ihre Pflicht sei. An der Schule, die sie besucht hatte, hatten solche hochtrabenden Grundsätze keinen Platz. Man musste man schon froh sein, wenn man sie nicht als Analphabet verließ.
Und Jennys Eltern interessierten sich nicht für Politik. Die Leute im C-District hatten andere Sorgen. Natürlich wussten sie, dass es Krieg gab. Natürlich sahen sie die Bilder der Bombenanschläge in den Abendnachrichten, die Trümmerfelder, die Leichenteile, die weinenden, blutverschmierten Überlebenden, und natürlich hörten sie, wie die virtuelle Nachrichtensprecherin mit einer Stimme voll computergenerierter Betroffenheit die Zahl der Kinder unter den Opfern nannte. Natürlich fragten sie sich, wie Menschen kalt und abgestumpft genug sein konnten, um so etwas zu tun ... Aber dann vergaßen sie es wieder und dachten daran, wie sie ihre Kredite abzahlen sollten und dass es immer noch durchs Dach regnete. Das waren die wirklichen Schrecken des C-Districts – jener Teile der Stadt, die zu arm und unbedeutend waren, um das Ziel von Anschlägen zu werden.
Es war schon Nachmittag, als Jenny an der Haltestelle mit dem großen C aus dem Bus stieg. Und dort sah sie dann das andere Plakat.
Den Leuten, die sich das ausgedacht hatten, war eindeutig bewusst gewesen, dass sie es hier im C-District mit einer anderen Zielgruppe zu tun hatten. Das Plakat zeigte ebenfalls zwei lächelnde junge Menschen in Uniform, wie das, was sie zuvor im B-District gesehen hatte (im A-District wurde sicher nicht um Freiwillige geworben, dachte Jenny, die Leute dort waren zu reich, um mit patriotischen Pflichten belästigt zu werden).
Es hätte sogar dasselbe Bild sein können. Nur der Slogan war ein anderer. Er lautete: Ein Job. Eine Krankenversicherung. Eine Zukunft.
Tja, das waren drei Dinge, die sie nicht hatte, dachte Jenny.
Das Plakat war eines der wenigen an der Haltestelle, die weder mit Graffiti beschmiert noch von irgendwem zerfetzt worden waren. Das Papier schien beinahe zu leuchten.
Kein Schulabschluss erforderlich! las Jenny. Ihr Qualifikationslevel hat keinen Einfluss auf den Eignungstest! Jede Bewerbung willkommen!
Sie hatte noch keinen Plan, als sie nach Hause ging. Aber in ihrem Unterbewusstsein hämmerte etwas, wie ein Lied, das man den ganzen Tag über im Kopf hat und ständig vor sich hin singt, ohne es zu bemerken.

***​

Ihrem Vater ging es wieder schlechter.
Auf Jennys Nachfrage sagte er: „Gut, Schatz. Es geht mir schon viel besser“, aber das sagte er immer. Heute war es eindeutig eine Lüge. Er war bleich, fast wie ein Toter, und seine Lunge rasselte bei jedem Atemzug.
Es war noch nicht sehr schlimm, aber viel schlimmer als in der letzten Zeit. Irgendwann im Laufe der Woche würden sie vielleicht zu einem Arzt gehen müssen. Und irgendwie müssten sie das dann auch bezahlen.
„Kann ich irgendwas für dich tun, Dad?“, fragte sie. Ihre Stimme hörte sich piepsig an.
„Nein, danke“, sagte er.
„Okay“, sagte sie.
In der darauf folgenden Stille schienen die asthmatischen Atemzüge sehr laut. Jenny wusste, dass ihr Vater ihre Gesellschaft genoss. Er war froh darüber, seine Tochter um sich zu haben, nicht allein zu sein. Auch wenn man sich an Tagen wie diesem nicht mit ihm unterhalten konnte, weil ihm das Sprechen so schwer fiel. Aber auf der anderen Seite wusste sie, dass sie die Stille irgendwann unterbrechen oder das Zimmer verlassen musste, damit das Rasseln in seiner Brust sie nicht verrückt machte.
Ihre Lunge war gesund, aber jedes Mal, wenn sie einen dieser mühsamen Atemzüge hörte, krampfte sich in ihrem eigenen Körper etwas zusammen, bis sie glaubte, selbst keine Luft mehr zu bekommen. Sie schwiegen etwa zehn Minuten und lächelten sich angestrengt an, dann hielt sie es nicht mehr aus und fragte: „Brauchst du wirklich nichts, Daddy?“
Bitte, dachte sie und schämte sich dafür, Sag doch bitte, dass ich dir irgendetwas bringen soll.
„Ich habe ein bisschen Durst.“
„Okay. Ich mache Tee.“
Es war eine große Erleichterung, dass sie ihn mit einem guten Grund allein lassen konnte. Und es fühlte sich furchtbar an, deshalb erleichtert zu sein.

***​

Sie erzählte ihm vor allem deshalb von dem Plakat, weil es an Tagen wie diesem eine echte Wohltat sein konnte, mit Robert zu streiten.
Sechzehnjährige Brüder waren wahrscheinlich überhaupt für nichts anderes gut. Er drückte sich vor der Schule, wo es nur ging, er vergaß, wann er mit Einkaufen dran war und er brachte nie den Müll weg, aber in einer Hinsicht war er wirklich sehr zuverlässig.
„Bist du jetzt völlig verrückt geworden?“, fragte er.
„Was ist so verrückt daran, dass man Geld verdienen will?“, fragte sie.
„Es ist verrückt, deswegen zur Armee zu gehen!“, sagte Rob.
Jeder Sechzehnjährige versuchte, in irgendeiner Form gegen die bestehende Ordnung des Universums zu rebellieren und zu zeigen, dass er anders war. Viele zogen sich seltsam an und hörten grauenhafte Musik, manche nahmen Drogen ... Robert Reilly war Pazifist.
„Aber man bekommt automatisch eine Krankenversicherung“, sagte Jenny. „Und die Familie ist dann mit versichert.“
„Dafür wärst du bereit, Menschen umzubringen?“, fragte er, bereits etwas lauter.
„Dafür wäre ich bereit, Terroristen zu töten“, antwortete sie.
Und schon hatten sie den schönsten Streit, den man sich wünschen konnte. Es war genau das richtige, um sich nach so einem Tag abzureagieren.
Jenny wusste natürlich, dass sie Recht hatte. Und ihm Grunde glaubte sie, dass Robert es auch wusste. Allein die Bombenanschläge bewiesen es doch jeden Tag. Und dann war da noch die Tatsache, dass Familie Reilly das Geld verdammt gut gebrauchen konnte. Ihr Dad, der lungenkrank war und die Wohnung kaum verlassen konnte, ihre Mom, die die Familie mit einem Job über Wasser hielt, über den sie nie sprechen wollte, und nicht zuletzt ihr nichtsnutziger kleiner Bruder, der den ganzen Tag vor seinem Rechner hockte und Weltrevolution spielte, denn zwischen zwei Blogeinträgen wollte er schließlich hin und wieder auch etwas essen.
Aber wenn man mit Robert diskutierte, spielte die Realität keine besonders große Rolle. Er gehörte zu den Jungs, die noch ins Internet gingen und sich all denen überlegen fühlten, die das von der Regierung kontrollierte Hyperweb benutzten.
Jeder wusste, dass es gute Gründe für die Kontrolle des Webs gab. Jeder wusste, dass das Internet – der anarchische Vorläufer aus grauer Vorzeit – nur noch ein riesiger, hundert Jahre alter Haufen Datenmüll war, wo sich ausschließlich Verrückte tummelten. Leute, die sich gegenseitig darüber aufklärten, wie die Regierung mit Hilfe außerirdischer Mächte vertuschte, dass die Erde in Wahrheit eine von der Sonne umkreiste Scheibe im Zentrum des Universums war.
Jeder wusste das ... jeder außer Robert.
Robert glaubte fest daran, dass man einzig im Internet die Wahrheit fand (auch wenn die Regierung natürlich dauernd versuchte, alles zu zensieren). Und Roberts Freunde im Internet verkündeten in ihrer unendlichen Weisheit zum Beispiel, dass Regierungen überhaupt nur deshalb Kriege gegen Terroristen führten, um von ihrer schlechten Innenpolitik abzulenken, und dass all die blutigen Anschläge verhindert werden könnten, wenn man bloß versuchen würde, mit ihren Verursachern zu reden. Der einzige Grund, warum nicht überall Frieden und Harmonie herrschte, bestand darin, dass die Regierung inkompetent, verbrecherisch oder beides war. Und für jeden, der die Regierung und den Krieg unterstützte, galt das ebenfalls.
„Du kannst froh sein, dass du in einer Demokratie lebst, du Spinner“, sagte Jenny. „Die Terroristen würden dich umbringen, wenn du so was über deren Regime sagen würdest.“
„Toll, du klingst schon wie ein Pressesprecher der Regierung! Nur noch eine Gehirnwäsche, und du wirst eine ganz tolle Soldatin!“, gab Robert zurück.
Eine Weile machten sie noch so weiter, dann waren sie beim Schreien und Türenknallen angekommen. Und dann redeten sie ein paar Stunden lang nicht mehr miteinander, bis ihre Mutter nach Hause kam. Aber es fühlte sich gut an.

***​

Das menschliche Unterbewusstsein ist ein unübersichtliches und vermintes Gelände, so dass man darüber nichts mit Sicherheit sagen kann, aber vielleicht hätte Jenny Reilly sich ohne diesen Streit anders entschieden. Schlechter Tag hin oder her.
Sie war eigentlich nicht besonders mutig und ganz bestimmt nicht besonders patriotisch, und tief in ihr war die Hoffnung auf einen richtigen Job immer noch nicht gestorben. Von sich aus hätte sie womöglich noch lange darüber nachgedacht, ob sie diesen Schritt wirklich gehen sollte.
Aber nur wenige Minuten, nachdem sie die „Soldaten sind Mörder“-Predigt ihres kleinen Bruders gehört hatte, rief sie die Webseite der Streitkräfte auf und suchte nach der Adresse des nächsten Rekrutierungsbüros.
Den Rest des Tages vertrieb sie sich mit einem Onlinespiel, in dem es darum ging, Stützpunkte von Terroristen zu bombardieren. Sie erreichte fast 700.000 Punkte und den dritten Platz auf der Highscoreliste.
Das war das einzige, was Jenny Reilly wirklich gut konnte.


2 Spielstart

Sie wusste nicht genau, was sie sich eigentlich vorgestellt hatte. Aber das hier war es ganz sicher nicht gewesen. Eigentlich kannte sie das Militär nur aus alten Filmen, die fast alle von einem Typen namens Hollywood gedreht worden waren. Darin wurden neue Soldaten meistens angebrüllt und gezwungen, stundenlang zu marschieren oder durch Schlamm zu kriechen. Sie lebten in trostlosen Kasernen und starben in Gräben, die unter Dauerbeschuss standen.
Das Gebäude, in dem sich Jenny jetzt befand, besaß eine große Grünfläche vor dem Eingang, eine saubere weiße Fassade und große Fenster. Es sah eher wie eine Privatschule aus, und es wirkte nicht im Mindesten militärisch.
Im Inneren fand sie sich vor einem Schalter wieder, in einer langen Reihe mit anderen Leuten. Die meisten davon kannte sie flüchtig. Im C-District gab es viele, die einen Job, eine Krankenversicherung und eine Zukunft gut gebrauchen konnten.
Sie war extra früh gekommen, um nicht so lange warten zu müssen, trotzdem dauerte es gut zwanzig Minuten, bis sie an die Reihe kam. Eine freundliche Frau mit weichen braunen Locken fragte sie nach ihrem Namen, ihrem Geburtsdatum, ihrer Adresse und tippte diese Daten mit beeindruckender Geschwindigkeit in ihren kleinen Computer.
„Vielen Dank, Miss Reilly. Sie müssen sich zuerst einigen medizinischen und psychologischen Eignungstests unterziehen. Das wird maximal zwei Stunden in Anspruch nehmen. Erster Stock, Raum 107-B, geben Sie den Leuten dort diese Chipkarte, auf Wiedersehen. Guten Tag, wie ist Ihr Name bitte?“ sagte sie dann in einem Atemzug, den letzten Satz schon an einen Neuankömmling gerichtet.
Jenny ging nach oben, noch immer in der Erwartung, dort möglicherweise angebrüllt zu werden. Aber sie traf auf einen kleinen, glatzköpfigen Mann in einem weißen Kittel, der so leise sprach, dass sie sich unwillkürlich etwas nach vorn beugte, um ihn zu verstehen, und seine Assistentin, die ebenfalls einen weißen Kittel trug und überhaupt nicht sprach.
„Haben Sie Ihre Karte? Geben Sie sie Susan. Danke sehr. Nehmen Sie dort Platz. Danke“, sagte der kleine Mann. „Ich bin Doktor Carter.“
„Jennifer Reilly“, sagte Jenny. Sie erinnerte sich an einige der Filme und fügte zögernd hinzu: „Sir.“
„Lesen Sie bitte vor, was auf der Tafel steht“, sagte Doktor Carter. Irgendwie glaubte sie, dass er ihren Namen bereits wieder vergessen hatte.

***​

Einige Zeit später stand sie im nächsten Stockwerk, und auf ihrer Chipkarte waren die Ergebnisse des Genomscans sowie eines Sehtests, eines Intelligenztests, eines EKG und eines Tests ihrer Reaktionsgeschwindigkeit gespeichert, zumindest hatte das der Doktor gesagt. Sie wusste, dass ihre Kondition nicht die beste war – Mom und Dad hätten sich eine genetische Optimierung ihrer Kinder niemals leisten können – und hatte ihn vorsichtig nach den physischen Anforderungen gefragt. „Wissen Sie, es kommt heutzutage weniger darauf an, besonders sportlich zu sein“, hatte er gesagt, aber vielleicht hatte er bloß nett sein wollen.
Sie betrat das nächste Zimmer. Ein weiterer Mann im weißen Kittel nahm ihr die Chipkarte ab und wies sie an, einen elektronischen Fragebogen auszufüllen, dann ließ er sie allein.
Die Fragen waren seltsam. Manche beunruhigten sie.
Warum haben Sie beschlossen, sich den Streitkräften anzuschließen? – okay, das war ja zu erwarten gewesen. Auch die Fragen nach Vorstrafen und nach ihrer Religion. Aber: Welche PC-Spiele haben Sie als Kind gespielt? Wie viele Stunden sind sie im Durchschnitt pro Tag online? – was glaubten sie daraus über sie erfahren zu können?
Sie sah aus den Augenwinkeln, wie andere angehende Soldaten den Raum betraten oder verließen. Alle mussten den Fragebogen ausfüllen, aber es gab keine Gelegenheit, miteinander zu sprechen. Sie bedauerte das, denn manchmal hätte sie gern jemanden gefragt, was wohl die richtigen Antworten waren.
Die Frage Stehen Sie der Regierung feindselig gegenüber? beantwortete sie selbstverständlich mit nein, aber schon bei der darauf folgenden, Gibt es Personen in ihrer Familie oder ihrem Freundeskreis, die der Regierung feindselig gegenüber stehen? zögerte sie.
Robert war bestimmt kein Freund der Regierung...
Aber „feindselig“ musste bedeuten, dass man Attentate oder den Bau einer schmutzigen Bombe plante, beschloss sie, und nicht dass man die Websites bekiffter Anarchisten besuchte und darauf pseudosubversive Kommentare hinterließ. Sie aktivierte die Antwort „nein“.
Gerade als sie sich fragte, ob das Ganze vielleicht nur ihre Geduld testen sollte, verschwand die letzte beantwortete Frage vom Monitor, ein Piepsen ertönte und ein kleines Fenster erschien. Fehlermeldung, Systemabsturz, vermutlich das Ganze noch einmal von vorne, dachte sie, rieb sich die Schläfen und gähnte unauffällig. Es waren bestimmt zweihundert Fragen gewesen.
Der Mann im weißen Kittel warf einen Blick auf den Bildschirm. „Glückwunsch“, sagte er. „Warten Sie bitte in Raum 280.“
Er drückte Jenny ihre Chipkarte in die Hand und öffnete die Tür für sie.
Erst jetzt las sie den Text in dem kleinen Fenster, das wie eine Fehlermeldung aussah.

+++
TEST #0896053 REILLY, JENNIFER PATRICIA = ABGESCHLOSSEN
RESULTAT MED TEST = VORAUSSETZUNGEN ERFÜLLT
RESULTAT PSYCH TEST = VORAUSSETZUNGEN ERFÜLLT
FÜHRUNGSZEUGNIS = KEINE EINTRÄGE
GSCORE = ÜBERDURCHSCHNITTLICH
ENDRESULTAT = POSITIV
+++​

Der Raum, in dem sie warten sollte, war groß und fast leer, und von den wenigen Anwesenden kam ihr niemand bekannt vor, so dass sie sich etwas verloren fühlte. Sie setzte sich auf einen unbequemen Stuhl, ohne die anderen Leute im Raum anzusehen, und drehte die kleine Chipkarte in ihrer Hand hin und her.
Endresultat positiv. Ihre Eltern würden stolz auf sie sein. Robert würde vermutlich eine lange, zornige Rede darüber halten, dass man nicht hingehen sollte, wenn Krieg war, aber das tat er ja sowieso immer.
„Weißt du, ob man hier telefonieren kann?“, hörte sie von der Seite.
Sie drehte den Kopf und sah eine junge Schwarze. Ein schwarzes Mädchen, um genau zu sein. Sie war ungefähr einen Meter fünfzig groß und hatte ein beneidenswert hübsches Gesicht, aber kaum den Ansatz eines Busens. Meine Güte, die muss bei der Altersangabe gelogen haben, dachte Jenny. Sie kann höchstens so alt sein wie Robert.
„Keine Ahnung“, sagte sie.
„Ich würde meinen Leuten so gern sagen, dass es geklappt hat“, sagte das Mädchen. „Wir brauchen das Geld, weißt du. Dringend.“
„Ich glaube, die Leute hier benachrichtigen sie“, antwortete Jenny.
„Ja, wahrscheinlich. Ich würde es ihnen bloß gern selbst sagen. Übrigens – ich bin Alice Woods. Und du?“
„Jenny Reilly“, sagte Jenny.
„Cool“, sagte Alice. „Guck mal, der da hinten.“ Sie nickte in Richtung eines jungen Mannes, der am anderen Ende des Raumes saß. Jenny sah hin … und riss die Augen auf.
„Unmöglich!“, sagte sie. „Den können sie doch nicht nehmen. Er ist vielleicht mit einem Verwandten hier oder so. Vielleicht kann er nicht allein bleiben.“
„Ach, ich dachte, vielleicht gibt es so eine Art rollende Elite-Truppe“, sagte Alice und lachte.
Der Mann am anderen Ende des Raums sah zu ihnen herüber. „Ich höre ziemlich gut“, sagte er.
Jenny fühlte, wie sie rot wurde, während Alice immer noch lachte. „Sorry“, sagte sie, da ihre neue Freundin anscheinend nicht vorhatte, sich zu entschuldigen.
Der Mann tippte ein paar Mal auf eine kleine Tastatur an seiner Armlehne, woraufhin sein Rollstuhl sich in Richtung der beiden Mädchen bewegte und vor ihnen zum stehen kam.
„Hallo. Henry Bright“, sagte er. „Und ich bin eine verdammte rollende Elitetruppe.“
„Aber wie kommst du ...?“, fragte Jenny.
„Zu einer Querschnittslähmung? Mit viel Glück“, sagte er. „Es war eine ziemlich heftige Explosion, und von den meisten anderen Leuten in der Nähe der Bombe war nicht viel übrig, was gelähmt sein könnte. Die Medizinmänner sagen, in ein paar Jahren könnte ich wieder laufen. Wenn ich die OP bezahlen könnte, natürlich.“
„Tut mir ehrlich leid“ sagte Jenny. „Wirklich. Aber ... ich meine, wie kommst du zum Militär?“
„Oh. Ich will es natürlich den Mistkerlen heimzahlen und meine Ehre wiederherstellen ...“ Er grinste verlegen. „Na ja, eigentlich wär ich nicht selbst auf die Idee gekommen. Es ist so ... ich bin der Vize-Champion in ,Glorious Battleground’.“
„Was, dem Computerspiel?“, fragte Jenny.
„Hmm. Das Preisgeld war nicht der Rede wert, aber nach dem letzten Wettkampf hat sich plötzlich die Armee bei mir gemeldet. Es ist nicht so, dass ich mich aufgedrängt hätte. Die haben gesagt, sie wollen mich.“
Jenny schwieg beeindruckt. Seit sie ein Kind war, hatte sie die Meisterschaften in den wichtigsten Spielen verfolgt. Glorious Battleground gehörte nicht gerade zu ihren Favoriten (zuviel Taktikscheiß, zu wenig Schießereien), aber es war trotzdem ziemlich cool, einen Vize-Champion leibhaftig vor sich zu sehen ... selbst wenn er im Rollstuhl saß und ziemlich irres Zeug redete.
„Die rekrutieren dich, weil du ganz gut bist in einem Ballerspiel?“, fragte Alice. Sie war offenbar weniger beeindruckt. Vielleicht war sie kein Fan von PC-Sport.
„Nein“, sagte Henry. „Sie rekrutieren mich, weil ich verdammt gut bin. In einem Spiel, mit dem sogar Soldaten trainiert werden, soviel ich gehört habe.“
„Aber was ist mit ...“, fragte Jenny, hoffend, dass Henry den Satz beenden würde.
Was er auch tat. „Mit meinen Beinen? Sie haben gesagt, das wäre kein Problem.“
An diesem Punkt bekam Jenny zum ersten Mal, seit sie sich freiwillig gemeldet hatte, ein mulmiges Gefühl. Sie glaubte nicht, dass der Mann log. Aber wenn es stimmte, dass das Militär Leute aufnahm, die nicht einmal laufen konnten, musste das nicht bedeuten, dass die Lage viel ernster war, als die Regierung bisher eingestanden hatte? Dass ihnen Soldaten fehlten?
Aber warum hatten sie dann nicht einfach die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt, statt Menschen wie Henry zu rekrutieren?
„Du siehst besorgt aus“, stellte Henry fest. „Ich bin auch besorgt, weil ich jemanden wie deine Freundin hier sehen muss. Ich meine, sind Kindersoldaten nicht eigentlich verboten?“
„Wen nennst du hier Kindersoldat, Krüppel?“, sagte Alice liebenswürdig.
„Komm schon, wie alt bist du?“, fragte Henry.
„Zweiundzwanzig“ behauptete Alice. „Ich kann es beweisen.“
Der Raum hatte sich in der Zwischenzeit langsam mit Leuten gefüllt, deren Endresultate positiv waren. Den meisten sah man schon an der Kleidung an, dass sie aus den Wohngegenden des C-Districts stammten, und die wenigsten sahen so aus, wie Jenny sich Soldaten vorgestellt hatte. Was natürlich auch auf sie selbst zutraf.
Der Mann, der gerade hereinkam, schien diese Meinung zu teilen. Er sah aus, als sei er einem der alten Kriegsfilme entsprungen: Sehr groß, sehr athletisch, die Haare so kurz, dass man kaum ihre Farbe erkennen konnte.
„He, wo warten die Leute, die die Tests bestanden haben?“, fragte er in den Raum.
„Du bist hier schon richtig, Kumpel“, sagte Henry.
Mister Kriegsfilmklischee warf einen kurzen Blick auf ihn und den Rollstuhl, dann verzog er das Gesicht und verließ den Raum.
„Mein Haus, mein Pool, mein Designer-Genom“, flüsterte Henry, und Jenny musste lachen.
Alice betrachtete die muskulöse Rückseite des Mannes und fragte nachdenklich: „Stimmt es eigentlich, dass Frauen beim Militär ein Recht auf sexuelle Belästigung haben?“, und darüber musste Jenny noch mehr lachen, und dabei dachte sie, dass es trotz allem richtig gewesen war, hierher zu kommen.
Sie hatte noch nie zuvor so schnell Freunde gefunden.
Mr. Kriegsfilmklischee fand wenig später heraus, dass er tatsächlich im richtigen Raum gewesen war, kam zurück und stellte sich als Michael Sutherland vor. Bis zum Ende des Tages hatten sie ihn besser kennen gelernt, und wenn man ihn besser kannte, war er eigentlich ganz in Ordnung.
Er kam aus dem B-District, wie sie richtig vermutet hatten, war also nicht wegen der Krankenversicherung hier. Sein Grund sei, dass seine Freundin mit ihm Schluss gemacht hatte, erzählte Michael, was Jenny einerseits unglaublich blöd und andererseits irgendwie süß fand.
Nachdem sie gemeinsam stundenlang gewartet hatten und es draußen bereits dämmerte, kam schließlich einer der weißbekittelten Leute herein und sagte ihnen, sie dürften vorerst nach Hause gehen. Er sagte ihnen nicht, warum sie überhaupt hatten warten müssen, aber immerhin erfuhren sie, wann ihre Ausbildung beginnen würde.
Damit waren sie jetzt wohl offiziell Soldaten.

***​

Die Tests lagen zwei Tage zurück, der Abschied von ihrer Familie nur einige Stunden. Mom hatte ein bisschen geweint, aber immer wieder gesagt, dass sie stolz auf Jenny war. Robert hatte sie kaum angesehen und nur gesagt: „Pass auf dich auf.“ Nach dem Streit, den sie am Tag zuvor gehabt hatten, war das schon mehr gewesen, als Jenny erwartet hatte.
„Sind wir echt schon da?“ fragte Alice. „Hier ist doch nichts, oder?“
Tatsächlich sah es so als, als hätten die Busse sie mitten im Nirgendwo abgesetzt. Vor ihnen lag ein kleines Waldstück, das aus bemerkenswert gesunden Bäumen bestand, und daneben ein See, dessen Form an einen Bumerang erinnerte. Eine Postkartenidylle, scheinbar ohne irgendein Anzeichen von Zivilisation in der Nähe.
Aber dann kam jemand auf sie zu, und niemand schien sagen zu können, wo er plötzlich hergekommen war. Jennys erster Gedanke war, dass der Mann wie ihr Vater aussah – oder vielmehr so, wie ihr Vater ausgesehen hatte, bevor er krank geworden war. Er hatte kurzes graues Haar und Lachfältchen in den Augenwinkeln.
Ihr zweiter Gedanke war: Sollte er nicht eine Uniform tragen?
„Mein Name ist Sergeant Anderson“, sagte der Mann. „Willkommen in der Armee. Ich bin Ihr Ausbilder.“ Er sprach laut genug, dass ihn alle Neuankömmlinge verstehen konnten, aber schaffte es irgendwie trotzdem, einen freundlichen Plauderton beizubehalten. „Folgen Sie mir bitte, wir fangen damit an, dass ich Ihnen das Ausbildungszentrum zeige.“
Das Gemurmel, das daraufhin einsetzte, übertönte ihn beinahe.
„Ich weiß, dass Sie es nicht sehen können“, sagte Anderson völlig unbeeindruckt. „Das ist beabsichtigt. Wir wollen hier keine ungebetenen Besucher, und wir wollen nicht, dass es von Satelliten zu erkennen ist. Es ist ein unterirdischer Gebäudekomplex.“
Sie folgten ihm, und fanden sich als nächstes in riesigen, chromblitzenden Aufzugskabinen wieder, die sich fast lautlos nach unten bewegten. Weit nach unten, nach der Dauer der Fahrt zu urteilen.
Und dann begann die Führung.
Das Zentrum war riesig. Jeder achtete darauf, nicht den Anschluss zu verlieren. Hier hätte man sich wirklich buchstäblich verlaufen können. Dennoch wirkte es eng. Es war vollgestopft mit Technik, die aussah, als müsste man Jahre studieren, um auch nur zu verstehen, wozu sie diente, ganz zu schweigen davon, sie zu benutzen. Überall blinkten Konsolen und flackerten Monitore.
„Ich weiß, das wirkt alles ein bisschen einschüchternd“, sagte Sergeant Anderson fröhlich. „Und die Vorstellung, die nächsten Monate in einem Bunker zu verbringen, erscheint Ihnen jetzt vermutlich auch nicht sehr attraktiv. Aber warten Sie, bis wir zu den Freizeitangeboten kommen!“
Jemand zupfte an Jennys Ärmel, und sie drehte sich um. Es war Alice. „Das ist irgendwie komisch, oder?“, flüsterte sie. „Sollte er nicht ... ich weiß nicht ... ein bisschen militärischer sein? Du weißt schon ... strenger?“
Jenny konnte nur nicken. Sie war genauso verwirrt. Die ganze Zeit über hatte sie versucht, sich darauf einzustellen, in eine Uniform gesteckt und dann wochenlang wegen ihrer Haltung oder ihrer Frisur angebrüllt zu werden. Wenn man den alten Filmen glaubte, gehörte das einfach dazu.
Aber spätestens, als sie im Veranstaltungssaal angekommen waren und der Sergeant „seine kleine Standardrede“ hielt, wie er sagte, wurde allen klar, dass die Realität nichts mit den Filmen gemeinsam hatte.
Dies hier war die Armee von heute. Die Armee von heute war wie eine große Familie, sagte der Sergeant. Das heutige Militär war ein modernes Unternehmen, zu dessen Corporate Identity Zusammenhalt, gegenseitiger Respekt und ein freundlicher Umgangston gehörten.
Ja, es gab Uniformen, aber ... Sie waren weiß und bequem, und eigentlich sahen sie mehr aus wie Jogginganzüge. Genau genommen wirkten die Leute in diesem Aufzug weniger militärisch als vorher – selbst Michael, der schon in gewöhnlichen Klamotten wie eine Kampfmaschine aussah.
„Moderne Kriegsführung“, erzählte ihnen der Sergeant, „muss den humanitären Standards einer modernen Zivilisation entsprechen. Sie ist darauf ausgerichtet, durch Kampfhandlungen verursachtes menschliches Leid zu vermeiden, wo immer es möglich ist. Natürlich, das wissen Sie, führen nicht alle auf diese Weise Krieg. Die Menschen, gegen die wir kämpfen müssen, gegen die auch Sie kämpfen werden, kennen keine Moral. Ihnen geht es nur darum, Angst und Leid zu verbreiten und möglichst große Verluste zu verursachen. Und dabei ist es ihnen egal, ob Leute aus ihren eigenen Reihen ums Leben kommen. Sie sind im vergangenen Jahrhundert stecken geblieben, und deshalb können sie unsere Lebensweise nicht akzeptieren. Wir – Sie und ich – kämpfen im Namen von Demokratie und Menschenrechten, und deshalb tragen wir Verantwortung. Wir setzen auf Intelligenz, Flexibilität und modernste Technik, und wir tun alles dafür, dass keiner unserer Soldaten Schaden nimmt. Und natürlich sorgen wir dafür, dass die Verluste unter der Zivilbevölkerung minimal bleiben.“
Jenny stellte etwas Seltsames und Ärgerliches fest: Alles, was der Sergeant sagte, hätte sie auf der Stelle unterschrieben, und sie empfand sogar so etwas Stolz, weil sie an diesem Kampf für eine gute Sache beteiligt sein würde. Ihr gefiel das Ausbildungszentrum. Das Ausbildungszentrum war phantastisch. Es gab ein Hyperweb-Café, ein Fitness-Studio und ein Kino, und im Schlafsaal der Frauen hatte jede einen Bereich für sich, der fast doppelt so groß war wie ihr und Roberts Zimmer zu Hause. Sie war hier mit Leuten zusammen, die sie mochte. Sie vermisste ihre Eltern nur ein wenig und ihren idiotischen kleinen Bruder noch weniger. Sie war sich hundertprozentig sicher, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Und trotzdem war plötzlich eine Stimme in ihrem Kopf, die sich verdächtig nach Robert anhörte, und die sagte: Das hier ist falsch. Du wirst es bereuen, dass du dich darauf eingelassen hast. Sie konnte ihn sich richtig vorstellen, wie er mit einem „Soldaten sind Mörder“-Sandwich-Plakat in ihrem Gehirn herumspazierte.
Halt endlich die Klappe, du Spinner, dachte sie.
„Wir wollen, dass ihr Militärdienst für Sie so angenehm wie möglich ist“ sagte der Sergeant. So was bekam man in den Filmen auch nicht zu hören. „Wenn es irgendein Problem gibt, egal was, wenden sie sich vertrauensvoll an ihre Vorgesetzten.“
Ist dir schon aufgefallen, dass niemand über das Töten redet?, fragte Roberts Stimme in Jennys Kopf. Im Krieg geht es ums Töten, weißt du? Das ist der Job von Soldaten. Auch wenn es ein Kino gibt und ein Fitness-Studio und hübsche weiße Jogginganzüge und alle über Humanität und Moral sprechen, geht es letztendlich darum, andere Menschen umzubringen.
Und Jennys eigene Gedankenstimme sagte: Ich würde am liebsten mit dir anfangen! Und eine weitere Stimme fragte leise, ob es nicht ein Anzeichen von Schizophrenie sei, wenn man Stimmen im Kopf hörte.
„Sie können bei Bedarf eine exzellente psychologische und medizinische Betreuung in Anspruch nehmen“, sagte der Sergeant.
In ihrer ersten Nacht als Soldatin schlief Jenny Reilly fast überhaupt nicht.


3 Tutorial

Es war ein tolles Gefühl, zu fliegen. Die Landschaft, die unter ihr dahin glitt, das Gefühl von Macht, wenn sie eine andere Richtung vorgab und die Maschine ihrem Befehl folgte ... Man vergaß beinahe, dass es nur eine Simulation war.
Jenny hatte immer gehört, dass echte Leben hätte die beste Grafik, aber jetzt hätte sie dem widersprochen. Sie hatte schon vergleichbare Spiele gespielt und deshalb schnell gelernt, mit der Steuerung umzugehen, aber kein Spiel hatte je so realistisch gewirkt. Die Satellitenbilder, die für die Simulation verwendet wurden, waren echt, und man konnte sogar die Schatten dahinziehender Wolken darauf erkennen. Ja, Fliegen war ein tolles Gefühl, auch wenn es nicht echt war. Man konnte dabei alles um sich herum vergessen ... solange man nicht neben Alice Woods saß.
„Das ist so cool!“, sagte Alice. „Diese Satellitenbilder sind der Wahnsinn, oder? Du kannst echt alles erkennen! Ich war über der City und hab mein Viertel gefunden. Na ja, sieht von oben auch nicht viel besser aus. Aber wenn du vom Start aus nach Norden fliegst, siehst du das Zentrum ... ich meine, den See und alles. Wenn du’s nicht weißt, siehst du natürlich nichts.“
„Woods“, sagte Anderson. „Ich hatte Sie gebeten, während der Übung nicht mit den anderen Rekruten zu reden, oder nicht?“
Alice senkte schuldbewusst den Kopf. „Ja, Sir.“
„Außerdem war Ihre Route vorgegeben, nicht wahr?“
„Ja, Sir.“
„Wie kommt es dann, dass Sie eine ganz andere Route geflogen sind und mit Reilly darüber reden?“
Alice stoppte das Programm und drehte sich zu ihm um. „Na ja, Sir. Wenn Sie es wirklich wissen wollen: Mir war langweilig.“
Jenny hielt die Luft an. Alice hatte es innerhalb einer Woche geschafft, sich mehrfach mit Anderson anzulegen. Er beobachtete sie andauernd. Natürlich, er war nett, und soweit sie wusste, hatte er bisher noch immer niemanden angebrüllt. Aber für so eine Nummer konnte er sie trotzdem bestrafen. Und würde es wahrscheinlich auch tun. Sie glaubte die Dinge nicht, die Robert über Militärgefängnisse erzählte, aber trotzdem war es ziemlich sicher eine schlechte Idee ...
„Ihnen war langweilig?“, fragte der Sergeant. Er stand jetzt direkt hinter den beiden Mädchen.
Jenny konnte sich nicht mehr konzentrieren. Sie hielt die Simulation ebenfalls an, und hoffte einfach, dass der Sergeant sie in seinem Ärger auf Alice übersehen würde.
Alice verschränkte die Arme vor der Brust. „Also, ich will mich ja nicht beschweren, Sir, aber als ich anfing, dachte ich, wir bekommen wenigstens ein MG und so, und jetzt sitzen wir schon tagelang vor einem Flugsimulator und üben das Fliegen von A nach B, und das Ganze dauert auch noch ewig, weil manche Leute, wie Blondie da drüben, es immer noch schaffen, abzustürzen oder in Häusern zu landen.“
„Sie sind ungeduldig, Woods. Das ist kein Problem, solange Sie nur mit einem Flugsimulator spielen. Aber sobald sie wirklich im Krieg sind, werden die Maschinen ungeduldiger Leute sehr schnell abgeschossen und kosten die Regierung einen Haufen Geld“, sagte Anderson. Er sprach immer noch ruhig und freundlich.
„Ich weiß, aber ...“
„Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Sie lernen, wie man nicht abgeschossen wird“, sagte der Sergeant. „Und deshalb wäre ich gezwungen, Ihren Sold zu kürzen, wenn Sie noch einmal einen Befehl missachten, auch wenn ich das nicht gern tun würde. Haben wir uns verstanden, Woods?“
„Ja, Sir“, sagte Alice. Jetzt klang sie ziemlich kleinlaut. „Es wird nicht wieder vorkommen.“
„Da Sie das hier offensichtlich beherrschen ... kann ich noch etwas anderes mit Ihnen besprechen“, sagte er. „Es gab da ein kleines Problem mit Ihren Anmeldungsdaten. Ihre Geburtsurkunde ...“
Alice schloss die Augen. „Oh, nein, Sir. Das ist nur ... ich kann das erklären ...“
„Ich wollte Ihnen nur sagen, dass das Problem behoben wurde. Das Datum in der Urkunde wurde korrigiert. Wir wollen eine talentierte junge Frau wie Sie nicht wegen bürokratischer Nebensächlichkeiten verlieren. Vor allem nicht, wenn drei jüngere Geschwister von ihrem Job abhängig sind. Wir haben in solchen Fällen immer eine sehr ... soziale Einstellung vertreten.“
Jenny fühlte sich seltsam unwohl, als sie die Erleichterung in Alices Gesicht sah.
„Danke!“, sagte Alice, und sah mehr denn je aus wie ein kleines Mädchen. „Danke, Sir!“
Anderson lächelte milde. „Versauen Sie es nicht, Woods. Verhalten Sie sich wie eine Erwachsene, klar?“
„Absolut klar, Sir!“
Anderson ging weiter, um die Frage eines anderen Rekruten zu beantworten.
Jenny sah Alice fragend an. Die lächelte schief. „Das war knapp, oder?“
„Wie alt bist du wirklich?“
„Das ist doch jetzt ...“
„Wie alt?“
„Fünfzehn. Aber wenn du es noch jemandem erzählst, bring ich dich um.“
„Scheiße“, sagte Jenny. „Du bist ein Kindersoldat! Und ... und du fliegst besser als ich!“

***​

Als das Gerücht das erste Mal aufgekommen war, hatten sie es alle für einen Witz gehalten. Dass Leute aus dem C-District von der Armee lieber genommen wurden, weil sie im Schnitt wesentlich mehr Zeit mit PC-Spielen verbracht hatten und deshalb besser mit den Simulationen umgehen konnten als Leute aus den besseren Stadtteilen ... lächerlich! Wann wurden Leute aus dem C-District schon mal bei irgendetwas bevorzugt?
„Aber langsam neige ich dazu, es zu glauben“, sagte Henry. „Seht euch den reichen Jungen doch an! Kommt immer noch nicht mit der Steuerung zurecht.“
„Haha!“ gab Michael zurück, doch es war ihm anzusehen, dass er das überhaupt nicht witzig fand. Auf dem Monitor vor ihm waren die qualmenden Überreste seiner glücklicherweise nur virtuellen Maschine zu sehen, und die Blicke des ganzen Teams waren auf ihn gerichtet.
„Es geht nicht um Selbstmordattentate, weißt du? Das überlassen wir dem Feind“, stichelte Henry.
„Jetzt lass ihn doch in Ruhe“, sagte Jenny. „Wir machen alle mal Fehler.“
„Oh ja, und die Liebe verzeiht sie alle“, sagte Henry grinsend.
„Jetzt hör auf damit! Wir sind ein Team! Wir sollen zusammenarbeiten und uns nicht gegenseitig fertigmachen. Und wir sollten jetzt endlich diese blöde Fabrik sprengen.“
Jennys Stimme klang ruhig, aber sie war sich sicher, dass ihr Gesicht knallrot war. Verdammt! Alle Mädchen waren doch ein bisschen in Michael verknallt, aber sie war natürlich die einzige, die damit aufgezogen wurde. Sie vermied es, ihn anzusehen, und hoffte, dass er nicht bemerkt hatte, wie sie rot geworden war.
„Na los, dann lasst uns noch mal starten“, sagte Henry. Anderson hatte ihn schon sehr früh zum Teamchef ernannt. So hieß es tatsächlich, und auch wenn sich das nicht gerade nach einem militärischen Rang anhörte, bedeutete es doch, dass er während der Übung das Sagen hatte.
Michael gab ein unwilliges Geräusch von sich. „Ich verstehe einfach nicht, wozu das gut sein soll“, murmelte er.
„Was? Eine Waffenfabrik zu sprengen?“, fragte Alice.
„Eine virtuelle Waffenfabrik zu sprengen, während die Arschlöcher da draußen echte Waffen bauen und benutzen“, sagte Michael. „Ich meine, wir sollten kämpfen, und sie lassen uns nur irgendwelche blöden Spiele spielen.“
„Du wirst den richtigen Krieg noch früh genug sehen“, sagte Henry. „Und glaub mir, echte Explosionen sind nicht so toll. Komm schon, wir starten noch mal. Versuch, diesmal in der Formation zu bleiben, lass die Bombe fallen, wenn ich es sage ... und, äh ... achte diesmal darauf, wo du hinfliegst.“
„Ja, Sir“, antwortete Michael ohne besondere Begeisterung.
Die virtuellen Bomber starteten und erreichten ihre Flughöhe innerhalb weniger Minuten. Das Gefühl tatsächlich abzuheben und zu fliegen, hatte den Reiz des Neuen für Jenny bereits verloren, und es langweilte sie, immer wieder das Gleiche tun zu müssen. Aber es war nicht möglich, diese Sequenz zu überspringen, denn ein echtes Flugzeug würden sie ja auch jedes Mal starten und landen müssen.
Immerhin erreichte ihre Formation die Zielkoordinaten ohne Zwischenfälle, und als Jenny das Fabrikgelände auf dem Monitor auftauchen sah, begann sie zu glauben, dass sie es diesmal schaffen könnten.
„Okay, Mädels“, sagte Henry. „Auf mein Kommando ... jetzt!“
Und endlich regneten Bomben auf die Fabrik herab. Bis auf ein paar Rauchwolken war nicht viel von dem zu erkennen, was sie unten bewirkten, aber das würde bei einem echten Flug auch so sein. Sie hatten es geschafft. Jenny hätte am liebsten gesungen ... bis sie die kleinen Punkte bemerkte, die sich der Formation näherten.
„Scheiße“, sagte Michael. „Da sind die Abfangjäger! Wieso tauchen die jetzt schon auf?“
„Weil ein Zufallsgenerator bestimmt, wann sie auftauchen. Bleib cool, Junge“, sagte Henry.
Aber Jenny ahnte, dass Michael wieder denselben Fehler machen würde wie bei den Versuchen davor. Und er war einfach nicht schnell genug. Sie würden diese verdammte Übung wieder nicht abschließen. Es sei denn...
„Dreh ab, Michael“, sagte sie. „Schnell! Ich versuche ein Ablenkungsmanöver.“
„Hey, ich bin der Boss!“ sagte Henry. „Und ich sage, Michael dreh ab, und Jenny, versuch ein Ablenkungsmanöver. Diese KI ist ziemlich dämlich. Du solltest es eigentlich schaffen.“
Jenny hörte ihn kaum noch. Sie konzentrierte sich nur noch auf ihre Aufgabe. Wenden, ausweichen, feuern ... das hier war nichts anderes als die PC-Spiele, mit denen sie sich endlose Nachmittage vertrieben hatte, seit sie ein kleines Mädchen war. Und Henry hatte Recht, die KI der Abfangjäger war wirklich ziemlich leicht auszutricksen.
Als sie die Maschine landete, dachte sie bloß: Das könnte für einen Highscore-Listenplatz reichen. Sie war überrascht, als sie feststellte, dass ihre Teamkameraden sie mit offenem Mund anstarrten.
Nur Henry schien nicht besonders erstaunt zu sein. „Gut gemacht. Ich dachte mir, dass du das hinkriegst“, sagte er.
„Wow“, sagte Alice. „Das erste Mal, dass wir kein Flugzeug verloren haben. Das war cool, wie du den einen abgeschossen hast. Echt, ich dachte, der erwischt dich, und dann - Bamm! Cool.“
Jemand, den Jenny nur vom Sehen kannte, klopfte ihr auf die Schulter.
„Hey, das war wirklich klasse, Reilly.“
Sie fühlte, dass die Röte wieder in ihr Gesicht kriechen wollte.
Sie war ziemlich erleichtert, als ein Signalton ihnen mitteilte, dass es Zeit für ihre Pause war und die meisten Leute nach und nach den Raum verließen. Alice machte Platz, damit Henry mit seinem Rollstuhl vorbei konnte, dann fragte sie: „Kommst du, Jenny?“
„Ich lese mir noch die Auswertung der Übung durch.“
„Okay, Streber, wir sehen uns beim Essen!“
Alice und Henry verschwanden.
Und erst da bemerkte sie, dass Michael noch neben ihr stand. Als hätte er darauf gewartet, dass die anderen gingen.
„Danke“, sagte er. „Du hast meinen Arsch gerettet!“
„Es ist ja bloß ein Spiel“, sagte sie. „Ich hab als Kind sehr viel solches Zeug gespielt, weißt du. Eigentlich immer. Ist alles Übungssache.“ Sie ertappte ihre Hand dabei, wie sie in ihren Haaren fummelte, und zog sie zurück, als hätte sie sich verbrannt.
„Du bist cool“, sagte Michael.
„Danke“, sagte Jenny. Sie fühlte, wie ihr Gesicht heiß wurde, und ärgerte sich. Weil er sehen würde, wie sie rot wurde, und weil sie es nicht schaffte, zu sagen: Du auch.
„Und ziemlich süß“, sagte er.
Jenny sah zu ihm auf.
„Du ... baggerst du mich grade an?“, fragte sie.
„Ich dachte, das wäre ziemlich offensichtlich“, sagte er.
Ein paar Tage später wusste dann auch der letzte Idiot im Ausbildungszentrum, dass Michael Sutherland und Jenny Reilly ein Paar waren. Sie waren die ersten, deshalb wurde am Anfang fast nur über sie getratscht. Später wurden Pärchen dann ziemlich normal, wie es in einer Umgebung voller gesunder junger Leute beiderlei Geschlechts zu erwarten war, und das Interesse an ihnen ebbte wieder ab. Aber solange es anhielt, war es cool ... wenn auch ein bisschen peinlich.
Sie wusste, dass sie eigentlich nicht zueinander passten. Er war groß und muskulös und sah aus wie ein Superheld, und sie: leicht übergewichtig und bestenfalls durchschnittlich hübsch. Und, viel wichtiger als das: Sie war ein Mädchen aus dem C-District, und er war ein B-Boy.
Das bedeutete, sie waren auf verschiedene Schulen gegangen, sie hatten verschiedene Spiele gespielt, verschiedene Fernsehsender gesehen, ja, sie verwendeten zum Teil sogar verschiedene Wörter für bestimmte Dinge. Sie konnte mit Michael nicht normal reden, jedenfalls nicht so, wie sie mit Alice oder Henry reden konnte. Außerdem suchte er im Grunde doch nur nach jemandem, der ihn seine Exfreundin vergessen ließ. Es würde nicht ewig halten, das war ihr klar.
Und trotzdem ... Es war cool, wie alle grinsten oder die Augen verdrehten, die sie zusammen sahen. Es war cool, sagen zu können: Ich habe einen Freund. Und es war cool, mit ihm zu schlafen ... wenn auch ehrlich gesagt nicht so toll, wie sie sich vorgestellt hatte.

***​

Es war wirklich unglaublich, wie die Zeit vergangen war. Als der Befehl kam, sich am Abend im Veranstaltungssaal einzufinden, stellten sie alle fest: Acht Wochen? Wie konnte das sein? Und sie ahnten alle, was es bedeutete. Das Spiel war zu Ende. Von jetzt an würde es ernst werden.
Richtige Waffen, dachte Jenny. Wir werden schießen ... lernen, wie man Bomben entschärft...
Sie hätte es niemals zugegeben, aber die Vorstellung machte ihr ein wenig Angst. Wenn es daran ging, tatsächlich auf Menschen zu schießen (und auf sich schießen zu lassen), dann konnte man unter Freunden vielleicht vorsichtig andeuten, dass man die Hosen voll hatte. Aber wenn man zugab, dass man Schiss davor hatte, eine Waffe bloß in die Hand zu nehmen, würde man sich einfach lächerlich machen. Also hatte sie denen, die sagten, es würde auch Zeit, dass sie endlich etwas anderes taten als Computer zu spielen, lauthals zugestimmt.
Obwohl Computerspielen das einzige ist, was ich kann.
„Wir sind sehr zufrieden mit den bisherigen Ergebnissen des Trainings“, sagte Anderson. „Die meisten von Ihnen haben großartige Leistungen gezeigt. Wir glauben deshalb, dass es an der Zeit ist, mit der zweiten Stufe Ihrer Ausbildung zu beginnen.“
Die Anspannung im Saal war jetzt fast greifbar. Jenny tastete nach Michaels Hand und hielt sie fest.
„Sie werden von jetzt an mit Simulationen konfrontiert werden, deren Schwierigkeitsgrad deutlich erhöht ist, und die reale Kampfsituationen viel realistischer wiedergeben.“
Jenny sah zu ihren Freunden. Auf ihren Gesichtern sah sie dieselbe Verwirrung, die in ihrem Kopf herrschte. Immer noch Simulationen? Oh Mann, kein Wunder, dass wir seit über dreißig Jahren Krieg führen.
Einige Rekruten sahen regelrecht verärgert aus.
„Ich weiß, dass viele von Ihnen erwartet haben, dass wir von nun an über Simulationen hinaus gehen würden, und wir wissen es natürlich zu schätzen, dass sie so ungeduldig darauf warten, ihren Wert im Kampf für unser System zu beweisen. Aber ich versichere Ihnen, es gibt einen guten Grund, warum das Training so aufgebaut ist. Unsere Erfahrung hat uns die beste Strategie gelehrt, die Verluste unter unseren Leuten gering zu halten. Und das ist es doch, worauf es ankommt.“
Andersons Rede war beendet. Alle applaudierten, und niemand hob die Hand, um eine Frage zu stellen. Das Spiel würde also noch eine Weile weiter gehen. Wer waren sie schon, sich darüber zu beschweren?


4 Erhöhter Schwierigkeitsgrad

Es sah immer noch aus wie ein Computerspiel. Sie schalteten ihre Monitore ein, starteten ein Programm, das eigentlich genauso aussah wie in den Übungen davor, und die Worte „Willkommen, Pilot!“ leuchteten vor ihnen auf, bevor das vertraute Cockpit zu sehen war.
Aber dies war Stufe Zwei, sagte Sergeant Anderson.
Es war streng verboten, Stufe Zwei in Abwesenheit eines Vorgesetzten zu starten. Diese neue Software sei teuer und störungsanfällig, aber vor allem ginge es darum, ihnen das Gefühl zu geben, dass es jetzt ernst wurde, damit sie dem wirklichen Ernstfall gewachsen wären.
Ein Fehler würde sie zwar in diesem Fall nicht umbringen, aber er würde disziplinarische Maßnahmen nach sich ziehen. Umgekehrt würden aber die Erfolge, die ein Team hätte, ähnlich bewertet werden wie ein wirklicher militärischer Erfolg. Man konnte dafür sogar befördert werden.
Die meisten verzogen darüber verächtlich das Gesicht, aber Jenny wusste, dass es auch den Ergeiz der Leute geweckt hatte. Ihr ging es ja selbst nicht anders. Sie wollte, dass ihr Team besser war als die anderen – auch wenn der Krieg, in dem sie sich auszeichneten, nicht echt war.
Der Umgang mit dem Programm fiel ihr nicht schwerer als die Übungen vorher. Die Unterschiede waren wirklich minimal. Aber etwas gab es, das ihr zu schaffen machte.
Rote Punkte.
„Wärmebildkameras“, hatte Sergeant Anderson erklärt. „Diese Dinger sind so empfindlich, dass sie tatsächlich die exakte Position einzelner Personen ausmachen können. Und unsere intelligenten Bomben sind so präzise, dass Sie es in den meisten Fällen vermeiden können, Zivilisten zu treffen. Wenn die Situation es erlaubt, können Sie vor dem Abwurf auch ein Warnsignal geben, damit sich die Leute vom Zielort entfernen. Sie wissen ja, dass wir den größten Wert darauf legen, menschliches Leben zu schonen.“
Die Bedeutung der roten Punkte war also klar. Das Problem war nur: Niemand kümmerte sich darum. Sie flogen weiterhin ihre Zielkoordinaten an und warfen ihre virtuellen Bomben ab, als seien die Punkte gar nicht da.
Jenny erinnerte sich daran, wie Robert einmal eine dieser uralten Webseiten ausgedruckt hatte, die ihm so viel bedeuteten. Eine der wirren Verschwörungstheorien, die dort diskutiert wurden, war, dass Gewalt in Computerspielen die Spieler abstumpfte, sie auch gegenüber realer Gewalt unempfindlicher machte, und dass das auch der Grund sei, warum das Militär solche Spiele zur Ausbildung seiner Soldaten benutzte. Sie glaubte, dass Robert ihr diesen Blödsinn nur vorgelesen hatte, weil er ein miserabler Spieler war und sie ihn bisher noch in jedem Geschwisterwettstreit platt gemacht hatte.
Das zeigte doch wieder einmal, was für ein Spinner ihr kleiner Bruder war. Es ging in Stufe Zwei ja nicht darum, gewalttätig gegen die roten Punkte zu sein. Sie sollten trainieren, die roten Punkte zu verschonen, wenn es möglich war. Nur die Infrastruktur des Feindes sollte zerstört werden. Je geringer die Zahl ziviler Opfer, sagte der Sergeant oft, umso größer der Triumph über den Terrorismus.
Leider schienen ihre Freunde Andersons Vorträgen weniger Aufmerksamkeit zu widmen als Jenny das tat. Sie wussten ja auch nichts von Robert und seinem Schwachsinn.
„Wir bekommen Punkte dafür, Scheiße in die Luft zu sprengen, nicht dafür, ein paar Pixel vorzuwarnen“, sagte Alice. „Und Mann, mehr Punkte heißt vielleicht irgendwann Beförderung. Also mehr Geld.“
„Aber die Pixel stehen für echte Menschen“, sagte Jenny gereizt. „Wenn wir irgendwann richtige Bomben abwerfen, wäre es gut, wenn wir daran gewöhnt sind, sie nicht zu treffen.“
„Du nimmst das alles viel zu ernst“, meinte Henry, und viel mehr sagte er nicht zu dieser Diskussion. Er sah das Ganze noch immer als Sport, glaubte Jenny.
„Ich meine ja bloß ...“ fing sie an, aber Michael unterbrach sie.
„Baby“, sagte er und tätschelte ihren Arm. „Das ist ein Spiel, okay? Wir sind noch keine richtigen Soldaten. Wir werfen keine echten Bomben. Jetzt ist bloß die Beurteilung unseres Teams wichtig. Die Pixel sind egal. Okay?“
Ein Teil von ihr wurde wütend auf ihn, wollte ihm sagen, er sollte aufhören, so scheißarrogant zu sein, aufhören, an ihr rumzufummeln, er sollte sie gefälligst nicht Baby nennen und sie vor allem nicht so behandeln, als wäre sie eins.
Aber ein anderer Teil hielt sie zurück. Dieser Teil sagte, na schön, sie würden nicht für ewig zusammen sein, aber sie müsste es ja nicht jetzt gleich versauen mit ihm. Er war ihr erster richtiger Freund, und er war nett und clean, nicht wie diese Idioten, mit denen sie in der Schule was gehabt hatte.
„Ja, okay“, sagte sie, obwohl es nicht das war, was sie dachte.

***​

Aber natürlich hatten ihre Freunde recht gehabt. Es war lächerlich gewesen, sich deswegen fast mit ihnen zu streiten. Man gewöhnte sich an alles, selbst an die roten Punkte im Blickfeld. Es war immer noch ein Spiel, nur ein wenig komplexer. Und während Jenny spielte, konnten sie zuhause die Rechnungen bezahlen und sogar ab und zu die Medizin für Dad kaufen, die es einigermaßen erträglich machte. Das allein machte es ihr leicht zu vergessen, dass es irgendwann kein Spiel mehr sein würde.
„Diese Übung ist so konzipiert, dass sie einem echten Einsatz so nahe kommt wie irgend möglich“ sagte der Seargant. „Ihr Ziel ist die Zerstörung einer Brücke, die der Feind für Ressourcen- und Waffenlieferung nutzt. Sie müssen mit Widerstand rechnen, also seien Sie schnell.“
Es war eine spezielle Übung nur für Henrys Team, und auch das war neu. Sie waren allein mit Anderson, und zweifellos würde er die ganze Zeit über hinter ihnen stehen und sich Notizen machen. Jennys Puls wurde schneller.
Robert machte sich immer über sie lustig, weil sie sich in ein Spiel so hineinsteigern konnte, und weil ein Punktestand ihr den ganzen Tag retten oder verderben konnte. Aber genau das war der Grund, warum sie so gut darin war, und warum sie ihn jedes einzelne Mal geschlagen hatte.
„Los geht’s“, sagte Henry „Macht sie fertig, Mädels. Und Mike, versuch nicht abgeschossen zu werden.“ Als Freundin fühlte sich Jenny verpflichtet, Henry einen missbilligenden Blick zuzuwerfen, obwohl ihr eigentlich nach Lachen zumute war.
Aber dann blendete sie die anderen einfach aus, blendete alles aus, was nicht mit der Steuerung zu tun hatte. Ihre Freunde wurden zu Punkten auf dem Monitor.
Sie erreichten die Brücke schnell. Jenny sah all die roten Punkte, die Menschen symbolisierten, doch diesmal schenkte sie ihnen keine Beachtung. Nichts war wichtig. Selbst das Gefühl, einem Test unterzogen zu werden und der Wunsch zu bestehen verblassten.
Es ging schnell – sie warfen ihre Bomben ab, wendeten, flogen zurück. Sie sahen sich nicht an, was mit der Brücke oder der Umgebung geschah, denn das würde am Ende auf dem Auswertungsmonitor stehen.
„Mission erfolgreich“ verkündete das kleine Fenster, und dann eine Menge Daten über Fluggeschwindigkeit und Zielgenauigkeit, denen niemand mehr Beachtung schenkte. Die Realität kam zurück, und die vier grinsten sich an. Sie sagten Sachen wie „Ganz okay, oder?“, aber keiner war überrascht, als Anderson sagte: „Das war Ihre beste Leistung bisher.“
Als sie an diesem Tag Schluss machten, fragte sich Jenny, warum sie jemals nach einem anderen Job gesucht hatte. Sie war für das hier praktisch geboren.


5 Endgegner

Die abendlichen Telefongespräche mit ihren Eltern liefen eigentlich immer gleich ab. Jenny interessierte sich nicht sonderlich für die Neuigkeiten über Leute aus der Nachbarschaft (Shirley Mayfield ist schon wieder schwanger, Jeff Dunn hat noch einen Entzug gemacht), die sie nur vage kannte, aber sie hörte ihnen geduldig zu. Ihr ging es nur darum, ihnen zu sagen, dass sie sie liebte. Und natürlich darum, zu hören, dass es ihnen gut ging, obwohl sie wusste, dass es im Fall ihres Vaters eine Lüge war.
Sie war überrascht, als ihre Mom sagte, dass sie nicht auflegen sollte, weil Robert auch noch mit ihr reden wolle, aber sie freute sich. Es wurde schließlich langsam Zeit, dass er aufhörte, sauer auf sie zu sein, weil sie das einzig Richtige getan hatte. Sie würde nicht nachtragend sein, beschloss sie. Immerhin war sie die große Schwester.
„Hi, Kleiner!“, sagte sie fröhlich.
„Jenny, bist du allein?“
„Was? Im Moment ja, die meisten sehen sich grade einen Holofilm an.“
„Ich muss unbedingt mit dir reden“, sagte Rob. „Es ist sehr wichtig.“
„Na dann, schieß los. Ich habe Zeit, heute gibt’s für uns kein Training mehr.“
„Nicht am Telefon“, sagte er.
Jenny verzog das Gesicht. „Oh, bitte! Geht das jetzt wieder los! SIE sind da draußen und überwachen uns alle?“
„Bitte, Jenny, lass das jetzt. Das ist kein Witz. Versuch, Urlaub zu bekommen. Oder hau dort ab, wenn es sein muss. Aber bitte komm her und hör dir an, was ich zu sagen habe. Es geht um ... komm einfach her. Bitte.“
Sie hatte einen Witz darüber machen wollen, dass er sie nur als Deserteurin in den Knast bringen wollte, aber sie ließ es bleiben. Das war nicht bloß seine übliche Paranoia und Wichtigtuerei. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Rob jemals freiwillig „bitte“ gesagt hätte. Und er hatte sich richtig verzweifelt angehört. Zum ersten Mal dachte Jenny darüber nach, ob ihr Bruder vielleicht nicht einfach nur ein Spinner war ... sondern einer, der Hilfe brauchte.

***​

Natürlich nervte es, um Urlaub bitten zu müssen, weil ihr kleiner Bruder plötzlich Angst vorm Telefonieren hatte. Aber auf der anderen Seite gab es ihr irgendwie ein gutes Gefühl. Sie kam sich sehr erwachsen und verantwortungsvoll vor.
„Eine Familienangelegenheit?“ fragte Sergeant Anderson. An seinem mitfühlenden Tonfall merkte sie, dass er falsche Schlüsse zog. Er wusste von der Krankheit ihres Vaters und dachte sicher, es ginge darum. Jenny hielt es für besser, ihn in diesem Glauben zu belassen.
„Ja, Sir“, sagte sie. „Ich würde auch nur zwei Tage brauchen.“
„Unterschreiben Sie den Antrag“, sagte er. „Ich werde sehen, was ich tun kann.“
„Vielen Dank, Sir.“
Sie bekam den Urlaub. Anderson war ein Mann, der sein Wort hielt.
Es war ein seltsames Gefühl, wieder nach Hause zu kommen. Weil es sich nämlich gar nicht mehr wie zu Hause anfühlte. Zu Hause, das war jetzt das Ausbildungszentrum, das waren ihre Freunde,
ihr Team ... und Michael. Inzwischen glaubte sie, ihn ein bisschen zu lieben.
Ihre Eltern waren ziemlich aufgekratzt, seit sie angekommen war. Sie hatten ihretwegen sogar echtes Obst gekauft. Und beide strichen immer wieder über ihre Uniform. Ein so blendend weißes Kleidungsstück hatte es im Hause Reilly noch nicht gegeben.
Robert sah bleich und übernächtigt aus (was normal war) und er sagte nicht besonders viel (was absolut nicht normal war). Während des Essens bestritt Jenny den größten Teil des Gesprächs, und danach ging er sofort in sein Zimmer. Sie war schon etwas gereizt, als sie ihm dorthin folgte. Da war sie extra seinetwegen hierher gekommen, und er benahm sich, als wäre sie gar nicht anwesend!
„Wolltest du nicht mit mir reden?“, fragte sie.
„Ich hole nur meine Jacke. Wir gehen spazieren“, sagte er.
„Bitte? Die frische Luft genießen, die von der Müllkippe rüberweht, oder was? Seit wann verlässt du überhaupt freiwillig die Wohnung?“
Er sah sie seltsam an. Seine Augenringe sehen schlimmer aus als sonst, dachte sie. Als hätte er mehrere Nächte durchgemacht. Oh Gott, ich hoffe bloß, es ist nicht irgendwelcher Drogenscheiß.
„Lass uns einfach gehen“, sagte Robert. „Ich will nicht, dass uns jemand zuhört.“
Jetzt verstand sie. „Oh Mann, du bist wirklich durchgeknallt, oder? Du denkst doch nicht ernsthaft, dass dich jemand abhört!“
„Komm einfach. Etwas frische Luft kann dir nicht schaden, immerhin wohnst du seit Monaten in einem Bunker“, sagte Robert.
„Na schön“, sagte Jenny. „Na schön. Aber ich hoffe für dich, dass du mir wirklich etwas Wichtiges zu sagen hast.“
Sie gingen etwa zehn Minuten schweigend nebeneinander her, bevor sie die Geduld verlor.
„Was ist, Robert? Ich habe meinen Urlaub hierfür geopfert! Ich weiß, du kannst mich nicht mehr besonders gut leiden, seit ich gegen deine hirnrissigen pazistischen Ideen verstoßen habe ...“
„Pazifistisch“, sagte er.
„Mir doch egal! Entweder du sagst mir jetzt, warum ich herkommen sollte, oder ...“
„Es tut mir leid, ehrlich“, sagte er. „Ich weiß einfach nicht, wie ich anfangen soll.“
Er sieht richtig beschissen aus, dachte sie. Beinahe tat es ihr schon leid, dass sie ihn so angefahren hatte.
„Erinnerst du dich noch daran, wie ihr bei einer Übung diese große Brücke zerstört habt?“, fragte er. „Du hast Mom und Dad am Telefon erzählt, dass dein Team eine Belobigung bekommen wird, weil ihr so gut wart.“
„Klar. Und?“
„Am selben Tag ist in einem umkämpften Gebiet eine echte Brücke von unseren Flugverbänden zerstört worden“ sagte Robert. „Eine große. Sie wurde hauptsächlich zivil genutzt. Dabei sind über siebzig Menschen gestorben, darunter dreißig Kinder in einem Schulbus.“
„Ja, das ist schlimm“, sagte Jenny. „Aber es sterben auch jeden Tag Kinder auf unserer Seite, und es würden noch viel mehr sterben, wenn wir nicht gegen die Terroristen kämpfen würden. Hast du mich wirklich hierher geholt, um diese Diskussion noch mal durchzukauen?“
Er schüttelte den Kopf. „Darum geht’s nicht, Jenny. Ehrlich. Ich ... meine Freunde und ich glauben ... Du hast doch immer erzählt, wie realistisch dir das Training vorkommt. Und ... es gibt ferngesteuerte Flugzeuge, weißt du, bei bestimmten Modellen ist im Grunde gar kein Pilot nötig, der drin sitzt. Eine kleine, leichte Drohne, ausgerüstet mit ein paar Kilogramm Sprengstoff, das reicht im Grunde schon, wenn die Ladung an der richtigen Stelle abgeworfen wird. Jemand kann so ein Ding aus sicherer Entfernung von einem Rechner aus bedienen. Derjenige müsste im Grunde nicht mal wissen, dass er wirklich eine Maschine steuert. Man könnte ihm einreden, dass er eine sehr realistische Simulation sieht. Dass er im Grunde nur ein Computerspiel spielt.“
Jenny starrte ihn an und wartete darauf, dass er anfangen würde zu lachen. Aber er lachte nicht.
Sie sagte: „Sehr witzig, Robert. Ich kann nicht glauben, dass ich dafür hergekommen bin.“
Und er lachte immer noch nicht.
„Überleg doch mal“, sagte er. „Ihr seid in Sicherheit in eurem Bunker, und total von der Außenwelt abgeschottet. Schaut auf Monitore und drückt nur ein paar Tasten. Ihr wisst nicht, dass das, was ihr macht, reale Konsequenzen hat, also muss niemand von euch ein schlechtes Gewissen haben. Ihr seid die perfekten Soldaten!“
„Wir sind in der Ausbildung!“ sagte Jenny, und erst hinterher wurde ihr bewusst, dass sie beinahe geschrieen hatte. „Wir werden mit Computersimulationen auf die echten Einsätze vorbereitet!“
„Das sagen sie euch. Aber woher weißt du, dass das stimmt? Du bist jetzt schon fast ein halbes Jahr dort. Glaubst du wirklich, sie könnten es sich leisten, so viel Zeit in eure Ausbildung zu investieren?“
Sie wollte sagen, ein halbes Jahr, das sei doch Schwachsinn, doch als sie nachrechnete, merkte sie, dass er Recht hatte.
„Sie sind eben gründlich bei der Vorbereitung“, sagte sie. „Damit wir später keine Fehler machen. Wir verlieren schon genug Leute im Krieg ...“
„Ja“, sagte Robert. „Zivilisten. Wir verlieren Zivilisten. Ich höre jeden Tag davon, dass Leute auf dem Weg zur Arbeit von einer Bombe zerfetzt wurden. Aber ich habe seit Jahren nichts mehr davon gehört, dass Soldaten gefallen sind. Hast du?“
„Natürlich sterben Soldaten! Siehst du keine Nachrichten? Sie lesen jeden Abend die Namen vor!“
„Ich meine nicht in den Nachrichten. Namen kann man sich ausdenken. Ich meine von Leuten, die du kennst. Oder die jemand kennt, den du kennst. Aus unserem Viertel sind fast alle in deinem Alter bei der Armee. Aber keinem von denen ist je etwas passiert. Ist das nicht ziemlich eigenartig? Oder kennst du etwa jemanden? Hast du schon mal mit irgendjemandem gesprochen, der wirklich gegen Terroristen gekämpft hat, mit einer Waffe in der Hand? Hat irgendjemand in eurem Laden schon mal was anderes gemacht, als vor dem Computer zu sitzen und Tasten zu drücken? Irgendeiner von deinen Freunden? Oder deinen Vorgesetzten?“
Jenny öffnete den Mund, um zu antworten, bevor ihr auffiel, dass sie tatsächlich noch nie mit jemandem über den echten Krieg gesprochen hatte, der außerhalb des Bunkers stattfand. Sie wusste natürlich, dass es Leute geben musste, die gekämpft hatten und gefallen waren ... aber sie konnte niemanden nennen. Und ein anderes Argument würde Robert sicher nicht gelten lassen.
Da ihr dieses Argument fehlte, wurde sie noch ein wenig lauter. „Das ist doch alles totaler Schwachsinn! Das kommt nur davon, dass du zu viele Blogs von irgendwelchen Verrückten liest! Du kannst nicht aus einer einzigen Brücke eine Riesenverschwörung konstruieren! Woher willst du überhaupt wissen, dass das am selben Tag war wie unsere Übung?“
„Von ausländischen Hyperwebseiten“, sagte er, als sei das selbstverständlich.
„Feindlichen Seiten?“, fragte sie scharf. Es war ja schon schlimm genug, dass er sich den ganzen unkontrollierten, vorsintflutlichen Quark aus dem Internet reinziehen musste, aber sie hatte sich nicht vorstellen können, dass er so weit gehen würde, Hacker zu spielen, um die Kontrollen zu umgehen und terroristische Propagandaseiten zu lesen. Das war ein Verbrechen. Wenn er dabei erwischt wurde, würde er für lange Zeit hinter Gittern landen.
„Die Propaganda beider Seiten zu kennen, ist die einzige Möglichkeit, der Wahrheit nah zu kommen“, sagte Robert und brachte sogar eine Art Grinsen zustande.
„Das ist nicht witzig, Rob.“
„Nein, ist es nicht. Das schlimme daran ist, dass sie sich so ähnlich sind. Feige Terroranschläge, die Unschuldige treffen.“
„Du kannst doch nicht einfach ...“
„Verstehst du, bei ihnen muss es ganz genau so sein. Irgendwo weit hinter der Grenze gibt es einen Bunker, wo man ein paar Leuten einredet, sie würden ein paar sehr realistische Computerszenarien benutzen, um zu lernen, wie man Bomben abwirft. Die drücken fröhlich ein paar Knöpfe, und irgendwo bei uns sterben wieder ein paar Dutzend Leute. Die sind unsere Terroristen ... und du und deine Freunde ... ihr seid ihre.“
Er hatte sich in Rage geredet und war dabei immer schneller geworden. Jenny griff nach seinem Arm, um ihn einzuholen, dann blieb sie stehen und sah ihm direkt in die Augen. „Hör mal zu“, sagte sie. „Ich sag das jetzt nicht, um dich fertigzumachen, sondern ganz ernsthaft. Ich glaube, du solltest mal mit einem Psychodoktor reden.“
„Du willst es doch bloß nicht wahrhaben, Jenny. Bei der Musterung gibt es einen Faktor namens „G-Score“, sagt dir das was? G steht für Game. Der Wert ergibt sich daraus, wie oft du Computerspiele gespielt hast, vor allem Kriegsspiele. Wieso sollte so was jemanden zum Soldaten qualifizieren, wenn das, was ich dir erzählt habe, nicht stimmt?“
„Weil das etwas ganz anderes heißt“, sagte Jenny. Sie erinnerte sich an das „Überdurchschnittlich“, das in ihrem Testergebnis aufgetaucht war. Sie war irgendwie stolz darauf gewesen, aber sie hatte nie danach gefragt, was es bedeutete. Das würde sie ihm natürlich nicht sagen.
„Ich weiß, dass sich das alles ziemlich irre anhört“, sagte Robert. „Aber ich bin mir mittlerweile sicher. Drei von meinen Bekannten sind in der letzten Zeit spurlos verschwunden, nachdem sie darüber recherchiert haben, und ich weiß, dass es noch mehr Leute gibt ... oder gab, denen das passiert ist. Ich glaube, dass mir auch was passieren könnte. Ich wusste einfach nicht, mit wem ich reden soll, und ich dachte, dass du vielleicht ... du bist vor Ort, und wenn wir Beweise hätten ...“
„Du hast sie wirklich nicht mehr alle! Jetzt lässt die Regierung also auch noch Leute verschwinden, ja? Mann, wir sind eine Demokratie! Wir haben Gesetze!“
Rob gab keine Antwort. Er lächelte nur humorlos und warf ihr einen Blick zu, der besagte: Du armes, naives Kind. Es war ein Ausdruck, den man auf dem Gesicht seines drei Jahre jüngeren Teenager-Bruders wirklich nicht sehen möchte.
„Versprich mir was“, sagte sie. „Wenn die Ausbildung beendet ist, und ich und meine Freunde in den ersten Einsatz gehen, wenn du dann von mir hörst, dann ... dann entschuldigst du dich erst mal bei mir. Und dann gehst du zu einem Doktor und lässt deinen Kopf checken.“
„Okay“, sagte er. „Versprochen. Ich frage mich nur, wer von uns das nötiger haben wird, wenn deine Ausbildung in drei Jahren immer noch nicht zu Ende ist.“

***​

„Die Bombe, Mädels! Jetzt!“, rief Henry.
Jenny Reilly starrte auf den Monitor. Jetzt, dachte sie, aber ihre Finger bewegten sich einfach nicht. Als wäre sie gelähmt.
„Scheiße! Jenny, verdammt, schläfst du?“ Michael klang sehr, sehr wütend.
Jenny starrte weiter verbissen auf den Monitor, um sein Gesicht nicht ansehen zu müssen.
Aber irgendwann endete die Übung, und dann sah sie es vor sich. Es war dunkelrot, und eine steile Falte stand zwischen seinen Augenbrauen. Oh ja, er war stinksauer auf sie. Irgendwie machte sie das sauer auf ihn, obwohl sie wusste, dass er Recht hatte. Die Mission des Teams war fehlgeschlagen, und das war ihre Schuld.
„Was ist mit dir los?“, fragte er. „Das war jetzt schon das dritte Mal, dass wir deinetwegen fast im Arsch waren! Du versaust unsere Beurteilungen.“
Das von einem Mann, der bei jeder Übung versagt hat, bevor ich ihm beigebracht habe, mit der Steuerung umzugehen, dachte der kleine Teil von ihr, der wütend auf ihn war.
Alle starrten sie an, und sie senkte den Kopf. „Da waren Leute“, sagte sie tonlos.
Was ist?“
„Zivilisten“, sagte sie. „Hast du das Infrarot nicht gesehen? In der Nähe dieses Fabrikgebäudes waren sehr viele Menschen. Wir hätten sie getroffen und ...“
„Jenny, wie oft noch? Das sind keine Zivilisten! Das sind Pixel! Wenn du dich später wirklich abschießen lassen willst wegen ein paar verirrten Arschlöchern in deinem Aktionsradius, bitte. Aber solange wir hier zusammen ...“
Jenny schaltete innerlich ab und ließ die Gardinenpredigten ihrer Freunde stumm über sich ergehen, ohne noch auf die Worte zu hören.
Sie hatte niemandem von ihrem Kurzurlaub erzählt. Robert tat selbst schon genug, um sich in Schwierigkeiten zu bringen.
Sie glaubte es nicht, oh nein. Aber sie musste immerzu daran denken, wie Anderson Ihnen gesagt hatte, dass die Simulation menschliche Ziele darstellte, weil sie sich angewöhnen sollten, Zivilisten zu schonen, wenn es möglich war. Und wie sich niemand von ihnen daran hielt.
Wir gewöhnen uns an, sie als Pixel zu sehen. Und dann, wenn wir eines Tages wirklich ein Flugzeug oder einen Panzer steuern, dann sehen wir auch nur Pixel. Aber dann werden es Menschen sein. Vielleicht Kinder. Was ist, wenn ich eine Bombe abwerfe und hinterher erfahre, dass ich einen Schulbus getroffen habe? Ich will ja Terroristen bekämpfen, aber ich will nicht wie sie sein.
Und nachts kam der Gedanke, Robert könnte doch Recht haben, manchmal beängstigend nahe, wie ein Monster aus einem kindlichen Alptraum.
Ein halbes Jahr Training mit Simulationen, bevor sie echte Waffen auch nur in die Hand nehmen durften? Und wie lange würde dieses Training noch dauern? Sie hatte sich doch nur für drei Jahre verpflichtet. Und wie konnten sie Henry zum Militärdienst zulassen? Er war gut ... solange sich alles nur auf einem Monitor abspielte. Aber er saß im Rollstuhl, verdammt! Und Alice? Welcher vernünftige Mensch ließ ein Kind beim Militär zu?
Sie hatte es bisher noch immer geschafft, diese Gedanken abzuschütteln und einzuschlafen, aber tagsüber, wenn sie vor dem Monitor saß und so tun sollte, als ob sie Bomben abwerfen würde ... konnte sie einfach nicht. Schulbus, schwirrte ihr immerzu durch den Kopf.
Die Leute tuschelten über sie, manche besorgt, viele gehässig. Jenny konnte sie verstehen. Sie hatte zu den Besten gehört. Und dann machte sie plötzlich Urlaub und kam als totale Niete zurück. Die hatte wahrscheinlich keine Lust mehr und hat ihre Klonschwester hergeschickt.

***​

„Sie müssen sich ein bisschen zusammenreißen, Mädchen. Im Krieg kann es tödlich sein, wenn Sie so unkonzentriert sind. Das ist Ihnen doch klar?“
„Ja, Sir. Es tut mir sehr leid, Sir.“
Sie hätte wirklich darauf verzichten können, ein ernstes Vier-Augen-Gespräch mit Anderson zu führen. Leider schien er das ganz und gar nichts so zu sehen.
„Bei Ihnen zu Hause alles in Ordnung?“ fragte er. „Ich meine, ihrem Vater geht es ...?“
Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn er nur nicht so gottverdammt nett gewesen wäre. Wenn er sie wenigstens ein kleines bisschen angeschrieen hätte.
„Ja Sir, es ist alles in Ordnung. Ich hatte in der letzten Zeit ... öfter Kopfschmerzen. Aber es ist wieder okay. Ich verspreche Ihnen, dass es besser wird.“
Sie musste aufhören, sich verrückt zu machen. Sie konnte doch nicht so kurz vor dem Ende der Ausbildung scheitern. Es war nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sie den Job verlor.
„Gehen Sie zu unseren Ärzten, Reilly. Wir bezahlen sie dafür, dass sie sich um unsere Soldaten kümmern.“
„Ja, Sir.“
„Sie können jederzeit mit mir reden, wenn es ein Problem gibt, das wissen Sie.“
„Ja, Sir.“
„Ich möchte Ihnen wirklich helfen, wenn ich kann. Ich weiß, wie gut Sie sind, wenn Sie in Form sind. Wir brauchen Sie, Reilly! Wir brauchen Sie in Top-Form!“
„Ja, Sir.“
„Können Sie auch noch was anderes sagen?“
„Ja, Sir. ... Ich meine, das kann ich, Sir.“
Als das Gespräch zu Ende war, rannte Jenny Reilly zur Toilette und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Eine Woche lang war sie tatsächlich krank, und die Ärzte verboten ihr, am Training teilzunehmen. Aber die Woche war schnell vorbei. Und sie wusste nicht, wie sie weitermachen sollte.
Sie war in ihren Bruder nie besonders vernarrt gewesen ... aber inzwischen hasste sie ihn regelrecht.


6 Game Over

Es wurde einfach nicht besser. Anderson hatte Jenny bereits angekündigt, er würde ihre Beurlaubung beantragen müssen, wenn es so weiter ginge. Alice war sauer auf sie und regte sich hinter Jennys Rücken fürchterlich auf, auch wenn sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, wenn sie zusammen waren. Und Michael flirtete ziemlich offensichtlich mit einer rothaarigen Wartungstechnikerin. Seit Jennys „Urlaub“ hatten sie nicht mehr miteinander geschlafen. Miteinander gesprochen hatten sie ja ohnehin nie besonders viel.
Henry war der einzige von ihren Freunden, der versuchte, mit Jenny zu reden.
„Jetzt komm schon“, sagte er. „Irgendwas ist doch mit dir.“
„Ich bin okay“, behauptete sie zum wiederholten Mal.
Henry schüttelte den Kopf. „Meine Beine sind vielleicht Schrott, aber mit meinem Gehirn ist alles in Ordnung, klar? Jeder sieht, dass bei dir was nicht stimmt. Du bist seit Tagen so drauf, als hättest du das Spiel noch nie gespielt. Wenn es schon der Ernstfall wäre, wärst du bestimmt schon zehnmal draufgegangen, und der Rest des Teams auch. Also, was ist los?“
„Ist dir je der Gedanke gekommen, dass das vielleicht schon der Ernstfall ist?“ Beinahe hätte sie es gesagt. Aber das wäre das Ende gewesen. Soldatin Reilly ist leider übergeschnappt, wahrscheinlich zu wenig frische Luft im Bunker.
Und sie konnte es sich doch nicht leisten, den Job zu verlieren. Lieber noch mal ein paar Tage Urlaub machen – ohne Robert zu begegnen – und dann einfach wieder mitspielen, sobald es ihr gelungen wäre, all den verrückten Scheiß aus ihrem Gedächtnis zu streichen.
„Es ist wegen Michael“, sagte sie. „Ich glaube, wir sind am Ende. Ich meine, nicht dass wir gut zueinander gepasst hätten und so, aber ... ach, Scheiße. Ich komme schon drüber weg, aber im Moment bin ich einfach nicht gut drauf, okay?“
Henry zog die Augenbrauen hoch. „Okay“, sagte er. „Ehrlich gesagt, du warst die Letzte, der ich zugetraut hätte, dass sie wegen eines Typen ’ne Sinnkrise kriegt, aber es ist okay.“
„Tu mir einen Gefallen und tratsch es nicht überall rum“, sagte Jenny.
„Hey, ich schweige wie ein Grab. Und falls du mit jemand anderem schlafen willst, um ihn zu vergessen, stehe ich jederzeit zur Verfügung.“
Sie musste grinsen. „Machoschwein.“
Er grinste ebenfalls. „Femi-Nazi.“
Seltsamerweise hatte ihr dieses Gespräch tatsächlich ein wenig geholfen, obwohl sie nicht über das gesprochen hatten, was sie wirklich belastete. Sie fühlte sich schon fast wieder wohl in ihrer Haut, und beinahe konnte sie schon selbst daran glauben, dass mit ihr alles in Ordnung wäre, bis auf ein paar Probleme mit ihrem Freund, über die sie bald hinweg sein würde.
Die nächste Übung lief relativ reibungslos ab, und Sergeant Anderson nickte ihr hinterher zu und sagte etwas davon, dass sie sich wohl wieder eingekriegt hätte.
Und dann, abends, als sie gerade darüber nachdachte, wie albern sie die ganze Zeit gewesen war und dass sie eigentlich überhaupt keinen Urlaub nötig hatte, rief ihre Mutter an.

***​

„Hallo, Schätzchen.“
Jenny brauchte eine Weile, um die Stimme als die ihrer Mom zu erkennen. Sie klang so alt. Und nach mühsam unterdrückten Tränen. Plötzlich hatte sie ein schlechtes Gewissen. Sie war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie kaum noch an zu Hause gedacht, geschweige denn dort angerufen hatte.
„Mom, alles in Ordnung? Du klingst so ...“
(Oh mein Gott, dachte sie, es ist Daddy, bitte lass ihn nicht tot sein)
„Jenny, Schätzchen, hat er dir irgendetwas gesagt? Weißt du, wo er ist?“
(Was, Daddy? Wo soll er schon sein? Er kann sich doch kaum bewegen ...)
„Wer denn, Mom?“
„Dein Bruder. Weißt du, wo dein Bruder ist?“
Plötzlich konnte sie das Blut in ihren Ohren rauschen hören. Es war, als ob jemand in ihrem Kopf ihr etwas zuflüstern wollte, das sie nicht verstand.
„Was, Rob? Wieso?“, fragte sie.
„Er ist weg. Einfach weg! Sein Telefon ist abgeschaltet, und keiner seiner Freunde hat eine Ahnung... Oh, Schätzchen, jemand hat seinen Computer gestohlen. Und sein Blog ist nicht mehr online. Dein Vater und ich haben Angst.“
Jetzt verstand sie das Flüstern in ihrem Kopf. Einige Leute, die darüber recherchiert haben, sind spurlos verschwunden, flüsterte es mit Roberts Stimme. Ich glaube, dass mir auch was passieren könnte.
„Vielleicht hat er das Notebook mitgenommen“, sagte sie. Ihr Mund fühlte sich taub an. „Vielleicht besucht er einen von diesen ... diesen Typen, die er nur aus dem Netz kennt. Du weißt schon Mom, diese Bande von Spinnern ... Und du kennst ihn doch. Er ist so unzuverlässig, wahrscheinlich hat er einfach vergessen, euch eine Nachricht zu hinterlassen. Macht euch keine Sorgen, er wird bestimmt in den nächsten Tagen wieder auftauchen.“
„Das hat die Polizei auch gesagt“, sagte ihre Mutter tonlos.
„Ihr wart bei der Polizei? Aber ... seit wann ist er denn weg?“
„Seit ... seit Freitag“, sagte Mom. „Das sind vier Tage.“ Und plötzlich schrie sie: „Er hätte sich gemeldet! Ich weiß, dass er sich inzwischen gemeldet hätte, wenn alles in Ordnung wäre! Irgendwas ist ihm passiert, und niemand will uns helfen!“
„Mommy ...“
Einige Sekunden herrschte Stille, ihre Mutter schien den Hörer beiseite gelegt zu haben. Als sie sich wieder meldete, hatte sie sich scheinbar wieder völlig im Griff.
„Entschuldige, Schätzchen. Ich wollte dir keine Angst machen. Wahrscheinlich hast du Recht, und es ist nichts. Es ist nur ... wenn du irgendetwas hörst, dann ruf uns gleich an, ja?“
„Natürlich“, sagte Jenny.
„Ich danke dir, Schätzchen. Wir haben dich lieb.“
„Ja“, sagte Jenny. „Grüß Daddy von mir.“
„Das mache ich“, sagte Mom, und Jenny legte auf.

***​

Er war nicht wiederaufgetaucht. Nicht am nächsten Tag, nicht am übernächsten. Und trotzdem ließ er sie einfach nicht in Ruhe. Seitdem ihr Bruder verschwunden war, nervte er Jenny mehr als jemals zuvor.
Kennst du irgendjemanden, der schon einmal wirklich gegen Terroristen gekämpft hat? Hat irgendjemand in eurem Laden schon mal etwas anderes getan, als vor einem Computer zu sitzen und Tasten zu drücken? Deine Freunde? Deine Vorgesetzten?
Vielleicht, dachte sie vage, war es gar nicht sie selbst, die Anderson schließlich darauf ansprach, sondern der virtuelle Robert in ihrem Kopf.
„Sir, ich habe eine Frage.“
Der Sergeant lächelte.
„Ah, Reilly. Schön Sie zu sehen. Es freut mich, dass Sie wieder auf dem Damm sind. Wissen Sie, Sie gehören zu unseren vielversprechendsten jungen Leuten.“
„Danke Sir. Das ist sehr nett von Ihnen. Ich wollte fragen ... waren Sie schon oft in Kampfeinsätzen? Mit echten Waffen?“
„Ich? Ja, sicher. Aber das ist schon lange her. Der Krieg gegen die Terroristen dauert schließlich schon länger, als Sie auf der Welt sind. In den letzten Jahren habe ich nur noch junge Leute wie Sie ausgebildet.“
„Aber wir kämpfen nur in Simulationen, Sir. Keiner von uns hatte bisher eine echte Waffe in der Hand.“
„Oh, glauben Sie mir, wenn Sie weiter trainieren, wird Ihnen der Umgang mit der Technik leichter fallen, als Sie denken. Der Unterschied ist gar nicht so groß.“
Er klopfte Jenny aufmunternd auf die Schulter.
„Dann werde ich auch bald an echten Einsätzen teilnehmen?“, fragte sie.
Seine Antwort kam ohne Zögern: „Natürlich, sobald ihre Ausbildung abgeschlossen ist. Sie können es wohl gar nicht mehr erwarten, was?“
„Na ja, Sir, ich denke eigentlich ... ist es denn überhaupt nötig, das wir selbst in feindliches Gebiet vorstoßen? Wäre es nicht viel sicherer ... äh ... wenn man komplett ferngesteuerte Waffensysteme einsetzen würde?“
Anderson blinzelte. „Reilly! Sagen Sie mir nicht, Sie haben Angst vor echten Kampfhandlungen!“
„Nein Sir, das habe ich nicht. Ich dachte nur ... unser oberstes Ziel ist es doch, das Leben unserer Leute zu schützen. Und wir haben so hoch entwickelte Technologie ... Ich meine, es wäre doch theoretisch möglich, oder nicht?“
Der Sergeant lächelte, und Jenny musste wieder daran denken, wie sehr er ihrem Vater ähnlich sah.
„Da muss ich Sie enttäuschen. Unsere Technik ist die beste, die man derzeit für Geld kaufen kann, aber das, was Sie sich vorstellen ... das ist Science Fiction, Reilly. Es gab tatsächlich mal ein Forschungsprogramm der Regierung, wo das versucht worden ist, aber sie haben es vor gut zehn Jahren eingestellt. Erfolglos – und viel zu teuer. Es wird niemals einen Krieg geben, bei dem man dem Feind nicht Auge in Auge gegenübertreten muss, auch wenn diese Vorstellung etwas Verführerisches hat.“
Jenny nickte. „Natürlich. Das war eine dumme Idee, Sir. Krieg ist schließlich kein Spiel.“
„Nein, das ist es nicht.“
„Gute Nacht, Sir“, sagte sie und wandte sich zum Gehen.
„Gute Nacht, Reilly. Sagen Sie, wie geht es Ihrer Familie jetzt?“
Jenny drehte sich ruckartig um. Aber da war nur Freundlichkeit in seinem Gesicht, es war nur eine Nachfrage, ohne Hintergedanken. Smalltalk mit einer seiner Lieblingsschülerinnen.
„Gut, Sir. Es geht ihnen gut.“
„Freut mich, das zu hören.“

***​

Sie konnte nicht einschlafen.
Worauf wartest du?, dachte sie. Auf maskierte Regierungsagenten, die dich einfach verschwinden lassen? Auf einen Bombenanschlag mit computergesteuerten Drohnen, von Leuten, die weit entfernt in einem Bunker sitzen und glauben, das wäre alles nur ein Spiel? Es ist nur eine Verschwörungstheorie von pubertierenden Freaks, Herrgott!
Die Uhr zeigte 2:09, und ihre vernünftigen Gedanken wurden immer wieder von einem unterbrochen, der sich einmischte, vorlaut wie ein nerviger kleiner Bruder.
Er lautete: „Aber Robert ist weg. Das ist keine Einbildung.“
Natürlich war er ein Spinner, und ein verantwortungsloses kleines Arschloch, und natürlich war es ihm zuzutrauen, dass er einfach von zu Hause abgehauen war, nur weil ihm vielleicht mal jemand gesagt hatte, er solle gefälligst sein Zimmer aufräumen. Natürlich ließ die Regierung nicht einfach Leute verschwinden. Und natürlich wurden Soldaten nicht zu Mördern, indem man sie in dem Glauben ließ, ein Computerspiel zu spielen.
Alles, was sie hier taten, waren nur Simulationen.
Und es war auch ganz einfach, das zu beweisen.
Die Räume des Ausbildungszentrums lagen verlassen da, nur das computergesteuerte Sicherheitssystem beobachtete Jenny Reilly, als sie den Frauenschlafsaal verließ. Es gab keinen Alarm, als sie den Rechner hochfahren ließ. Gelegentliche nächtliche Übungen gehörten zur Routine.

***​

Die Steuerung eines Kampfbombers war selbst in der Simulation eine ziemlich anspruchsvolle Angelegenheit. Wenn sie also sowieso nicht schlafen konnte, konnte es nicht schaden, ein wenig zu trainieren. Vielleicht könnte sie an ihre alten Leistungen anknüpfen, wenn sie nur einen Beweis hätte, dass es niemandem schadete.
Und der Beweis war doch so einfach! Sie hätte früher darauf kommen müssen.
Die Simulation startete, und Jenny öffnete das Steuerungsmenü.
Die Worte Willkommen, Pilot! flackerten über den Bildschirm und beleuchteten ihr Gesicht in einem ungesunden Grün. Sie überprüfte sorgfältig, welche Waffensysteme an Bord und einsatzbereit waren, genau, wie man es ihr von Anfang an beigebracht hatte. Es war ja so wichtig, alles Notwendige dabei zu haben, denn immerhin probte man mit der Simulation für den Ernstfall. Und es war wichtig, unter den vielen Möglichkeiten diejenige auszuwählen, die in der jeweiligen Situation das beste Ergebnis erzielte. Es gab sehr viele Möglichkeiten, und in den bisherigen Übungen hatten sie noch längst nicht alle ausgeschöpft. Zum Beispiel diese ... MiniNuke, teilte ihr ein kleines Informationsfenster mit. Dieses Waffensystem dient dazu, unterirdische Bunkersysteme und ähnliche extrem befestigte Stellungen des Feindes zu zerstören.
Das Gefühl, wirklich zu fliegen, als die simulierte Maschine abhob und das hyperrealistische Satellitenbild unter ihrer Maschine dahin glitt, war längst nicht mehr erhebend, bloß noch Routine.
Erst, als der See mit seiner auffälligen Bumerangform und das vertraute kleine Waldstück auftauchten, empfand Jenny so etwas wie Aufregung ... oder sogar Vorfreude. Zum ersten Mal seit Monaten.
Gleich würde sie Gewissheit haben. Endlich.
„Was tun Sie da, Reilly?“, fragte jemand hinter ihr. Anderson war so leise hereingekommen, dass sie nichts bemerkt hatte. „Wissen Sie nicht, wie spät es ist? Herrgott, Reilly, sind Sie überhaupt im Trainingsmodus?“
„Nein, Sir. Das ist Stufe Zwei.“
Ziel anvisieren. Sie musste sich konzentrieren, denn es war gar nicht so leicht, die Stelle zu finden, wo sich der perfekt getarnte Eingang befand. Oder vielmehr, wo er sich in der Realität befinden würde, wenn dies hier keine Simulation gewesen wäre.
„Reilly, Sie wissen doch, dass Sie nur den Trainingsmodus benutzen dürfen, wenn kein Vorgesetzter anwesend ist“, sagte der Sergeant hinter ihr.
„Sie sind ja jetzt hier, Sir“, antwortete Jenny geistesabwesend, den Blick fest auf die Koordinaten auf dem Monitor gerichtet.
Abwurf initialisieren. Das rote Fadenkreuz blinkte jetzt exakt über der richtigen Position.
Und inzwischen hatte das auch Anderson bemerkt.
„Sind Sie verrückt? Was tun Sie da, verdammte Scheiße?“
„Ich möchte nur etwas ausprobieren, Sir“, sagte Jenny. „Bloß um sicherzugehen.“
Das Wort Aktivieren leuchtete auf dem Monitor auf.
Jenny Reilly drückte OK.

 
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Saubere Handarbeit, aber viel zu viel davon ... :D

Hallo Perdita,

ich hab's gerade komplett gelesen, sauberst gearbeitet und besser zu lesen als 80% der anderen Geschichten, die ich in letzter Zeit in der Rubrik angeklickt habe. ABER, puh, ab der rollenden Elite (netter Gag zwar) wusste ich, worauf es hinausläuft. Und dann hab ich trotzdem weiter gelesen, weil ich dachte, die schreibt so ordentlich, vielleicht macht die einen doppelten Rittberger am Ende und überrascht mit etwas völlig Unvorhergesehenem ... naja, das Ende ist schon ok, aber als Pointe nicht stark genug für die Länge der Geschichte, fand ich. Ich würde das brutal um die Hälfte kürzen, mindestens.

Trotzdem: schreiben kannst du jedenfalls.

Jenny hörte ihn kaum noch. Sie konzentrierte sich nur noch auf ihre Aufgabe. Wenden, ausweichen, feuern ... das hier war nichts anderes als die PC-Spiele, mit denen sie sich endlose Nachmittage vertrieben hatte, seit sie ein kleines Mädchen war. Und Henry hatte Recht, die KI der Abfangjäger war wirklich ziemlich leicht auszutricksen. ***
Als sie die Maschine landete, dachte sie bloß: Das könnte für einen Highscore-Listenplatz reichen. Sie war überrascht, als sie feststellte, dass ihre Teamkameraden sie mit offenem Mund anstarrten.
Das fand ich vom Timing komisch: An der Stelle mit den *** dachte ich, jetzt folgt eine Beschreibung des Ablenkungsmanövers. Als sie im nächsten Satz die Maschine landete, dachte ich, das wäre Teil des Manövers, da war ich vorübergehend verwirrt.

Er war nicht wiederaufgetaucht. Nicht am nächsten Tag, nicht am übernächsten. Und trotzdem ließ er sie einfach nicht in Ruhe. Seitdem ihr Bruder verschwunden war, nervte er Jenny mehr als jemals zuvor.
Ja hallo, wieso und trotzdem lässt er ihr keine Ruhe? Geschwisterstreitigkeiten hin oder her, natürlich macht man sich Sorgen, wenn das nervige kleine Geschwister verschwindet. Da müsste zwischen den beiden eine unübliche extreme Feindschaft herrschen, damit sie sich keine Sorgen macht (so hast du es aber nicht dargestellt). Kick den "Und trotzdem ..." - Satz, dann geht es.

„Du bist cool“, sagte Michael.
„Danke“, sagte Jenny. Sie fühlte, wie ihr Gesicht heiß wurde, und ärgerte sich. Weil er sehen würde, wie sie rot wurde, und weil sie es nicht schaffte, zu sagen: Du auch.
„Und ziemlich süß“, sagte er.
Jenny sah zu ihm auf.
„Du ... baggerst du mich grade an?“, fragte sie.
Klingt nicht nach um-die-Zwanzig, das klingt nach zwei 14jährigen ...

„Reilly, Sie wissen doch, dass Sie nur den Trainingsmodus benutzen dürfen, wenn kein Vorgesetzter anwesend ist“, sagte der Sergeant hinter ihr.
Findest du den TÖDLICHEN Vertipper in diesem Satz? :lol: (*)

Jenny hatte immer gehört, dass echte Leben hätte die beste Grafik
Jajaja, das Leben ist wie ein adventure game aus den 90ern, geile Grafik aber scheiß story, den Spruch kenn ich auch. ;)


EDIT: (*) Nee warte, den hab ich nur falsch verstanden ... trotzdem, das ist ein GANZ ungünstiger Satz, denn es geht doch die ganze Zeit drum, dass auch diese ominöse zweite Stufe immer noch ein Trainingsmodus ist ... also, ändere da irgendwas, dringend! Zum Beispiel in "Sie wissen doch, dass Sie diesen Modus nicht benutzen dürfen, wenn kein Vorgesetzter anwesend ist" oder so.
Ich würde übrigens auch weiter oben einen Satz einbauen, dass es ihr egal ist, dieses Verbot zu umgehen. Denn "Wenn sie also sowieso nicht schlafen konnte, konnte es nicht schaden, ein wenig zu trainieren." klingt ziemlich beiläufig, ihr muss doch klar sein, dass sie sich direkten Befehlen widersetzt, und sowas schadet immer. Das weiß ich aus diesen Filmen von dem Typ namens Hollywood.

 

Hey Möchtegern,

das ist aber schön, dass du wieder hier unterwegs bist!

Und vielen Dank fürs Lesen, da hab ich bei so einem langen Text nicht damit gerechnet, dass den schon ein paar Stunden nach dem Posten einer kommentiert.

Du hast recht, die Geschichte hat definitiv ein Problem damit, dass es im Grunde eine Pointengeschichte ist, und dafür ist sie eigentlich viel zu lang. Ich hab von 2009 bis 2011 immer wieder mit Unterbrechungen an dem Ding geschrieben, und schon einmal abgebrochen und komplett neu angefangen, weil die eben so lang geworden ist. Beim zweiten Anlauf war es aber nur geringfügig besser. Ich glaub das geht schon damit los dass da zu viele Figuren drin sind für eine Kurzgeschichte. Und diese Struktur mit den Kapiteln die den Phasen eines Spiels entsprechen, das war halt die Idee ganz am Anfang, die hat das Ganze auch mehr als nötig aufgebläht, glaube ich. Aber wenn man sich ewig mit so einer Geschichte rumquält, und so in mehreren Schüben daran schreibt, wächst einem das alles irgendwie mehr ans Herz, als es wahrscheinlich sollte. Die nötige Brutalität zum Kürzen hab ich bis jetzt nicht aufgebracht. Falls es mal ein Computerspiel geben sollte, wo man das trainieren kann, werd ich mir das besorgen :).

Ich hab die Geschichte auch vor allem gepostet, weil mir hier vielleicht jemand einen Hinweise geben kann, welche Teile gestrichen werden können ... und damit hab ich auch erst mal gewartet, ich fand ich muss erst mal wieder aktiv werden bevor ich so ein langes Teil hier reinstelle.

Freut mich sehr, dass dir wenigstens das Handwerkliche zugesagt hat. Den Eindruck habe ich auch, dass ich langsam Fortschritte mache beim Schreiben, es ist schön wenn man das bestätigt kriegt. :)

 
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Rein dein Verdienst, dass ich gerade wieder da bin :D

Also, ich les immer mal wieder was mit, die story hab ich zufällig direkt nach Einstellung angeklickt, fand sie längenmäßig wie einen Totschläger aber ansonsten so gut, dass ich dachte, das verdient eigentlich einen Haufen feedback, den sie wg der Länge vielleicht nicht kriegt ... äh ja, und irgendwie fühlte ich mich berufen, wenigstens den Anfang zu machen ;)

Die Struktur mit den Kapiteln hat mir ziemlich gut gefallen, warum soll das die story aufgebläht haben? Die Kapitel müssen nur kürzer, die Struktur kann bleiben.

Zum Kürzen: Natürlich KANNST du alles kürzen, was die Handlung nicht vorantreibt. Das ist ne Menge. Das "blöde" an der Geschichte ist, dass auch die Sachen, die "nur" für die Atmosphäre / die Charakterisierung der Figuren / ... dastehen, größtenteils gut geschrieben ist. Da fällt Kürzen schwer, klar.

Es ist ein reines Geschmacksurteil, fürchte ich, aber ich würde inhaltlich zB die Beziehung zu Michael komplett knicken.

Jennys Stimme klang ruhig, aber sie war sich sicher, dass ihr Gesicht knallrot war. Verdammt! Alle Mädchen waren doch ein bisschen in Michael verknallt, aber sie war natürlich die einzige, die damit aufgezogen wurde. Sie vermied es, ihn anzusehen, und hoffte, dass er nicht bemerkt hatte, wie sie rot geworden war.
Sowas kann ja ruhig bleiben, aber das braucht sich nicht weiterzuentwickeln. Das spart bisschen Text ... später in dem Gespräch mit Henry kann sie ja einfach sagen, dass sie unglücklich verliebt ist oder so.

Ansonsten: Text verschlanken und die Lieblingsstellen behalten. Das kann nur der Autor selbst ;)
Aber wenn es mein Text wäre, so am Anfang:

1 Installation

Der Tag, an dem Jenny Reilly beschloss, Soldatin zu werden, war ziemlich beschissen gewesen. An einem guten Tag hätte sie sich möglicherweise anders entschieden. Andererseits waren gute Tage ziemlich selten für Leute wie Jenny.
es war das Gespräch auf dem Arbeitsamt, das es zu einem wirklich miesen Tag machte.
Es tut uns leid, Ms. Reilly, aber für Leute mit Ihrem Qualifikationslevel gibt es nicht viele Stellen. Dieser Satz würde eines Tages auf ihrem Grabstein stehen, dachte Jenny.
Und es war nicht einmal die Wahrheit. Es hätte heißen müssen: Für Leute wie dich gibt es überhaupt keine Stellen, und „es tut uns leid“ ist nur so eine Redewendung, die dir das Gefühl geben soll, mehr als eine Nummer zu sein.
Es war nicht fair.
Sie war neunzehn Jahre alt, nicht dumm und für ein Mädchen aus dem C-District sogar recht hübsch. Sie hatte noch all ihre Zähne, und die typischen Hautkrankheiten waren ihr bisher erspart geblieben. Aber trotz allem blieb sie ein Mädchen aus dem C-District.
Sie hatte keinen Schulabschluss, keinen Job, keine Perspektive. Sie war bloß eine dieser Jugendlichen, die den größten Teil ihrer Zeit vor dem Computer verbrachten und stundenlang dämliche Spiele spielten, weil es immer noch besser war, die Zeit totzuschlagen als sich gegenseitig.
Natürlich, sie hatte das Plakat gesehen, das mit dem lächelnden jungen Mann und der lächelnden jungen Frau in Uniform und dem Slogan Für Demokratie und Menschenrechte warb. Es war nicht zu übersehen, wenn man vom Arbeitsamt im B-District auf dem Weg zurück zur Bushaltestelle war. Aber es interessierte sie nicht besonders.
Jenny Reilly gehörte nicht zu den jungen Leuten, denen man beigebracht hatte, dass die Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte ihre Pflicht sei. An der Schule, die sie besucht hatte, hatten solche hochtrabenden Grundsätze keinen Platz. Man musste man schon froh sein, wenn man sie nicht als Analphabet verließ.
Die Leute im C-District hatten ihre eigenen Sorgen. Natürlich wussten sie, dass es Krieg gab. Natürlich sahen sie die Bilder der Bombenanschläge in den Abendnachrichten, die Trümmerfelder, die Leichenteile, die weinenden, blutverschmierten Überlebenden, und natürlich hörten sie, wie die virtuelle Nachrichtensprecherin mit einer Stimme voll computergenerierter Betroffenheit die Zahl der Kinder unter den Opfern nannte. Natürlich fragten sie sich, wie Menschen kalt und abgestumpft genug sein konnten, um so etwas zu tun ... Aber dann vergaßen sie es wieder und dachten daran, wie sie ihre Kredite abzahlen sollten und dass es immer noch durchs Dach regnete.
Es war schon Nachmittag, als Jenny an der Haltestelle mit dem großen C aus dem Bus stieg. Und dort sah sie dann das andere Plakat.
Den Leuten, die sich das ausgedacht hatten, war eindeutig bewusst gewesen, dass sie es hier mit einer anderen Zielgruppe zu tun hatten. Das Plakat zeigte ebenfalls zwei lächelnde junge Menschen in Uniform.
Es hätte sogar dasselbe Bild sein können. Nur der Slogan war ein anderer. Er lautete: Ein Job. Eine Krankenversicherung. Eine Zukunft.
Tja, das waren drei Dinge, die sie nicht hatte, dachte Jenny.
Das Plakat war eines der wenigen an der Haltestelle, die weder mit Graffiti beschmiert noch von irgendwem zerfetzt worden waren. Das Papier schien beinahe zu leuchten.
Kein Schulabschluss erforderlich! las Jenny. Ihr Qualifikationslevel hat keinen Einfluss auf den Eignungstest! Jede Bewerbung willkommen!
Sie hatte noch keinen Plan, als sie nach Hause ging. Aber in ihrem Unterbewusstsein hämmerte etwas, wie ein Lied, das man den ganzen Tag über im Kopf hat und ständig vor sich hin singt, ohne es zu bemerken.

***

Ihrem Vater ging es wieder schlechter.
Auf Jennys Nachfrage sagte er: „Gut, Schatz. Es geht mir schon viel besser“, aber das sagte er immer. Heute war es eindeutig eine Lüge. Er war bleich, fast wie ein Toter, und seine Lunge rasselte bei jedem Atemzug.
Es war noch nicht sehr schlimm, aber viel schlimmer als in der letzten Zeit. Irgendwann im Laufe der Woche würden sie vielleicht zu einem Arzt gehen müssen. Und irgendwie müssten sie das dann auch bezahlen.

***

Sie erzählte ihm vor allem deshalb von dem Plakat, weil es an Tagen wie diesem eine echte Wohltat sein konnte, mit Robert zu streiten ...


und gegen Ende:

Sie konnte nicht einschlafen.
Die Uhr zeigte 2:09, und ihre vernünftigen Gedanken wurden immer wieder von einem unterbrochen, der sich einmischte, vorlaut wie ein nerviger kleiner Bruder.
Er lautete: „Aber Robert ist weg.“

Die Räume des Ausbildungszentrums lagen verlassen da, nur das computergesteuerte Sicherheitssystem beobachtete Jenny Reilly, als sie den Frauenschlafsaal verließ.

***

Die Steuerung eines Kampfbombers war selbst in der Simulation eine ziemlich anspruchsvolle Angelegenheit. Wenn sie also sowieso nicht schlafen konnte, konnte es nicht schaden, ein wenig zu trainieren. Vielleicht könnte sie an ihre alten Leistungen anknüpfen, wenn sie nur einen Beweis hätte, dass es niemandem schadete.
Und der Beweis war doch so einfach! Sie hätte früher darauf kommen müssen.
Die Simulation startete.
Die Worte Willkommen, Pilot! flackerten über den Bildschirm und beleuchteten ihr Gesicht in einem ungesunden Grün. Sie überprüfte sorgfältig, welche Waffensysteme an Bord und einsatzbereit waren, genau, wie man es ihr beigebracht hatte. Es war ja so wichtig, alles Notwendige dabei zu haben, denn immerhin probte man mit der Simulation für den Ernstfall. Und es war wichtig, unter den vielen Möglichkeiten diejenige auszuwählen, die in der jeweiligen Situation das beste Ergebnis erzielte. Es gab sehr viele Möglichkeiten, und in den bisherigen Übungen hatten sie noch längst nicht alle ausgeschöpft. Zum Beispiel diese ... MiniNuke, teilte ihr ein kleines Informationsfenster mit. Dieses Waffensystem dient dazu, unterirdische Bunkersysteme und ähnliche extrem befestigte Stellungen des Feindes zu zerstören.
Das Gefühl, wirklich zu fliegen, als die simulierte Maschine abhob, war längst nicht mehr erhebend, bloß noch Routine.
Erst, als der See mit seiner auffälligen Bumerangform und das vertraute kleine Waldstück auftauchten, empfand Jenny so etwas wie Aufregung ... oder sogar Vorfreude.
Gleich würde sie Gewissheit haben. Endlich.
„Was tun Sie da, Reilly?“, fragte jemand hinter ihr. Anderson war so leise hereingekommen, dass sie nichts bemerkt hatte. „Wissen Sie nicht, wie spät es ist? Herrgott, Reilly, sind Sie überhaupt im Trainingsmodus?“
„Nein, Sir. Das ist Stufe Zwei.“
Ziel anvisieren. Sie musste sich konzentrieren, denn es war gar nicht so leicht, die Stelle zu finden, wo sich der perfekt getarnte Eingang befand. Oder vielmehr, wo er sich in der Realität befinden würde, wenn dies hier keine Simulation gewesen wäre.
„Reilly, Sie wissen doch, dass Sie nur den Trainingsmodus benutzen dürfen, wenn kein Vorgesetzter anwesend ist“, sagte der Sergeant hinter ihr.
„Sie sind ja jetzt hier, Sir“, antwortete Jenny geistesabwesend, den Blick fest auf die Koordinaten auf dem Monitor gerichtet.
Abwurf initialisieren. Das rote Fadenkreuz blinkte jetzt exakt über der richtigen Position.
Und inzwischen hatte das auch Anderson bemerkt.
„Sind Sie verrückt? Was tun Sie da, verdammte Scheiße?“
„Ich möchte nur etwas ausprobieren, Sir“, sagte Jenny. „Bloß um sicherzugehen.“
Das Wort Aktivieren leuchtete auf dem Monitor auf.
Jenny Reilly drückte OK.


Ich könnte durch den ganzen Text so durch und Sachen streichen (manchmal ganze Szenen), aber ich könnte jetzt nicht sagen, mach das nach bestimmten "Regeln" und es wird auf alle Fälle gut. Wiederholungen vermeiden, über-Erklärungen vermeiden, klar, aber du müsstest selbst sehen, was du unbedingt retten willst.
Das ist hier ja keine Frage des "Umschreibens" oder so, da kann man ganz viel machen, in dem man einfach ersatzlos rauslöscht. Und dann vielleicht ein Wort ändert oder so ...

 

Rein dein Verdienst, dass ich gerade wieder da bin

Ich fühle mich sehr geehrt!

Und vielen Dank dass du noch mal auf Kürzungskandidaten eingegangen bist. Selbst wenn du der einzige bist der sich dazu durchringt die ganze Geschichte durchzulesen, hat mir das schon viel gebracht! :)

 

Mit zunehmender Professionalität des Autors werden die Geschichten länger, weil der Autor sich bemüht, mehr Tiefe zu geben ... sinngemäß. :D
(Wo hab ich das her? Von Mommers oder so??)

Ja, das mit der Länge ist scheiße. Hätte ich deinen nick nicht erkannt, hätte ich so ein Monster auch nicht vom Bildschirm gelesen. Und nebenan kriegt ein doof geschriebener 20Zeiler dreißig Kommentare, das ist leider ein Problem, das in der Natur des Forums liegt.

Mir juckt es ja in den Fingern, den ganzen Text zu kürzen :D
Aber durch die schiere Masse, die hier weg muss, schrecke ich davor zurück, denn ich würde natürlich versuchen, der Geschichte meinen Stempel aufzudrücken. (Siehe diese Beziehungskiste Michael - Jenny: ich bin dagegen, vor allem weil mir dieser pubertäre Dialog aus meinem ersten post so missfallen hat. Höhö.)

Okay: wenn DU kürzt, so von meinem Standpunkt aus:
Guck dir die Innenansichten deiner Protagonistin an. Diese Gedanken. Ganz viel Überflüssiges.
Ist es eine Simulation ja/nein - das kommt sooo oft vor. Einerseits als rhetorisches Mittel verwendbar, andererseits - kürz es, wo geht.
Erklärungen: Lies dir deinen Text durch, und guck, wo die Erklärungen für den Leser stehen. Und entscheide, welche WIRKLICH notwendig sind. Aus meinem Beispiel, wo ich den Anfangsabsatz "probegekürzt" habe: C-District = Slums ... darauf kann der Leser auch selber kommen.
Stärkeres gegen Schwächeres: Aus meinem Kürzungsbeispiel am Anfang - das ist schon echt gut, mit dem braunen Wasser und dem Chemiegestank und Bus - aber hey, was hier EIGENTLICH cool ist: die kriegt keinen Job, und das Bild mit dem Grabstein wiegt stärker als ein verpasster Bus.
"Optionale Szenen": Überleg dir, was du löschen kannst, selbst wenn einzelnen Figuren dadurch was verloren geht. Du hast ja gesehen, ich hab in meinem Kürzungsbeispiel den Dialog Jenny-Vater fast ganz gekickt. Kann man, muss man nicht. Was bleiben "muss": Jenny hat einen kranken Vater, und dafür wird Geld gebraucht, und deswegen braucht sie einen Job ...
Ähnlich dramatisch kürzen würde ich die Beschreibung des Auswahlverfahrens, den Kram mit der "Kindersoldatin", Jennys "Krankheit", sogar das Gespräch mit dem Ausbilder "was, wenn es echte Waffen wären" ist ein Kürzungskandidat ...

Los. Kürz ma.

 

Hallo Perdita,

mir gefällt Deine Geschichte sehr gut.

Ich würde sie hier allerdings nicht als Kurzgeschichte feilbieten, wenn überhaupt, dann vielleicht ein Segment daraus. Kürzen würde ich nicht, vielmehr umarbeiten, unter dem Müll allgemeiner Aussagen den Schatz Deiner Geschichte herausholen und einem richtig gutem Roman schreiben. Die Potentiale - Deines und das der Geschichte - sind da. Melde Dich arbeitslos und fange an zu schreiben ;).

Nachti, nastro.

 

Hi Möchtegern und nastro!

Möchtegern schrieb:
Los. Kürz ma.

Ja ... es steht auf meiner To-Do-Liste drauf :D
Es ist keine Missachtung deiner intensiven Beschäftigung mit dem Text, aber es könnte sein, dass noch eine Weile nichts passiert hier. Ich schreib grad an einer neuen Geschichte die sich immer vordrängelt.
Ich glaube mein Gefühl, dass es zu viele Figuren für eine Kurzgeschichte sind, ging schon in die richtige Richtung. Oder zumindest nehmen die Nebenfiguren, also die Familie und die Teamkameraden irgendwie noch zuviel Raum ein... Danke auf jeden Fall für deine Tips.

nastroazzurro schrieb:
Melde Dich arbeitslos und fange an zu schreiben

:lol: Ich finde es ja toll dass dir die Geschichte so gut gefallen hat, aber da bin ich doch lieber vorsichtig. Ich will gerne mal Nanowrimo ausprobieren, vielleicht kommt da tatsächlich etwas Romanähnliches heraus, aber das wird dann schön brav nach Feierabend geschrieben :)
Bei der Geschichte hier denke ich nicht unbedingt, dass die für ein noch längeres Format taugt.

Ich hab mich aber natürlich sehr über deinen Kommentar gefreut!

 

Hi,

Und ihm Grunde glaubte sie
Im Grunde.
Bis dahin mal: Aus dem Plusquamperfekt raus, in der Exposition, das ist die toteste Art zu erzählen. Allgemein aufpassen zu passiv zu werden. Wenn man zu oft „hatte“ und „waren“ hat, dann ist man stilistisch in Problemfeldern. Bisschen mehr Verve in den Text, es ist alles bisschen zu textbook. Es ist gut, es hat einen roten Faden, aber bisschen mehr Power, mehr eigenes.

Sie drehte den Kopf und sah eine junge Schwarze. Ein schwarzes Mädchen, um genau zu sein. Sie war ungefähr einen Meter fünfzig groß und hatte ein beneidenswert hübsches Gesicht, aber kaum den Ansatz eines Busens. Meine Güte, die muss bei der Altersangabe gelogen haben, dachte Jenny. Sie kann höchstens so alt sein wie Robert.
Hier musste ich schmunzeln, also … das ist ja wirklich wie aus dem Lehrbuch. Sidekick Schwarz, jung. Nur halt mit Frauen :)

„Mein Haus, mein Pool, mein Designer-Genom“, flüsterte Henry, und Jenny musste lachen.
Den fand ich auch gut.
Es gibt einen … 80er Jahre Film , glaub ich, da steht ein altes Arcade-Videospiel irgendwo und als ein Junge den absoluten Highscore da knackt, wird er von Aliens als Raumpilot rekrutiert.
Wenn man das im Hintergrund hat, diesen Plot, dann ist so die ganze Exposition ein bisschen … der Titel „Kriegsspiele“ und so, also man ahnt schon sehr früh, wohin das läuft, während die Figuren sich hier noch fragen, was los ist.

Sie konnte ihn sich richtig vorstellen, wie er mit einem „Soldaten sind Mörder“-Sandwich-Plakat in ihrem Gehirn herumspazierte.
Das ist sehr süß.

„Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Sie lernen, wie man nicht abgeschossen wird“, sagte der Sergeant. „Und deshalb wäre ich gezwungen, Ihren Sold zu kürzen, wenn Sie noch einmal einen Befehl missachten, auch wenn ich das nicht gern tun würde. Haben wir uns verstanden, Woods?“
Also … ich will dir nichts vormachen, ich hab das Gefühl den ganzen Text schon zu kennen, während ich ihn lese, aber er ist ordentlich geschrieben. Die Figur hier, der Sergeant, der gefällt mir wirklich, weil er komplett gegen das Klischee läuft und das ist auch eine spannende Volte.
In jedem anderen Ding ist es ja immer so, dass er sagt: Ja, Sie gehen drauf, wenn sie nicht auf mich hören! Ich schlag ihnen den Schädel ein! Sie kriegen Arrest!
Und hier trifft er sie viel härter, wenn er nur sagt: Wir kürzen dir den Sold, dann sieht das schlecht aus mit deinen drei Brüdern.
Das ist was Neues.

Und es war cool, mit ihm zu schlafen ... wenn auch ehrlich gesagt nicht so toll, wie sie sich vorgestellt hatte.
Die wirken mit Verlaub eher wie welche, für die sechs Jahre lang beim T-Shirt Schluss ist. Ich hätte das vielleicht rausgelassen.
Diese Zeitraffer-Passagen, in denen dann noch immer so viele Infos untergebracht werden – das ist schon gut gemacht, aber weniger ist da vielleicht mehr.
Also hier z.B.: Ein Mädchen, das rot wird und hihihi und so, und dann aber: Schlafen miteinander, aber das ist kein großes Ding – vielleicht hätte man es dann ganz weglassen können. Also das ist ja hier eine Romanze, die sich anbahnt, und dann im Zeitraffer schon abgeschlossen wird, das hätte man vielleicht aufsparen können als Spannungs-Sache, als Nebenplot, oder halt ganz weglassen.

Und wie konnten sie Henry zum Militärdienst zulassen? Er war gut ... solange sich alles nur auf einem Monitor abspielte. Aber er saß im Rollstuhl, verdammt!
Ja, eben. Also das ist ein bisschen das Problem. Vor zwei Jahren oder so … war das auch mal in Filmen groß. Aber mit „Menschenersatz“, nicht mit Flugzeugen : Surrogates und Gamer, glaub ich, hatten diese Ideen. Ehm … hier. Mit Jake Gyllenhall auch, in der Box da: Source Code. Ich glaub in jedem zweiten SF-Film der letzten Jahre gabe es eine Variation dieser Idee.
Und davor bei Shadowrun schon „Rigger“ usw. Und diese ganzen „Enthüllungen“ in dem Text hier, sind mir schon irgendwie 10 Seiten vorher klar. Und das macht es ein wenig schwierig, hier mitzufiebern. Es ist alles zu klar. Vielleicht eher was für Leute, die nicht so viel Bücher und Filme kennen ,die mit den Motiven noch nicht so vertraut sind. Denn weg davon, ist halt in dem Text auch viel so in den Interaktionen das man schon kennt … da ist nicht so viel da.

Ja, es sit auf jeden Fall viel besser als deine letzte in Horror, es gibt formal wenig zu meckern, alles, was ich hab, richtet sich gegen die Wahl des Plots, die Wahl der Figuren. Das ist einfach alles schon bekannt.
Also … tja. Ich kann dir dasselbe sagen wie Möchtegern. Die hat mit allem recht, aus meiner Sicht. Fleißiger Text, sauber gearbeitet, aber a) vielleicht zu sehr aus dem Lehrbuch und b) zu durchsichtig alles, zu bekannter Stoff.
Also der Text hätte – für mich – vor 5 Jahren viel besser gewirkt. Aber jetzt hat man das schon im Kino so oft gesehen, dass es schon ein richtiger Standard geworden ist.
Und es gibt nichts in der Geschichte, was diesen Ideen des Lesers widersprechen würde. Wenn sie da den Typen im Rollstuhl sieht, dann ist klar: Aha! Und dann ist der Leser auf der Schiene, und es heißt: Es sieht so realistisch aus, und der Leser wieder: AHA! Und dann das nächste und der Leser wird immer mehr in dieser Idee bestärkt ,und es gibt keinen red hering oder wie man das nennt, der ihn von der Fährte wieder runterbringt.
Und so eine Geschichte lebt eben von dem Plot, weil sie so sehr nach Lehrbuch geschrieben ist. Die Parallelen zu unserer Gesellschaft – hab ich gesehen, fand ich gut, alleine nicht genug.
Das Gekabbel zwischen den Soldaten – hab ich gesehen, fand ich okay, kannte ich alles schon. An den Sex traust dich nicht so richtig ran, das ist vielleicht auch gut so. Und es hat auch so alle 2 Seiten mal einen guten Spruch, und mit Robert und so, aber das hilft beim Lesevergnügen alles nicht so.
Ich würde gern wissen, wie einer auf den Text reagiert, der das nicht schon beim Rollstuhlfahrer ahnt und sieht. Oder jemand, der nicht so viele Filme und Bücher kennt, der hat da bestimmt viel mehr Spaß dran.
Ich hab das neulich irgendwo gelesen:
Das ist halt das Schwierige in unserer Zeit. Zu Shakesspeare Zeiten haben die leute in ihrem Leben zwei Stücke gesehen und sonst gar nichts, noch die Bibel oder so mal vorgelesen bekommen Und heute verzehrt ein Mensch vier literarische Produkte pro Tag. Im Fernsehen, Kino, Buch, was weiß ich. Und das wird dem Text hier zum Problem: Er ist zu berechenbar für einen Spannungstext.
Davon ab: Sauber geschrieben, wenig Fehler, gibt wirklich viel zu loben, viel besser als der letzte Text in Horror.

Gruß
Quinn

 

Hallo Quinn,

Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren!

Ja, es sit auf jeden Fall viel besser als deine letzte in Horror, es gibt formal wenig zu meckern, alles, was ich hab, richtet sich gegen die Wahl des Plots, die Wahl der Figuren. Das ist einfach alles schon bekannt.

Das wäre auch schlimm wenn es nicht so wäre (also dass die besser geworden ist als die letzte), weil ich an dieser bedeutend länger gesessen habe. Das waren echt Monate.

Und dabei war mir das auch schon bewusst, dass das alles nicht sehr originell ist, deshalb war ich da zwischendurch schon ziemlich demotiviert. Aber das kann ich nicht zum Maßstab machen, dass Leute, die viel lesen und viele Filme sehen, von dem was ich schreibe noch überrascht werden. Ich meine, das wäre toll, aber wenn ich mir das Ziel setzen würde, dann könnte ich nie etwas zu Ende schreiben :).

Ich dachte beim Schreiben auch immer: Das ist ja überhaupt nicht mehr zeitgemäß als Science-Fiction, also nicht nur dass es schon zig Geschichten und Filme mit ähnlichen Ideen gibt, sondern Kriegsführung mit Drohnen gibt es ja längst in der Realität.
Trotzdem bin ich froh, dass ich die Geschichte nicht einfach aufgegeben habe. Wenn ich noch mal daran arbeite, werde ich wohl den „romantischen Sub-Plot“ kicken, der stößt ja nicht auf viel Zuspruch hier … wahrscheinlich zu recht :).

 

Hi Perdita,
Ein sehr guter Text. Vor allem sehr angenehm zu lesen. Handwerklich finde ich das Oberliaga.
Das Hauptproblem ist natürlich der Plot, aber es gibt ja auch schon ca. Hunderttausend ähnliche Vampiergeschichten, und wenn sie gut geschrieben sind: was soll's? Auf jeden Fall habe ich die Geschichte trotz der Vorhersehbarkeit ab der Mitte mit Genuss gelesen.
Stellenweise kannst du kürzen, aber nicht zu viel, weil sonst die Mehrdimensionalität deiner Geshichte leidet und das braucht sie, weil der Plot alleine ist ja alt. Die Geschichte gewinnt durch ihre saubere und glaubwürdige Charakterisierung

Der Tag, an dem Jenny Reilly beschloss, Soldatin zu werden, war ziemlich beschissen gewesen.
ziemlich beschissen- beide Dinge passieren gleichzeitig

An einem guten Tag hätte sie sich möglicherweise anders entschieden. Andererseits waren gute Tage ziemlich selten für Leute wie Jenny. Vielleicht war ihre Entscheidung also letztendlich unvermeidlich.
Jener Tag hatte schon nicht besonders angefangen.
diesen Satz kannst du streichen
Und Jennys Eltern interessierten sich nicht für Politik. Die Leute im C-District hatten andere Sorgen. Natürlich wussten sie, dass es Krieg gab. Natürlich sahen sie die Bilder der Bombenanschläge in den Abendnachrichten, die Trümmerfelder, die Leichenteile, die weinenden, blutverschmierten Überlebenden, und natürlich hörten sie, wie die virtuelle Nachrichtensprecherin mit einer Stimme voll computergenerierter Betroffenheit die Zahl der Kinder unter den Opfern nannte. Natürlich fragten sie sich, wie Menschen kalt und abgestumpft genug sein konnten, um so etwas zu tun ... Aber dann vergaßen sie es wieder und dachten daran, wie sie ihre Kredite abzahlen sollten und dass es immer noch durchs Dach regnete. Das waren die wirklichen Schrecken des C-Districts – jener Teile der Stadt, die zu arm und unbedeutend waren, um das Ziel von Anschlägen zu werden.
Hieraus kannst du einen Satz machen oder das ganze streichen - Die Geschichte verliert da an Schwung

lg
Bernhard

 

Hi Bernhard,

Vielen Dank fürs Lesen und fürs Lob :)

ziemlich beschissen- beide Dinge passieren gleichzeitig
Mmh, ja, das könnte man denken. Aber eigentlich ist der Tag schon fast vorbei, als die Geschichte einsetzt.

diesen Satz kannst du streichen
Irgendwie schleicht sich immer so ein allwissender Erzähler ein bei mir :D
Ich bin noch nicht ganz sicher, ob ich den raushaben will oder nicht. Da denk ich noch drüber nach, genau wie über den anderen Kürzungsvorschlag.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hab gerade die anderen Kommentare gelesen. Naja, ein paar Redundanzen sind drin, aber mein Kommentar geht dann ja doch in eine andere Richtung. Die Länge stört mich übrigens weniger, da die Geschichte wirklich gut geschrieben ist, es ist eben, naja, wirst du ja sehen...

Hallo Perdita,

ich habe so meine Probleme mit deiner Geschichte. Ich sehe nämlich nicht so wirklich, was du mir sagen willst. Nein, anders, ich verstehe schon, was du mir sagen willst: Was, wenn in einer nicht allzu fernen Zukunft Krieg nur noch als Computerspiel stattfindet? Wenn Menschen nur noch abstrakte rote Punkte auf dem Bildschirm sind? Sicherlich eine berechtigte Frage, aber mein Problem ist, dass wir den Zustand doch heute schon haben. Schon jetzt findet der Krieg in Afghanistan in erster Linie mit Drohnen statt, die per Bildschirm gesteuert werden. Schon jetzt werden Terroristen mit gezielten Anschlägen vom sicheren Sessel aus gezielt getötet. Wo ist da jetzt also der große Qualitätssprung?

Vielleicht lautet deine Antwort: Na darin, dass die Regierung es vertuscht! Dass nach außen hin getan wird, als ob der Krieg immer noch in der Realität stattfindet, obwohl er längst entmenschlicht wurde. Dass der alltägliche Terror gar kein Terror ist, sondern die logische Folge einer solchen Kriegsführung! Sicherlich, in deinem Szenario ist das der dicke Brocken, den wir verdauen sollen. Aber ich kaufe ihn dir nicht ab. Denn warum sollte die Regierung das tun? Virtueller Krieg ist doch propagandatechnisch das großartigste, was man sich vorstellen kann! Keine toten Soldaten, keine Ausbeutung der Armen für die Kriege der Reichen, keine Kollateralschäden mehr - nur noch klinisch saubere Attacken, ausgeführt von jungen Menschen, die endlich eine Chance erhalten und noch nicht einmal davon ausgehen müssen, dass sie dabei draufgehen. Ich würde mir als Regierung die Finger danach lecken, wenn ich so Krieg führen könnte. Und dass die Gegenseite immer wieder Zivilisten tötet, daran sieht man doch, was das für böse Menschen sind - WIR machen das ja nicht, wir haben die roten Punkte! Dass wir uns einen Dreck drum kümmern, was mit den roten Punkten passiert, müssen wir ja nicht betonen und was der Feind erzählt ist doch sowieso nur Propaganda, um uns international schlecht darzustellen.

Aber gut, sagen wir trotzdem, dass die Regierung aus welchen Gründen auch immer ihre neue Kriegsführung geheim halten muss. Vielleicht gibt es ja ein Gesetz, dass virtuelle Kriege verbietet, wer weiß? Dann frage ich mich aber, warum die roten Punkte überhaupt vorhanden sind. Denn du machst deutlich, dass es wirklich niemanden interessiert, ob und wie viele der roten Punkte drauf gehen. Wenn dem aber so ist - warum einblenden? Was der Soldat nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Der spielt weiterhin seine realistische Simulation durch und denkt sich nichts dabei. Wer soll schon dagegen protestieren, wenn niemand weiß, dass hier die Haager Landkriegsordnung mit Füßen getreten wird? Und wenn doch mal ein hoher Würdenträger kommt, der sein Gewissen beruhigen will, dann kann die Propagandaeinheit die roten Punkte ja ausnahmsweise mal für ein paar Stunden einschalten.

Aber am Unglaubwürdigsten wirst du meines Erachtens nach in dem Moment in dem die Regierung Robert entführt. Da nimmt sich also eine der besten Soldatinnen Urlaub, um ihren auf der Beseitigen-Liste ganz oben stehenden Bruder zu besuchen und kommt total verstört und unsicher wieder zurück. Ja, sie fängt sogar an, sich um die roten Punkte zu sorgen! So blöd kann kein Geheimdienst sein, um nicht zu ahnen, dass Jenny wohl mit ihrem Bruder geredet hat. Anstatt aber jetzt den logischen Weg zu gehen und ihren Bruder schön weitermachen zu lassen, damit er als Spinner dasteht, der Verschwörungen sieht, wo gar keine sind, lässt dieser supertolle Geheimdienst ihn verschwinden. Nein, er lässt ihn nicht nur verschwinden, er löscht auch noch alle Hinweise auf ihn, damit Jenny auf jeden Fall checkt: Da ist was faul im Staate Dänemark. So dilettantisch muss man erst mal sein...

Und so lässt du mich also mit einer Geschichte zurück, die ich Drehen und Wenden kann wie ich möchte und trotzdem nicht bei mir ankommt. Denn ich halte sie einfach für in keinster Weise realistisch. Das ist schade, denn im Aufbau finde ich sie gelungen (zu meiner Schande muss ich sogar gestehen, dass ich wirklich erst im allerletzten Abschnitt gerafft habe, was die Pointe sein wird - der virtuelle Krieg war mir bereits nach den Fragen zu den Computer-Spielen beim Bewerbungsgespräch klar) und auch sonst habe ich relativ wenig gefunden, was mir negativ aufgefallen wäre:

Der Tag, an dem Jenny Reilly beschloss, Soldatin zu werden, war ziemlich beschissen gewesen. An einem guten Tag hätte sie sich möglicherweise anders entschieden. Andererseits waren gute Tage ziemlich selten für Leute wie Jenny. Vielleicht war ihre Entscheidung also letztendlich unvermeidlich.
Jener Tag hatte schon nicht besonders angefangen. Morgens hatte es wieder einmal kein warmes Wasser gegeben, und das eiskalte Rinnsal, mit dem sie geduscht hatte, war braun gewesen und hatte diesen stechenden Chemikaliengeruch verströmt. Dann hatte sie (natürlich) den Bus verpasst und eine halbe Stunde im Regen gewartet. Aber es war das Gespräch auf dem Arbeitsamt, das es zu einem wirklich miesen Tag machte.
Es tut uns leid, Ms. Reilly, aber für Leute mit Ihrem Qualifikationslevel gibt es nicht viele Stellen. Dieser Satz würde eines Tages auf ihrem Grabstein stehen, dachte Jenny.
Und es war nicht einmal die Wahrheit. Es hätte heißen müssen: Für Leute wie dich gibt es überhaupt keine Stellen, und „es tut uns leid“ ist nur so eine Redewendung, die dir das Gefühl geben soll, mehr als eine Nummer zu sein.
Es war nicht fair.
Sie war neunzehn Jahre alt, nicht dumm und für ein Mädchen aus dem C-District sogar recht hübsch. Sie hatte noch all ihre Zähne, und die typischen Hautkrankheiten waren ihr bisher erspart geblieben. Aber trotz allem blieb sie ein Mädchen aus dem C-District, und C-District war das Wort, das man eingeführt hatte, um nicht mehr „Slums“ sagen zu müssen.
Sie hatte keinen Schulabschluss, keinen Job, keine Perspektive. Ja, sie hatte noch nicht einmal einen Freund. Sie war bloß eine dieser Jugendlichen, die den größten Teil ihrer Zeit vor dem Computer verbrachten und stundenlang dämliche Spiele spielten, weil es immer noch besser war, die Zeit totzuschlagen als sich gegenseitig.
Natürlich, sie hatte das Plakat gesehen, das mit dem lächelnden jungen Mann und der lächelnden jungen Frau in Uniform und dem Slogan Für Demokratie und Menschenrechte warb. Es war nicht zu übersehen, wenn man vom Arbeitsamt im B-District auf dem Weg zurück zur Bushaltestelle war. Aber es interessierte sie nicht besonders.
Jenny Reilly gehörte nicht zu den jungen Leuten, denen man beigebracht hatte, dass die Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte ihre Pflicht sei. An der Schule, die sie besucht hatte, hatten solche hochtrabenden Grundsätze keinen Platz. Man musste man schon froh sein, wenn man sie nicht als Analphabet verließ.
Und Jennys Eltern interessierten sich nicht für Politik. Die Leute im C-District hatten andere Sorgen. Natürlich wussten sie, dass es Krieg gab. Natürlich sahen sie die Bilder der Bombenanschläge in den Abendnachrichten, die Trümmerfelder, die Leichenteile, die weinenden, blutverschmierten Überlebenden, und natürlich hörten sie, wie die virtuelle Nachrichtensprecherin mit einer Stimme voll computergenerierter Betroffenheit die Zahl der Kinder unter den Opfern nannte. Natürlich fragten sie sich, wie Menschen kalt und abgestumpft genug sein konnten, um so etwas zu tun ... Aber dann vergaßen sie es wieder und dachten daran, wie sie ihre Kredite abzahlen sollten und dass es immer noch durchs Dach regnete. Das waren die wirklichen Schrecken des C-Districts – jener Teile der Stadt, die zu arm und unbedeutend waren, um das Ziel von Anschlägen zu werden.
Es war schon Nachmittag, als Jenny an der Haltestelle mit dem großen C aus dem Bus stieg. Und dort sah sie dann das andere Plakat.
Den Leuten, die sich das ausgedacht hatten, war eindeutig bewusst gewesen, dass sie es hier im C-District mit einer anderen Zielgruppe zu tun hatten. Das Plakat zeigte ebenfalls zwei lächelnde junge Menschen in Uniform, wie das, was sie zuvor im B-District gesehen hatte (im A-District wurde sicher nicht um Freiwillige geworben, dachte Jenny, die Leute dort waren zu reich, um mit patriotischen Pflichten belästigt zu werden).
Es hätte sogar dasselbe Bild sein können. Nur der Slogan war ein anderer. Er lautete: Ein Job. Eine Krankenversicherung. Eine Zukunft.
Tja, das waren drei Dinge, die sie nicht hatte, dachte Jenny.
Das Plakat war eines der wenigen an der Haltestelle, die weder mit Graffiti beschmiert noch von irgendwem zerfetzt worden waren. Das Papier schien beinahe zu leuchten.
Kein Schulabschluss erforderlich! las Jenny. Ihr Qualifikationslevel hat keinen Einfluss auf den Eignungstest! Jede Bewerbung willkommen!
Sie hatte noch keinen Plan, als sie nach Hause ging. Aber in ihrem Unterbewusstsein hämmerte etwas, wie ein Lied, das man den ganzen Tag über im Kopf hat und ständig vor sich hin singt, ohne es zu bemerken.

Ich habe einmal alle Stellen fett markiert, die meiner Meinung nach nicht da stehen müssten, sondern auf mich fast ein wenig redundant wirkten, da du mit Begrifflichkeiten arbeitest, die viele Details bei einem selbst im Kopf entstehen lassen. Zum Beispiel das Wasser, dass wirkt mir zu dick (jaja, ich habe selber gerade erst so eine Umweltgeschichte geschrieben und sollte hier ganz still sein...) - die arme, arme Unterschicht, gebeutelt und wie Dreck behandelt. Das wird später sowieso klar und da wir alle inzwischen genug Science-Fiction-Filme mit Slums für die unteren 10 Millionen gesehen haben, entstehen die Bilder automatisch im Kopf.

Das gleiche gilt auch für ihre fehlenden Hautkrankheiten und vorhandenen Zähne. Sie sieht für den Slum noch ziemlich gut aus - das reicht aus, damit sich jeder was darunter vorstellen kann.

Der letzte markierte Satz ist meiner Meinung nach redundant, da du durch die Beschreibung klar machst, dass eine andere Zielgruppe angesprochen wird, denn schließlich kennen wir schon das andere Plakat.

Als letztes noch etwas zum unterstrichenen Satz. Ich finde, dass er sich seltsam anhört und würde es natürlich finden, wenn er "...die Zeit als sich gegenseitig totzuschlagen." lauten würde.

„Aber man bekommt automatisch eine Krankenversicherung“, sagte Jenny. „Und die Familie ist dann mit versichert.“
„Dafür wärst du bereit, Menschen umzubringen?“, fragte er, bereits etwas lauter.
„Dafür wäre ich bereit, Terroristen zu töten“, antwortete sie.
Und schon hatten sie den schönsten Streit, den man sich wünschen konnte. Es war genau das richtige, um sich nach so einem Tag abzureagieren.
Jenny wusste natürlich, dass sie Recht hatte.
Womit hat Jenny Recht? Damit, dass sie Terroristen für eine Krankenversicherung töten würde? Das hat Robert nie in Abrede gestellt. Ich schätze, du wolltest ausdrücken, dass Jenny wusste, dass die Armee die beste Option für sie ist, aber so liest es sich eben nicht.

Das war das einzige, was Jenny Reilly wirklich gut konnte.
...
Eigentlich kannte sie das Militär nur aus alten Filmen, die fast alle von einem Typen namens Hollywood gedreht worden waren.

Diese Sätze wirken auf mich etwas deplatziert, da du am Anfang klar machst, dass Jenny nicht dumm ist. Und Jenny hat uns das schon bewiesen und wird es auch im weiteren Verlauf der Verhandlung beweisen. Hier stellst du sie aber viel schlechter da als sie ist. Jenny ist z.B. ziemlich gut im problemorientierten Denken. Sie ist gut darin, logische Verknüpfungen herzustellen. Jenny kann sich gut konzentrieren. Das sind alles Sachen, die sie gut kann und die ihr bewusst sein müssen. So, wie du Jenny bisher beschrieben hast, weiß sie, dass sie mehr könnte, wenn ihr endlich einmal jemand eine Chance geben würde. Und jetzt ist das einzige, was sie gut kann, Computer spielen? Ich würde es besser finden, wenn es das einzige wäre, bei dem sie sich gut fühlt. Denn dann würde es unterstreichen, dass sie darin sehr gut ist, ohne Jenny dümmer zu machen, als sie ist.

Beim zweiten Satz nehme ich Jenny nicht ab, dass sie glaubt, dass Hollywood ein Regisseur ist. Dafür ist sie viel zu intelligent. "Eigentlich kannte sie das Militär nur aus alten Hollywood-Filmen." tut's doch genauso.

Sie drehte den Kopf und sah eine junge Schwarze. Ein schwarzes Mädchen, um genau zu sein.

Erst dachte ich, dass du hier einfach doppelt gemoppelt hast, bis mir später klar wurde, dass du darauf hinaus wolltest, dass Alice SEHR jung ist. Nur ist bei mir im Kopf "eine junge Schwarze" synonym mit "ein schwarzes Mädchen". Vielleicht kannst du es ja zusammen ziehen zu "ein junges schwarzes Mädchen"...

Sie konnte ihn sich richtig vorstellen, wie er mit einem „Soldaten sind Mörder“-Sandwich-Plakat in ihrem Gehirn herumspazierte.

Was ist ein Sandwich-Plakat?

In ihrer ersten Nacht als Soldatin schlief Jenny Reilly fast überhaupt nicht.

"Fast überhaupt nicht" = "kaum"

Und es war cool, mit ihm zu schlafen ... wenn auch ehrlich gesagt nicht so toll, wie sie sich vorgestellt hatte.

Hier fehlt ein "es" zwischen "sie" und "sich".

„Wärmebildkameras“, hatte Sergeant Anderson erklärt. „Diese Dinger sind so empfindlich, dass sie tatsächlich die exakte Position einzelner Personen ausmachen können. Und unsere intelligenten Bomben sind so präzise, dass Sie es in den meisten Fällen vermeiden können, Zivilisten zu treffen. Wenn die Situation es erlaubt, können Sie vor dem Abwurf auch ein Warnsignal geben, damit sich die Leute vom Zielort entfernen. Sie wissen ja, dass wir den größten Wert darauf legen, menschliches Leben zu schonen.“

Diesen Abschnitt fand ich sehr verwirrend, da ihn erst dahingehend verstanden habe, dass die Bomben dazu genutzt werden, gezielt einzelne Personen zu töten, Unbeteiligte aber nach Möglichkeit zu schonen. Darum habe ich überhaupt nicht verstanden, warum man denn dann Warnsignale geben sollte und wieso Jenny damit Probleme hatte, dass rote Punkte zu Schaden kommen, wenn das doch das primäre Ziel ist.

Meine Verwirrung rührt glaube ich daher, dass die Wärmebildkameras "die exakte Position einzelner Personen ausmachen kann". Das schien mir dann die Hauptaufgabe zu sein und nicht mehr das Feature. Vielleicht können die Dinger ja so exakt sein, dass sie ausmachen können, ob und wo sich einzelne Personen im Zielgebiet aufhalten. Dann ist klar, dass alle Personen Zivilisten sind und geschont werden sollen.

Also, fassen wir zum Abschluss noch einmal zusammen: Die Geschichte ist gut geschrieben und komponiert, sodass sich der Spannungsbogen langsam aufbaut, ohne dass du dich allzusehr mit Nebenschauplätzen aufhältst. Aber leider, leider nehme ich sie dir nicht im Geringsten ab. Und damit lässt sie mich am Ende einfach unbefriedigt zurück...

 

Hallo Perdita!

Die Humanisierung des Krieges, durch den Einsatz von hochtechnisierten Waffen, die ferngelenkt und in ihrem Wirkungsgrad präzise abgestimmt sind, ist ein Trugbild.
Auf der anderen Seite des roten Knopfes gibt es immer Menschen, die nach wie vor durch Bomben sterben.
Ein aktuelles Thema, zu einer spannenden wie interessanten SF Geschichte aufbereitet. Sie ist nicht „der“ Beitrag zur Rettung des Genres – Die SF-Szene befindet sich nach Cyberpunk und Endzeitstorys in einer Sinn- und Schaffenskrise. Das ist zumindest mein Eindruck, wenn ich die „Neuheiten“ im Buchhandel sichte – aber ein Fingerzeig in die richtige Richtung.

Tragend in der Geschichte sind soziale und politische Komponenten. Wie ist es in einer Demokratie möglich, Soldaten für einen Krieg zu gewinnen?
Die Mittel sind in der Geschichte, wie auch in der Gegenwart, recht subtil. Da gibt es gefilterte und verfälschte Informationen; es gibt auf Zielgruppen abgestimmte Werbung: Das Soldatentum wird nach Bedarf heroisiert, romantisiert, als Sicherung des Wohlstandes oder als Ausstiegsmöglichkeit aus gesellschaftlichen Randgruppen propagiert.

Die Figuren spiegeln Teile der Gesellschaft. Jenny, die ihrem sozialen Status entfliehen will und dringend Geld für den kranken Vater braucht; die Eltern, die das Kriegsgeschehen verdrängen; Kriegsopfer Henry, der sich rächen und auch ein wenig als (immer noch) vollwertiges Mitglied der Gesellschaft beweisen will; Michael aus Frust, weil ihn seine Freundin verlassen hat – bei ihm hätte ich mir ein anderes Motiv gewünscht; Alice, sie hat (leider) ähnliche Motive wie Jenny, ist aber wesentlich naiver – Bei ihr habe ich das Gefühl, sie ist nur in der Geschichte, um den Begriff Kindersoldat unterzubringen; dann gibt es noch Robert, der als einziger Verschwörungstheorien für wahr hält und am Ende damit Recht hat – Er sorgt für einen Schuss Ironie in der Geschichte.
Auch wenn ich mir etwas mehr Vielfalt bei den Motiven der Charaktere gewünscht hätte, sind sie immerhin allesamt glaubhaft präsentiert.


Mit dem Erzähler bin ich stellenweise etwas uneins.
Ich empfinde ihn als angenehm, sehr kompetent und glaubhaft.
Aber der Erzähler verallgemeinert mir zu oft durch Redewendungen mit „man“ und „die Leute“, und manchmal spricht er den Leser an. Beides wirkt befremdlich.
Ein Erzähler ist, wie die Figuren, auch ein fiktiver Charakter, ein Vermittler zwischen Autor und Leser. Seltsamer Weise habe ich hier manchmal das Gefühl, er spricht nicht einen gegenwärtigen Leser an, sondern einen, der ebenso Teil der fiktiven Welt ist. Das ist interessant, hat aber auch den Nachteil, dass nicht immer klar ist, auf welche Welt er sich (mit seinen Verallgemeinerungen) bezieht, auf die reale oder auf die fiktive. Beispiele dazu weiter unten.

Ein paar Details:

Der Tag, an dem Jenny Reilly beschloss, Soldatin zu werden, war ziemlich beschissen gewesen. An einem guten Tag hätte sie sich möglicherweise anders entschieden.
Ein gelungener Einstieg.
Hier wird die Prota gleich mit Namen vorgestellt.
Ein Konflikt wird angedeutet: Der Tag ihrer Entscheidung war beschissen. Was ein Hinweis darauf ist, das sie eine schlechte Entscheidung getroffen hat.

Andererseits waren gute Tage ziemlich selten für Leute wie Jenny.
An der Stelle fühle ich mich etwas überfordert. Ich kenne Jenny (noch) nicht und soll sie mit „Leute wie sie“ gleichsetzen. Dieser Vergleich gelingt mir nicht.


Vielleicht war ihre Entscheidung also letztendlich unvermeidlich.
Durch den vorausgehenden, undefinierbaren Vergleich komme ich hier ins Schleudern. War ihr Entschluss nun unvermeidlich, weil ihre miesen Tage überwiegen oder weil sie zu den ominösen Leuten gehört?

Jener Tag hatte schon nicht besonders angefangen. Morgens hatte es wieder einmal kein warmes Wasser gegeben, und das eiskalte Rinnsal, mit dem sie geduscht hatte, war braun gewesen und hatte diesen stechenden Chemikaliengeruch verströmt. Dann hatte sie (natürlich) den Bus verpasst und eine halbe Stunde im Regen gewartet. Aber es war das Gespräch auf dem Arbeitsamt, das es zu einem wirklich miesen Tag machte.
„Jener Tag hatte schon nicht besonders angefangen.“ Dieser Satz ergibt ohne dem Wörtchen „gut“ nicht den (vermutlich) beabsichtigten Sinn. „Nicht besonders“ interpretiere ich mit „gewöhnlich/alltäglich“. Nach den bisherigen Informationen gab es, wenn auch in der Unterzahl, durchaus gute Tage.
Auch geht ohne dem Adjektiv „gut“ die Steigerung (weiter unten im Text) hin zu „wirklich mies“ verloren,
und die Wendung „wieder einmal“ ist überflüssig, den „nicht besonders“ heißt: wie immer.

„Dann hatte sie (natürlich) den Bus verpasst …“ Ich glaube nicht, das es in Jennys Welt naturgegeben ist, Busse zu verpassen. Dann wäre es dumm, überhaupt erst zur Bushaltestelle zu gehen.

Natürlich, sie hatte das Plakat gesehen,
Natürlich würde ich durch selbstverständlich ersetzen oder ersatzlos streichen.

Man musste man schon froh sein, wenn man sie nicht als Analphabet verließ.
Zu viel „man“. Und warum wird hier verallgemeinert und nicht von Jenny gesprochen? Jenny war schon froh …
Eine etwas elegantere Verallgemeinerung einer Tatsache wäre: Jenny war schon froh, so wie viele andere in ihrem Viertel, dass sie die Schule nicht als Analphabet(in?) verließ.


Und Jennys Eltern interessierten sich nicht für Politik. Die Leute im C-District hatten andere Sorgen. Natürlich wussten sie, dass es Krieg gab. Natürlich sahen sie die Bilder der
(Auch) Jennys Eltern …
Wieder „die Leute“. Die interessieren den Leser doch nicht! Sie (Jennys Eltern) hatten andere Sorgen.
Natürlich […] natürlich … Dieses Wort solltest du aus deinem Wortschatz streichen. Die Word-Suche brachte das Wort „natürlich“ 31x hervor!
Auch Jennys Eltern interessierten sich nicht für Politik. Sie hatten andere Sorgen. Zweifellos wussten sie, dass es Krieg gab. Sie sahen die Bilder …

Das waren die wirklichen Schrecken des C-Districts – jener Teile der Stadt, die zu arm und unbedeutend waren, um das Ziel von Anschlägen zu werden.
Hier wird nicht klar, ob es einen oder mehrere C-Distrikte gibt.
Das waren die wirklichen Schrecken der C-Distrikte – jene Teile der Stadt, die zu arm und unbedeutend waren, um Ziele von Anschlägen zu werden.

Es war schon Nachmittag, als Jenny an der Haltestelle mit dem großen C aus dem Bus stieg. Und dort sah sie dann das andere Plakat.
Es war schon Nachmittag, … Ist das eine wichtige Information? Und was hat diese mit dem Plakat zu tun? Den Zeitpunkt würde ich nicht so in den Vordergrund stellen, vielleicht sogar ganz weglassen. Wichtig ist, wo das Plakat angebracht ist.
Als Jenny auf ihrem Heimweg an der Haltestelle mit dem großen C aus dem Bus stieg, sah sie dort das andere Plakat.

Ihr Qualifikationslevel hat keinen Einfluss auf den Eignungstest!
Ja, das ist irgendwie witzig. Wozu dann der Test? frage ich mich zunächst, aber dann … Respekt, das ist eine clevere Aussage. Es hat natürlich(!) nur Einfluss auf das Ergebnis.

Ihre Lunge war gesund, aber jedes Mal, wenn sie einen dieser mühsamen Atemzüge hörte, krampfte sich in ihrem eigenen Körper etwas zusammen, bis sie glaubte, selbst keine Luft mehr zu bekommen.
Das ist ein starkes Bild. Ihr gefühlsmäßiges Leiden steigert sich zu etwas Greifbarem, zu körperlichem (Mit-)Leiden.

Sie erzählte ihm vor allem deshalb von dem Plakat, weil es an Tagen wie diesem eine echte Wohltat sein konnte, mit Robert zu streiten.
“Ihm“ und „Robert“ würd ich tauschen. Dann wird gleich klar, das nicht der Vater gemeint ist. Ansonsten: Hochkarätig!

Sechzehnjährige Brüder waren wahrscheinlich überhaupt für nichts anderes gut. Er drückte sich vor der Schule, wo es nur ging, …
Bisher war der Erzähler stark im Vordergrund, wie bei einer klassischen Erzählung. Das ist kein Problem, ich mag starke Erzähler, solange der Erzähler innerhalb der fiktiven Welt bleibt. So wie hier:
„Aber trotz allem blieb sie ein Mädchen aus dem C-District, und C-District war das Wort, das man eingeführt hatte, um nicht mehr „Slums“ sagen zu müssen.“
Trotz der Verallgemeinerung „man“ weiß ich, dass sich das Gesagte immer noch auf die fiktive Welt bezieht, denn in der realen Welt gibt es keinen C-Distrikt.
Sechzehnjährige Brüder (Schwestern, Söhne, Töchter) wahrscheinlich zu nichts gut, gibt es nicht nur in dieser fiktiven Welt, sondern auch in der realen Welt. Und es wird hier so vorgetragen, das ich mich frage, auf welche Welt sich der Erzähler bezieht.
Eindeutiger wäre: Robert war, wie vermutlich alle sechzehnjährigen Brüder, zu überhaupt nichts gut. Er …

Und schon hatten sie den schönsten Streit, den man sich wünschen konnte. Es war genau das richtige, um sich nach so einem Tag abzureagieren.
Mit „… den man sich wünschen konnte“ fühle ich mich angesprochen. Der auktoriale Erzähler hat demnach nicht nur den Überblick in der fiktiven Welt, sondern bildet sich darüber hinaus noch ein, in meinen Kopf blicken zu können.
Das kann ein Erzähler machen, habe ich auch in einer Geschichte so gemacht, aber da war es Programm und von vornherein gewissermaßen angekündigt. Hier wirkt es befremdlich.
… das Richtige …

Er sah aus, als sei er einem der alten Kriegsfilme entsprungen: Sehr groß, sehr athletisch, die Haare so kurz, dass man kaum ihre Farbe erkennen konnte.
Das ist eine Beschreibung und das
Mister Kriegsfilmklischee
ist eine Wertung.

Bis zum Ende des Tages hatten sie ihn besser kennen gelernt, und wenn man ihn besser kannte, war er eigentlich ganz in Ordnung.
Er kam aus dem B-District, wie sie richtig vermutet hatten, war also nicht wegen der Krankenversicherung hier. Sein Grund sei, dass seine Freundin mit ihm Schluss gemacht hatte, erzählte Michael, was Jenny einerseits unglaublich blöd und andererseits irgendwie süß fand.

“und wenn man ihn besser kannte, war er eigentlich ganz in Ordnung.“ Das kann raus.
Nicht nur wegen dem „man“, sondern auch, weil sich das „in Ordnung finden“ (finden, nicht sein!) aus dem letzten Satz ergibt.

Sonst entdecke ich nicht viel zum Kürzen. Zumindest nix Großes. Es gibt hier und da Wiederholungen wie:
„Ihr Dad, der lungenkrank war und die Wohnung kaum verlassen konnte,“
Von der Lungenkrankheit weiß der Leser bereits.
Ihr Dad, der die Wohnung kaum (selten passt besser) verlassen konnte,

Die Geschichte hat mir ausnehmend gut gefallen!


Lieben Gruß

Asterix

 

Hallo MuGo und Asterix,

Vielen Dank für eure ausführlichen Kommentare! Ich wollte schon eher antworten, aber mir ist Das Lied von Eis und Feuer dazwischen gekommen, ich hoffe ihr habt Verständnis :).

MuGo schrieb:
mein Problem ist, dass wir den Zustand doch heute schon haben. Schon jetzt findet der Krieg in Afghanistan in erster Linie mit Drohnen statt, die per Bildschirm gesteuert werden. Schon jetzt werden Terroristen mit gezielten Anschlägen vom sicheren Sessel aus gezielt getötet. Wo ist da jetzt also der große Qualitätssprung?
Den Kritikpunkt kann ich sehr gut nachvollziehen, ich habe mir ganz ähnliche Gedanken gemacht beim Schreiben - in einem Kommentar weiter oben habe ich das auch schon mal so ähnlich mal gesagt. Das ist kein realistisches Zukunftsszenario, und die Art der Kriegsführung ist auch nicht mehr sehr weit von der Realität entfernt, das ist mir bewusst. Aber dieses Thema, dass Krieg sich nicht mehr von einem Computerspiel unterscheidet, hat mich halt gereizt. Ich könnte niemals auf andere Menschen schießen, außer in einer Extremsituation zur Selbstverteidigung, und wahrscheinlich nicht mal dann. Ich kann aber in einem Spiel jede Menge Pixelgegner brutal umbringen und habe Spaß daran. Die Vorstellung, ich könnte mit virtueller Gewalt unwissentlich echten Schaden anrichten - das würde mich ziemlich schockieren. Und deshalb wollte ich gern über eine Figur schreiben, die so ein Schockerlebnis hat.

MuGo schrieb:
Keine toten Soldaten, keine Ausbeutung der Armen für die Kriege der Reichen, keine Kollateralschäden mehr - nur noch klinisch saubere Attacken, ausgeführt von jungen Menschen, die endlich eine Chance erhalten und noch nicht einmal davon ausgehen müssen, dass sie dabei draufgehen. Ich würde mir als Regierung die Finger danach lecken, wenn ich so Krieg führen könnte.
Auch die Kritik kann ich gut nachvollziehen. Die Regierung lässt die "Soldaten" nicht wissen, dass sie längst in Wirklichkeit Krieg führen - das würde in der Realität sicher nicht passieren, die Propaganda wäre bestimmt näher an dem, was du in deinem Kommentar ausführst. Aber mir ging es halt um dieses moralische Dilemma, dass jemand glaubt, noch gar nichts mit dem Krieg zu tun und noch niemanden auf dem Gewissen zu haben, um dann festzustellen, dass das nicht stimmt. Und das geht nur, wenn die Wahrheit über die Methoden der Kriegsführung eben nicht bekannt ist. Die "Kollateralschäden" gibt es ja, und nicht zu knapp, weil eben niemand das ganze Ernst nimmt, es ist doch bloß ein Spiel. Die roten Punkte sind ein Beispiel für eins meiner Lieblingssprichwörter, "Das Gegenteil von gut ist gut gemeint." Das ist von jemandem mit den besten Absichten eingeführt worden - klar wollen wir das Leben von Zivilisten schonen, wir sind doch mustergültige Beschützer der Menschenrechte. Das hat jemand entwickelt, der selber daran geglaubt hat. Nur in der Realität geht es eben nach hinten los. Die Geschichte der "Spieleentwickler" kann ich aber hier nicht noch mit einbauen, weil die Geschichte einfach schon so lang ist...

MuGo schrieb:
Aber am Unglaubwürdigsten wirst du meines Erachtens nach in dem Moment in dem die Regierung Robert entführt.
Ja, auch da gebe ich dir durchaus Recht. Im englischen würde man sagen, das ist ein "plot device". Ich wusste von Anfang an, dass die Geschichte damit endet, dass Jenny die Militärbasis bombardiert, um herauszufinden, was Fakt ist. Die Frage war, wie kommt sie an diesen Punkt - und dazu war es notwendig, das Rob verschwindet. Die Geschichte spielt in einem System, dass sich einen humanistischen und demokratischen Anstrich gibt, darunter aber totalitär ist. Wäre es intelligenter, die Verschwörungstheoretiker einfach weiterspielen zu lassen? Auf jeden Fall! Aber so ein System ist eben nicht intelligent.

MuGo schrieb:
Das wird später sowieso klar und da wir alle inzwischen genug Science-Fiction-Filme mit Slums für die unteren 10 Millionen gesehen haben, entstehen die Bilder automatisch im Kopf.

Das gleiche gilt auch für ihre fehlenden Hautkrankheiten und vorhandenen Zähne. Sie sieht für den Slum noch ziemlich gut aus - das reicht aus, damit sich jeder was darunter vorstellen kann.

Ich bin wirklich froh über jeden Hinweis, wo gekürzt werden kann, aber hier bin ich nicht ganz deiner Meinung. Ich will mich nicht einfach darauf verlassen, dass beim Leser schon die richtigen Bilder entstehen, wenn ich ihm nur die richtigen Stichworte zuwerfe. Bildhaftes Schreiben ist wichtig, auch wenn dadurch Redundanzen entstehen. Natürlich soll das nicht zuviel sein und ich will den Leser nicht wie ein Kind behandeln, dem alles vorgekaut werden muss, und ich werde daran arbeiten, das optimale Maß zu finden ... aber "wenn da Slum steht, entstehen schon die richtigen Bilder im Kopf" ist mir zu wenig.

MuGo schrieb:
Als letztes noch etwas zum unterstrichenen Satz. Ich finde, dass er sich seltsam anhört und würde es natürlich finden, wenn er "...die Zeit als sich gegenseitig totzuschlagen." lauten würde
Wenn man es laut liest, klingt "immer noch besser, die Zeit totzuschlagen als sich gegenseitig" besser, zumindest in meinen Ohren. Und ich mag den Satz aus irgendeinem Grund. Der bleibt so! :D

MuGo schrieb:
Womit hat Jenny Recht? Damit, dass sie Terroristen für eine Krankenversicherung töten würde? Das hat Robert nie in Abrede gestellt. Ich schätze, du wolltest ausdrücken, dass Jenny wusste, dass die Armee die beste Option für sie ist, aber so liest es sich eben nicht.
Ja, genau das wollte ich sagen. Es ist richtig für sie, Soldatin zu werden. Ich schaue mal, wie das deutlicher werden kann.

MuGo schrieb:
Ich würde es besser finden, wenn es das einzige wäre, bei dem sie sich gut fühlt. Denn dann würde es unterstreichen, dass sie darin sehr gut ist, ohne Jenny dümmer zu machen, als sie ist.
Das ist ein guter Hinweis, danke. Sie ist natürlich nicht dumm, aber kaum gebildet. Das Spielen das ist das einzige, wo sie selbstbewusst genug ist, um zu sagen, dass sie es gut kann.

MuGo schrieb:
Beim zweiten Satz nehme ich Jenny nicht ab, dass sie glaubt, dass Hollywood ein Regisseur ist. Dafür ist sie viel zu intelligent. "Eigentlich kannte sie das Militär nur aus alten Hollywood-Filmen." tut's doch genauso.
Das war nicht so gemeint, dass sie zu dumm ist, das nicht zu wissen, sondern dass es allgemein nicht mehr bekannt ist. Das soll lange nach Hollywood spielen. Nach ein- bis zweihundert Jahren kann sowas schon mal in Vergessenheit geraten. Und dein Vorschlag tut's nicht genauso, weil meine Version lustiger ist :). Aber ich denke drüber nach!

MuGo schrieb:
Erst dachte ich, dass du hier einfach doppelt gemoppelt hast, bis mir später klar wurde, dass du darauf hinaus wolltest, dass Alice SEHR jung ist.
Ja, das ist ein bisschen blöd, dass "Mädchen" so ziemlich alles zwischen 2 und 20 bedeuten kann. Hier will ich eher auf Kind als auf junge Frau hinaus ... das überlege ich mir, wie es eindeutiger werden könnte.

MuGo schrieb:
Was ist ein Sandwich-Plakat?
Wenn du vorne und hinten ein Plakat hängen hast, so was.

Nochmal vielen Dank für deinen Kommentar, das war eine Herausforderung und hat mich gezwungen, mich noch mal richtig mit dem Text auseinanderzusetzen. Über solche Kritiken freue ich mich sehr!
Du hast mich mit deinem Kommentar auf etwas gestoßen, was ich natürlich vorher wusste, aber noch nie so klar für mich formuliert habe: Es geht in der Geschichte um den moralischen Konflikt der Hauptfigur. Alles andere, die ganze Handlung und der Hintergrund der Geschichte, ordnet sich im Prinzip diesem Ziel unter. Es geht in dem Sinne nicht darum, "realistisch" zu sein, sondern um die Frage "was wäre wenn", also was würde mit einem Menschen in der Situation passieren.

Ich hoffe das kommt jetzt nicht so rüber als wollte ich sagen "Du als Leser willst vielleicht eine glaubwürdige und innovative Geschichte, aber ich als Autor habe es so geschrieben, weil es mir Spaß gemacht hat"
Das sind völlig legitime Forderungen an eine Geschichte, und ich gebe mir auch große Mühe, denen gerecht zu werden.
Ich will eigentlich sagen: Glaubwürdigkeit im Sinne von "könnte irgendwann Wirklichkeit werden" ist nicht immer mein oberstes Ziel beim Schreiben. Manchmal geht es eher darum, bestimmte Ideen auszuloten. Wenn man zum Beispiel "The Handmaid's Tale" als unglaubwürdig kritisieren würde, weil aus den USA doch nie und nimmer die Republik Gilead werden könnte, wäre das auch eine berechtigte Kritik, aber es war vermutlich auch nicht Margaret Atwoods Ziel, die Zukunft vorherzusagen, sondern eine extrem fundamentalistische und sexistische Gesellschaft zu beschreiben, so dass man als Leser über solche Tendenzen, die es in der Realität ja durchaus gibt, vielleicht nachdenkt. Das heißt nicht, dass ich diese Geschichte für einen potenziellen Klassiker halte, das war einfach nur das erste Beispiel was mir einfiel, um das auszudrücken was ich sagen wollte ;)

Asterix schrieb:
Ein aktuelles Thema, zu einer spannenden wie interessanten SF Geschichte aufbereitet. Sie ist nicht „der“ Beitrag zur Rettung des Genres – Die SF-Szene befindet sich nach Cyberpunk und Endzeitstorys in einer Sinn- und Schaffenskrise. Das ist zumindest mein Eindruck, wenn ich die „Neuheiten“ im Buchhandel sichte – aber ein Fingerzeig in die richtige Richtung.
Ich könnte ehrlich gesagt gar nicht beurteilen, wie die Geschichte im Vergleich zur aktuellen SF dasteht, weil ich bisher ziemlich wenige neuere Sachen gelesen habe. Ich bin noch dabei, mich durch die Klassiker zu lesen und habe da auch noch eine lange Liste von Büchern, die ich noch lesen will :shy: Das du den Text spannend findest und meinst er geht in die richtige Richtung, freut mich aber extrem!

Asterix schrieb:
Mit dem Erzähler bin ich stellenweise etwas uneins.
Ich empfinde ihn als angenehm, sehr kompetent und glaubhaft.
Aber der Erzähler verallgemeinert mir zu oft durch Redewendungen mit „man“ und „die Leute“, und manchmal spricht er den Leser an. Beides wirkt befremdlich.
Ich habe das Gefühl, so ein Erzähler schleicht sich immer ein, wenn ich mir irgendwo unsicher bin. Dann richtet der irgendwo eine ironische Bemerkung an den Leser, das gibt mir dann ein bisschen Distanz zum Text und täuscht Coolness vor. Aber für den Leser bringt es dann halt auch eine Distanz rein, was eigentlich nicht gut ist. Ich werde bei meinen nächsten Geschichten mehr Ich-Erzähler benutzen, da kann das nicht so schnell passieren. :)
Ich werde mir Mühe geben, das auch bei dieser Geschichte auszubügeln, aber es fällt mir schwer. Immer wenn ich vor diesem Text sitze und versuche so was rauszustreichen, geht es so was von überhaupt nicht vorwärts. Ich habe da schon so lange dran gesessen, und vieles, von dem ich rational weiß, dass es eigentlich verbessert gehört, ist mir so ans Herz gewachsen, dass ich mich nicht davon trennen kann. Dieser Erzähler gehört dazu. Vielleicht muss ich einfach mal eine neue Version schreiben, mit weniger Figuren, und konsequent aus der Perspektive der Hauptfigur, ohne den auktorialen Erzähler. :)

Asterix schrieb:
Die Geschichte hat mir ausnehmend gut gefallen!
Das höre ich ausnehmend gern! :)

 

Hallo Perdita,
das ist jetzt die erste Geschichte, die ich hier rezensiere und das vor tue ich vor allem, weil ich schon für das Lesen so viel Zeit aufgewandt habe.
Es ist eine wirklich lange Kurzgeschichte, aber ich habe sie in einem Stück gelesen ohne mich auch nur an einer Stelle zu langweilen.
Sie ist dir wirklich gut gelungen. Science Fiction ist gar nicht meine Ecke, aber ich bin über den Umweg einiger Kommentare auf dich als Autorin gestoßen und kann nur sagen, dass ich nicht enttäuscht war.
Also, hinter diesen Umständlichkeiten steckt vor allem viel Lob.
Du beherrscht einen schönen, flüssigen Erzählstil, der Spannungsbogen stimmt, sofern ich das beurteilen kann, die Komposition zwischen Handlung, Dialogen, Einblicken in das Innenleben, Situationsbetrachtungen, Außenwelt usw. ist dir sehr gut gelungen. Das nennt man wohl Erzählenkönnen. Von der Story ist das alles nicht überraschend gewesen, sogar für mich als Genrebanausen, aber ich meine, dass du auch niemanden überraschen wolltest. Die Figuren sind dir sehr gut gelungen, das Zwischenmenschliche hat auch einwandfrei funktioniert und natürlich auch die gesellschaftliche Dystopie. Es sind keine bahnbrechend neuen Konflikte aufgezeigt, aber doch ist es dir gelungen eine recht vielschichtige Geschichte zu erzählen, die insgesamt sehr schlüssig ist und vor allem - ja, das ist wahrscheinlich das wichtigste - vor allem schafft, zu unterhalten, ohne dass man bzw. ich, an irgendeiner Stelle spürbare Abstriche hätte machen müssen.
Ja, ist aber auch wirklich eine lange Kurzgeschichte. Du hast dir definitiv Zeit genommen, um sie zur Entfaltung zu bringen und es hat sich meiner Meinung nach gelohnt.
Lieben Gruß
randundband

 

Hallo randundband,

ich fühle mich extrem gebauchpinselt. :D

Vielen Dank, dass du die Geschichte gelesen und kommentiert hast. Es freut mich natürlich sehr, dass sie dich gut unterhalten hat.

Es ist eine wirklich lange Kurzgeschichte
Ja, wie das passiert ist, weiß ich auch nicht so genau. Es ist ja im Kern eigentlich eine Pointengeschichte. Die stellt man normalerweise nicht in solchen Übergrößen her. :)
Ich erinnere mich, dass ich eine frühe Fassung der Geschichte abgebrochen habe und noch mal von vorn angefangen habe mit dem Schreiben, weil sich da schon abgezeichnet hat, dass die furchtbar ausufert. Ich hatte da noch Sachen drin zu den historischen und politischen Hintergründen, die ich dann weg gelassen habe, aber das Endprodukt ist trotzdem sehr lang geraten, und beim Kürzen war ich nicht sehr erfolgreich, weil ich die Teile der Geschichte zu sehr mag, um mich von einzelnen davon zu trennen.
Aber das hat mich wenigstens ein paar Dinge über ökonomisches Schreiben gelehrt. Bei neuen Texten überlege ich mir von vornherein, welche Figuren ich unbedingt brauche, bevor das Ganze ein Eigenleben entwickelt, und das hilft auf jeden Fall dabei, die Länge im Rahmen zu halten.
Aber es ist schön, dass auch die Texte, die so lang geworden sind, immer wieder Leser finden, obwohl das Forum ein so großes Angebot an guten kurzen Texten bereithält. :)

Von der Story ist das alles nicht überraschend gewesen, sogar für mich als Genrebanausen
Ich glaube, ich bin selbst mindestens ein halber Genrebanause. Als ich die Geschichte schrieb, war mir nämlich noch gar nicht klar, wie alt dieser Hut in Wahrheit schon ist. :D
Ich habe erst im Nachhinein von "Enders Game" von Orson Scott Card gehört - einem SciFi-Klassiker aus den Achtzigern, wo der Protagonist im Glauben, ein Computerspiel zu spielen, einen realen Krieg steuert. Dieses Jahr soll eine Verfilmung davon in die Kinos kommen, und ich bin ziemlich neugierig darauf und noch viel mehr auf das Buch, aber ich will diesem Autor kein Geld geben, weil das ein ultrakonservativer Knilch ist, der politische Organisationen unterstützt, die Lobbyarbeit gegen gleichgeschlechtliche Ehen machen. Also muss ich abwarten, bis ich das Buch mal als Mängelexemplar in einer Ramschkiste finde, oder bis der Autor das Zeitliche segnet oder auf seine alten Tage noch einsichtig wird. :)

Na ja, ich glaube es ist gut, dass ich von dem Buch nichts wusste, sonst hätte mich das wahrscheinlich davon abgehalten, die Geschichte fertig zu schreiben. Es stimmt zwar, dass ich nicht das Ziel habe, komplett neue Plots zu erfinden oder die Leser grundsätzlich zu überraschen, weil das heute fast unmöglich ist, aber wenn ich selbst beim Schreiben das Gefühl habe, "das ist ja alles schon mal dagewesen", das bremst mich schon aus.

 

Dies hier war die Armee von heute. Die Armee von heute war wie eine große Familie, sagte der Sergeant. Das heutige Militär war ein modernes Unternehmen, zu dessen Corporate Identity Zusammenhalt, gegenseitiger Respekt und ein freundlicher Umgangston gehörten.
Da ist gut dargestellt, wie IMMER SCHON Unternehmenskultur (ob wir nun alle in einem Boot säßen oder eine große Familie wären, wie etwa die Mafia) und Militär ineinandergreifen, ja Sicherheit/Security zur Industrie auswächst, um private Kriege zu führen, und selbst der Sport (Turnvater Jahn seligen Angedenkens mit ins Räderwerk passt). Die Arbeiter wurden hinter den Werksmauern diszipliniert, die Kinderarbeit nicht aus Menschenfreundlichkeit abgeschafft, sondern weil diese Kinder allzu früh verschlissen und fürs Militär nicht mehr zu gebrauchen waren. Auch die Spielindustrie kannstu da einreihen, hinzu kommt die Anpassung an die herrschenden Strukturen durch die Kulturindustrie, die ihrerseits einen „erzieherischen“ Effekt hat, und – das will ich nicht verschweigen -, dass im Rahmen der hiesigen Umfirmierung der Titel mich neugierig machte,

liebe Perdita,

und schon kriegen wir die Worte und steigen voll ein, wäre doch m. E. im Eingangszitat statt der Vergangenheitsform die indirekte Rede angemessener, und das „war“ durch „sei“ zu ersetzen.
Was in jedem Fall – wie schon beim Purgatorium - auffällt, ist die inflationäre und durchaus auch entbehrliche Verwendung der Hilfsverben. Aber da haben wir schon drüber gesprochen.

Schon im ersten Absatz find ich neben der erstaunlichen politischen Korrektheit (eines Tages wird es Mensch und Menschin geben) einige Adjektive auf.

Der Tag, an dem Jenny Reilly beschloss, Soldatin zu werden, war ziemlich beschissen gewesen. An einem guten Tag hätte sie sich möglicherweise anders entschieden.
Ja, so spricht man „möglicherweise“, aber muss es im Konjunktiv, also sozusagen als Doppelung der Möglichkeitsform schriftlich festgehalten werden? Eher nicht, selbst wenn der Begriff vom lat. (modus) conjunctivus (= der [Satz]verbindung dienlicher Modus) entlehnt ist (vgl. Duden Bd. 7)
Andererseits waren gute Tage ziemlich selten für Leute wie Jenny.
Zudem will mir der doppelte Auftritt des „ziemlich“ ziemlich entbehrlich zu sein, galt es in höfischer Gesellschaft allein der Konvention und bedeutete ursprünglich „was sich ziemt/gebührlich“, entwickelte sich mit dem nhd. zu „maßvoll/mäßig/ausreichend“ (setz das mal an den entsprechenden Stellen ein!) bis hin zu deren Negation „beträchtlich/in nicht geringem Maße“.
Vielleicht war ihre Entscheidung also letztendlich unvermeidlich.
Hier sind’s dann vielleicht, letztendlich und unvermeidlich, die ich z. T. für vermeidlich halte und zwar durch die schlichte Umwandlung des Aussagesatzes in eine Frage, vllt. so:
[… W]ar ihre Entscheidung also […] unvermeidlich[?]
Robert glaubte fest daran, dass man einzig im Internet die Wahrheit fand
Da wäre Bob auch heute nicht allein. Immerhin gibt er sein Gehirn nicht ab und denkt selber. Aber besser Konjunktiv „finde“ und noch besser, weil Zweifel behaftet, „fände“. (Besser auch für den Freunde-des-Internets-Abschnitt)

Hier wäre „ernst werden“ auch besser im Konjunktiv

Diese neue Software sei teuer und störungsanfällig, aber vor allem ginge es darum, ihnen das Gefühl zu geben, dass es jetzt ernst wurde, damit sie dem wirklichen Ernstfall gewachsen wären.

Dann hatte sie (natürlich) den Bus verpasst und eine halbe Stunde im Regen gewartet.
Was ist außer dem Regen natürlich? Wäre da nicht ein „selbstverständlich“ angemessener?

Irgendwann im Laufe der Woche würden sie vielleicht zu einem Arzt gehen müssen. Und irgendwie müssten sie das dann auch bezahlen.
„Kann ich irgendwas für dich tun, Dad?“, fragte sie. Ihre Stimme hörte sich piepsig an.
Irgend… ist irgendwie entbehrlich (extrem in der Kombination irgend… … vielleicht

Ja, ich weiß, selbst Siggi Freud hat das Wörtchen verwendet – aber wie unterscheiden sich un- und unterbewusstes? Nicht die Bohne! Ein unnützes Synonym

Aber in ihrem Unterbewusstsein hämmerte etwas, wie ein Lied, das man den ganzen Tag über im Kopf hat und ständig vor sich hin singt, ohne es zu bemerken.
Und bemerken ist was anderes als merken. Bemerken ist eher ein „sich äußern“ (die Bemerkung halt), merken heißt da eher etwas beachten.
In der darauf folgenden Stille schienen die asthmatischen Atemzüge sehr laut.
Jetzt kommt mein Deutschlehrer und beweist, dass nur die Sonne scheint, selbst der Mond sein Licht leihen muss. Scheinen hat eine ähnliche Wirkung wie brauchen, und sollte darum mit der Infinitivkonstruktion (zB scheint zu sein) verknüpft werden. Die lässt sich aber einfach umgehen (macht der Grammatikduden auffallend häufig: statt scheinen zu … verwendet er die Vorsilbe er+scheinen).

Jenny wusste, dass ihr Vater ihre Gesellschaft genoss.
Ihr/e? Könnte eines durch den einfachen Artikel ersetzt werden – denn wessen Vater sonst wäre da?

… woraufhin sein Rollstuhl sich in Richtung der beiden Mädchen bewegte und vor ihnen zum stehen kam.
Üblicherweise „zu stehen kam“.

Hier bin ich gestolpert, nicht dass es falsch wäre (Adorno und ich setzens auch schon mal so dahin)

Sie konnte ihn sich richtig vorstellen, …
Tausch die Plätze, schließlich bezieht sich das Reflexivpronomen auf „sie“ und nicht auf „ihn“: „konnte sich ihn …“)

Hier wären Kommas nachzutragen (auffällig oft bei der wörtl. Rede, die aber i. d. R. korrekt ist):

Er drückte sich vor der Schule, wo es nur ging, er vergaß, wann er mit Einkaufen dran war[,] und er brachte nie den Müll weg, …
Jeder wusste das ... jeder[,] außer Robert.
Schlechter Tag[,] hin oder her.
Hier z. B. sind bloße Aufzählungen (will sagen, beide Adjektive sind gleichwertig)
…, eine saubere[,] weiße Fassade und große Fenster. // … mit weichen[,] braunen Locken fragte … // … kurzes[,] graues Haar … // … ihren idiotischen[,] kleinen Bruder … // … voller gesunder[,] junger Leute

Hier zB verstärkt das erste Adjektiv das zweite, was korrekt dargestellt ist
Ein so blendend weißes Kleidungsstück …
Guten Tag, wie ist Ihr Name bitte?“[,] sagte sie dann … // „Tut mir ehrlich leid“[,] sagte Jenny. // „Sind wir echt schon da?“[,] fragte Alice. // „Eine Familienangelegenheit?“[,] fragte Sergeant Anderson. // … von unseren Flugverbänden zerstört worden“ [,] sagte Robert.
Das Gefühl[,] tatsächlich abzuheben und zu fliegen, hatte den Reiz …

Hier hat der Sergeant sich einmal unfreiwillig gewandelt
… wie irgend möglich“ sagte der Seargant.

…, dass sie beinahe geschrieen hatte.
geschrien

Wäre erstaunlich gewesen, auf mehr als zwanzig Manuskriptseiten, dass es ein gehörige Portion Sitzfleisch vorm Bildschirm braucht, nix zu finden. Gleichwohl: Ein schönes Stück zum Gestaltwandel des Krieges oder auch der neuen Kriege (wie Herfried Münkler sie nennt) ist Dir da gelungen!

Gruß

Friedel

 

Hallo Friedrichard,

Vielen Dank, dass du dich so intensiv mit dem Text auseinandergesetzt hast. Ich werde mich um die Dinge, die du gefunden hast, auf jeden Fall noch kümmern, aber ich wollte mich jetzt schon mal bedanken, weil ich so lange nicht aktiv war.

Ich bin nicht überall deiner Meinung - hier zum Beispiel

Was ist außer dem Regen natürlich? Wäre da nicht ein „selbstverständlich“ angemessener?

Das "natürlich" ist umgangssprachlicher - wenn man so herumjammert "das war von vorne bis hinten ein Scheißtag, natürlich hab ich meinen Schlüssel vergessen" (so nach dem Motto: heute hat sich alles gegen mich verschworen) - da würde man nicht "selbstverständlich" sagen - das würde nicht dasselbe ausdrücken. Ich muss aber zugeben, dass ich das "natürlich" ganz schön inflationär verwende, das ist so ein Lieblingwort, was sich immer einschleicht, wenn ich nicht aufpasse. In einem anderen Text habe ich das mal beim Überarbeiten mit der Suchfunktion vom Word gesucht und etwa neun von zehn Verwendungen gestrichen. :)

Im Moment ist es mir zu heiß, um mich mit den ganzen Feinheiten der Formulierung zu befassen, aber ich habe mich sehr gefreut, dass dir die Geschichte gefallen hat und dass du so detailliert auf den Stil eingegangen bist. :)

 

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