Krankenhäuser
Krankenhäuser
Oder: Die unangenehmste Art und Weise, bekloppt zu werden.
Krankenhäuser unterscheiden sich nur minimal von Irrenhäusern. Naja, halt um genau eine Silbe. Auch in der Funktion sind sich beide sehr nahe: Erst wirst du krank, kommst ins Krankenhaus. Bleibst du dort länger als eine Woche, beginnt sich die Geisteskraft zu verflüchtigen. Resultat: Wechsel des Domizils in eine Gummizelle.
Der alte Mann im Bett neben mir schnieft und grunzt. Ich frage mich, ob es unanständig wäre ihn zu bitten, so zu schnarchen, wie alle anderen Menschen es auch tun. Ich werde mal drauf zu sprechen kommen, wenn er wach ist.
Noch ist es vier Uhr morgens. Bei der Geräuschkulisse und den fiesen Schmerzen in Bein und Rücken ist ans Einschlafen nicht zu denken. Das liegt vielleicht auch daran, dass ich mich weigere, zur Nacht ein Zäpfchen zu nehmen. Nada. Niemals. Artikel eins Grundgesetz: Der Arsch des Patienten ist unantastbar.
Allein die Operation war schon entwürdigend genug. Wer die vorschriftsmäßige Kleiderordnung für Patienten bei einer OP kennt, weiß, was ich meine. Kanüle an den Arm - „Oh, das war leider nicht die Vene!“- pieks - „Na, komm schon...“ -pieks! - „Na also!“, und rein mit den Drogen:
„Jetzt wird ihnen gleich etwas schwindelig...“ (jaaa, ich schweeebe, hiiiilfe!) „...und jetzt kommt die Narkose.“ (gliep!).
Hätte man nicht eine Spritze gegen Schmerzen hinterherpumpen können?
Das ist jetzt die sechste Nacht, in der ich vor Schmerz nicht schlafen kann. Gepaart mit dem Entzug von vernünftiger Nahrung und dem permanenten Gequengele der Schwestern und Ärzte, dass ich mich schonen soll und nicht laufen darf, erhärtet sich mein Verdacht, dass ich in naher Zukunft wohl auch wahnsinnig werde.
Meinen senilen, 76-jährigen Zimmergenossen hat es schon derbe erwischt. Laufend brabbelt er Werbeslogans vor sich hin, glotzt die ganze Zeit Fernsehn (selbst wenn’s nur das Testbild ist), schreit alle paar Minuten eine Schwester zusammen. Wenn er gerade nicht brabbelt und sabbert, unterbricht er die Stille im Zimmer gerne durch Reib- und Blaslaute wie „Pfchrrrrrr!“ oder „Pfrrrrrrrzzz!“, deren genauere Bedeutung ich nicht benennen kann. Bei dem Nerventerror ist weder gesittetes Essen noch effektives Lernen möglich, und das zwei Wochen vor meinen Abiturklausuren. Ich hätte mich freiwillig auf Krücken bis zur Kantine geschleppt, um in Ruhe essen zu können, aber das wurde von meinen Peinigern abgelehnt.
Ich ertappe mich bei dem Gedanken, die Wände hochzugehen. Ein wenig Randale zu machen, wegen dem Schmerz, wegen der Langeweile, aus Frustration. Erste Zeichen von Demenz? Ich horche.
Nein, keine Stimmen, die durch das Dunkel an mein Ohr dringen und sich als Geister meiner Ahnen ausgeben. Trotzdem beschleicht mich die Ahnung, dass mein Geisteszustand zu kippen droht. Panik ergreift mich, und meine innere Stimme befiehlt mir: ,Raus! Solange du noch kannst!´ Verdammt, ja! Dafür ist es jetzt auch höchste Zeit! In Eile greife ich mir mein Zeug, pfeffere die OP-Klamotten in einen Mülleimer und tarne mich in normalen Klamotten und unter einem Baseball-Cap.
Als ich zum Laufen anhebe und mich auf die Krücken aufstütze, muss ich einen Schmerzensschrei unterdrücken. Am monotonen Grunzen und Schniefen hinter mir erkenne ich, dass der Alte noch nicht aufgewacht ist. Gut, das. Ich schultere meinen Rucksack so ungelenk wie eben möglich. Doch meine Hauptsorge gilt der Nachtschwester, ein fettes Weibsstück, welches mich zur Not unterm Arm ins Zimmer zurückschleifen wird. Da hilft nur eins: Ich muss sie aus dem Weg schaffen. Auf dem Zimmer kann ich sie nicht ausschalten, wenn es zum Handgemenge kommt, wird der Alte wach.
Ich pirsche mich also raus auf den Flur. Kein einfaches Unterfangen, wenn man zwei klappernde Gehstützen verwendet. Scheiße, also im Liegen. Die Ausrüstung wird nach Guerrillia-Art auf dem Rücken verschnallt, und ich robbe Meter um Meter durch den Flur. Kurz vorm Schwesternzimmer stoppe ich. Durch ein Fenster kann man hineinspähen. Die fette Elke sitzt gerade am PC und schnüffelt in den Daten der Patienten. Na warte, du Schnitzel. Ich richte mich leise auf mein gesundes Bein auf, ziehe eine der Krücken und klopfe zweimal gegen die Tür.
In dem Moment, da sie den Kopf durch die Tür steckt, trifft die Krücke sie auch schon brontal an der Stirn. Sie klappt zusammen, noch bevor sie das erste Wort gesagt hat. Umständlich wuchte ich den Körper wieder ins Schwesternzimmer. Da ich nicht sicher bin, wie lange ihr KO anhält, grabbele ich im Medizinschrank nach Narkotika, die mir etwas mehr Zeit für die Flucht schaffen sollen. Ahhh, gelber Schleim aus Injektionsspritzen. Das hat mich vor der Operation auch umgehauen. Bei ihrem Gewicht gleich mal zwei. Ich wage es nicht, etwas von ihrem fetten Leib zu entblößen, also ramme ich die Nadeln durch das Hemd in ihre Seite. Das wird schon wirken. Besser noch zwei für unterwegs mitnehmen, man weiß ja nie, was noch wartet.
Nun ist der Korridor gesichert, und ich kann mich auf den Weg ins Erdgeschoß machen. Der Aufzug ist beleuchtet und wird zudem noch für Notfälle verwendet, aber für die Treppe werde ich viel länger benötigen. Ich muss mich entscheiden...
Erst als ich unten bin, bereue ich es bitter, die Treppe gewählt zu haben. Bein und Rücken schmerzen wie verrückt, und ich bin total außer Atem, als auf dem Gang außen Schritte ertönen. Eine Bahre wird hereingekarrt Ich kauere mich in eine Ecke unterhalb der Treppe und warte ab...
„...immer noch kritisch, aber er hat gerade einen Großteil wieder ausgekotzt.“
„Gut, wir verabreichen Dryllisophin und hoffen, dass er das Bewusstsein wiedererlangt.“
„Er hat mindestens 3, 4 Promille...“
Das Rettungsteam verschwindet im Fahrstuhl. Also eine Alkoholleiche. Der Glückliche, der wird morgen ohne Diskussion einfach entlassen. Ich luge durch den Türspalt auf den Flur. Die Luft ist rein, ich stake auf den Gehhilfen Richtung Ausgang. Und vergesse dabei prompt den verdammten Pförtner, der mich noch nicht bemerkt hat, weil er in ein schmutziges Porno-Heftchen vertieft ist. Also Kommando zurück aus der Eingangshalle.
„Scheiße!“, fluche ich, vermutlich etwas zu laut. Aus einem an diesem Korridor gelegenen Raum ertönen Schritte. Ich verschwinde, halb hüpfend, halb humpelnd, durch eine Tür. In der Dunkelheit des Zimmers knalle ich erstmal mit dem Kopf gegen eine tiefhängende Apparatur. Scheiße, Röntgen. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich suche ein Fenster - Fehlanzeige. Da wird die Klinke zu meinem Versteck herabgedrückt, und ich bin gefangen. Das Licht geht an, und ein langhaariger, zotteliger Pfleger mit Nickelbrille glotzt mich an.
„Hä? Was machst´n du hier?“
Scheiße, ein geistesschwacher Zivi. Ich versuche es auf die verwirrte Tour.
„..Eh...was? Wer? ... es ist so hell - das Licht - DAS LICHT!... hehe!“
Der Trottel kommt näher. Bingo.
„Pass ´ma auf, ich...“
ZACK! Der saß. Mittlerweile bin ich denen echt dankbar für diese Krücken. Der bekommt auch noch eine KO-Spritze. Besser is das.
Ich lösche das Licht und spicke in den Korridor. Alles wieder ruhig. Ich versuche es gegenüber - eine Wäschekammer. Hunderte von OP-Hemden hängen sorgsam sortiert auf einer Kette von Kleiderbügeln, zig Fächer mit lächerlich weiten Ballonhosen, sogar Duschhauben. Als ich mich durch einen Berg unsortierter Klamotten (ich wage nicht, den davon ausgehenden Gestank zu benennen) prügele, sehe ich es: Ein Fenster, der Weg in die Freiheit. Leider ist die Fensterbank mindestens einen Meter hoch, für einen Invaliden keine leichte Aufgabe. Erst das gebrochene Bein hinüberschwingen - oder doch nicht? Ich wage es - eine Krücke nach innen, eine nach außen gestemmt - und purzele rücklings in den Krankenhausvorgarten. Endlich frei. Mit dem sicheren Gefühl, dem Wahnsinn entronnen zu sein, rappele ich mich auf, trotz der Schmerzen in Rücken und Bein. Doch irgendwie verlässt mich die Kraft - ich kann mich nicht mehr auf die Krücken stemmen. Erstmals seit Tagen werde ich sehr müde, und ich falle vorwärts ins Gras. Mein schwindendes Bewusstsein nimmt gerade noch wahr, dass etwas aus meiner Tasche in meinen Oberschenkel durchgestochen ist...
[Beitrag editiert von: BigXtra am 12.04.2002 um 13:37]