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Kramermarkt

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31.08.2008
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Kramermarkt


„Und nun können wir nirgends mehr hin. Immer steht einer da. Und die Bilder lassen uns nicht los. Ich sage mir tausendmal“ – er schlug aufs Fensterbrett, „dass dies ja nichts weiter ist als ein ganz gewöhnliches Fenster. Ein Fenster mit Rahmen und Glas und einer Pappscheibe in der Klappe. Aber du siehst das Fenster an, und du kannst tun, was du willst; immer sind die Bilder da.“
Nein. Die Welt der Angeklagten. Walter Jens 1950.

Die Musik tönte von allen Seiten, bunte Lichter stoben durch den Abendhimmel, schmalzige Lautsprecherstimmen priesen Karussells, Achterbahn und Autoscooter an. Gisela und Walter schlenderten mit ihren Kindern über den Kramermarkt. Diese Kirmes war ein Muss in Oldenburg, viel wichtiger als der Hamburger Dom, der ja mehrmals im Jahr stattfindet, oder andere derartige Vergnügungsmärkte. Man konnte einem Bummel über den Kramermarkt nicht entgehen, zumindest nicht, wann man Kinder hatte. Gisela wischte der Kleinen die Erdbeermarmelade aus dem Gesicht. Die Berliner waren wieder sehr saftig, und wenn man von der falschen Seite her hineinbiss…. Gisela warf das Papiertaschentuch in den Drahtkorb. Walter verfolgte das Papier mit den Augen; sein Blick blieb lange an dem Papierkorb haften. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn bei dessen Anblick. Er wusste nicht, was es war, aber er wollte so schnell wie möglich weg von hier. Nicht weit war die Straße, dort wären sie raus aus diesem lärmenden Gewimmel. Sein Sohn zog ihn in Richtung Geisterbahn.
„Komm, Papi, komm! Lass uns Geisterbahn fahren!“ Walter murmelte etwas unwillig in sich hinein.
„Sei kein Spaßverderber!“, mahnte Gisela. Walter gab nach.
Er mochte diese Art schauriger Belustigung nicht. Er fand es einfach nicht witzig. Als sie nach den vielen finsteren Passagen, eckigen Kurven, immer gleichen faden Skeletten, die plötzlich vor dem Wagen wackelten, in UV-Licht getaucht fluoreszierend leuchteten, als sie endlich wieder das Freie erlangten, drängte er zum Aufbruch.
Nachdem sie endlich das Auto wiedergefunden, sich samt den Kindern und den quietschenden Luftballons darin untergebracht hatten und losgefahren waren, standen sie, wie jedes Jahr beim Kramermarkt, im Stau.
„Endlich Wochenende!“, seufzte Walter.
„Wie sieht es denn morgen aus? Habt Ihr nicht noch eine Konferenz angesetzt?“, fragte Gisela.
„Ach Scheiße! – Nein doch nicht. Sie wurde abgesetzt. Zu viele, die nicht teilnehmen können. Wir können ausschlafen und haben den Morgen für uns.“
Walter war oft angestrengt, seit er vom Chemielehrer zum Schulleiter eines Oldenburger Gymnasiums geworden war. Nun würde die Konferenz irgendwann in der nächsten Woche stattfinden, bis abends um zehn, wenn es schlimm kam. Richtig freuen konnte er sich nicht auf das Wochenende, aber eine gewisse Erleichterung verschaffte es ihm doch, zwei Tage abspannen zu können.
Der Stau löste sich immer noch nicht. Vor ihnen fuhr ein vollbesetzter schwarzer Audi, so ein fetter Audi, ein A8, ein richtiger Gerhard-Schröder-Audi, wie man ihn selten sah in dieser Beamtenstadt. Walter fiel das Münchener Kennzeichen auf. ´Was die wohl hier wollen´, dachte er, ´die haben doch das Oktoberfest´. Da öffnete sich hinten rechts die Tür und ein Junge stieg aus, mit schlunziger Kleidung, verwaschenen Jeans, Turnschuhen, Lederjacke. Er trug eine Plastiktüte mit einem Paket, das nach oben herausragte. Der Audi stand.
„Jetzt fahr´doch endlich!“, schimpfte Walter.
„Der wird schon seinen Grund haben“, beschwichtigte Gisela.
„Wieso denn? Vor ihm ist frei!“, entgegnete Walter. Auf der Gegenfahrbahn staute es auch, und er war so dicht aufgefahren, dass er sowieso nicht überholen konnte.
Es war ein greller Blitz, der den Himmel durchzuckte, wie eine gewaltige Entladung aller Spannungen, die sich hier aufgestaut hatten, im Himmel, den Menschen, Walter und Gisela, eine Entladung, die augenblicklich das Gefühl vermittelte, dass man schon lange auf sie gewartet hätte, seit Minuten, Stunden, vielleicht seit Jahren wusste, dass es passieren würde. Die Zeit stand still, der Atem stand, die Herzen hörten auf zu schlagen. Die ganze Welt war eingefroren in diesem Blitz. Dann fuhr die Zeit wieder an, Menschen flogen durch die Luft, Teile von Menschen wirbelten umher, Kleidung, Müll, bunte Karusselltierchen und Lebkuchenherzen, das Auto wurde von einem Stoß durchgerüttelt, und ein tiefes Grollen erfüllte die Luft. Walters Herz schlug nun wieder, er atmete durch und wollte fahren, weg von hier, bloß weg, und ganz unvermittelt setzte sich der Audi vor ihnen in Bewegung, als hätte er nur auf diesen Knall gewartet, um loszufahren. Walter und Gisela sprachen kein Wort, auch als die Kinder fragten, was das gewesen sei, erhielten sie keine Antwort.
Zu Hause angekommen, brachte Gisela die Kinder zu Bett. Zum Glück hatten sie diesen Schreck schnell vergessen, die Luftballons und die grellroten Zuckerstangen waren wichtiger. Wie schön war es doch, so schnell seine Aufmerksamkeit auf die Gegenwart richten zu können! Als sie in das Wohnzimmer kam, saß Walter vor dem Fernseher und sah die Tagesthemen. Nach den üblichen Nachrichten aus dem arabischen Frühling kam eine Sondermeldung: in Oldenburg habe am späten Abend auf dem Kramermarkt ein Bombenanschlag stattgefunden. Durch die Explosion seien etwa dreißig Menschen getötet und über einhundert verletzt worden. Nach bisherigen Erkenntnissen habe ein Jugendlicher eine Bombe in einen Papierkorb geworfen; in dem Augenblick sei die Bombe explodiert. Offensichtlich habe der Zeitzünder zur falschen Zeit die Explosion ausgelöst, oder die Bombe habe durch die Erschütterung gezündet. Der Täter wurde von der Bombe völlig zerrissen. Er sei schon identifiziert; es erschien ein Bild eines Heranwachsenden. Auch zur Biografie war die Tagesschau schon kundig, der Täter sei ein Schulabbrecher, der durch Fahren ohne Führerschein, Drogendelikte und die Mitgliedschaft in der Wiking-Jugend aufgefallen sei. Walter traute seinen Augen nicht: das war doch der Junge, der aus dem Audi ausgestiegen war! Der Sprecher führte aus, dass die Polizei nicht von einem politischen Hintergrund ausgehe. Es handele sich um einen Einzeltäter.
„Das stimmt doch nicht!“, entfuhr es ihm.
„Was stimmt nicht?“, wollte Gisela wissen.
„Wo hast du denn deine Augen? Das ist doch der Junge, der vor uns aus dem schwarzen Audi ausgestiegen ist!“
„Glaube ich nicht. So genau konnte man den doch gar nicht sehen.“
„Ich habe ihn aber gesehen. Er ist es!“
„Lass gut sein. Ich glaube, wir haben Schlaf nötig. Morgen sieht die Welt wieder anders aus.“
Gisela war zu angestrengt, sich jetzt mit dem Erlebnis auseinanderzusetzen. Dass sie und ihre Familie nur knapp mit dem Leben davongekommen waren, diesen Gedanken ließ sie gar nicht an sich heran.
Während des Wochenendes fühlte sich Walter wie in Trance. Nur halb nahm er an den Gesprächen teil, antwortete verspätet oder gar nicht, wenn die Kinder ihn etwas fragten, und auch die mahnenden Blicke Giselas erreichten ihn nicht. Er zog sich mehrmals zurück, um die Nachrichten im Radio zu hören. Der Regionalsender hatte Sondersendungen angesetzt, nur wenig war dort über den Tathergang zu erfahren. Ein Einzeltäter habe eine Bombe in einen Papierkorb geworfen, die dabei explodiert sei. Die Füllung habe aus Zucker und Unkraut-Ex bestanden. Es habe zweiunddreißig Tote und einhundertzwanzig zum Teil schwer Verletzte gegeben. Mehr erfuhr er nicht, stattdessen ausführliche Berichte über die Psychologen vor Ort, die die Traumatisierten behandelten, Beiträge über die zunehmende Gewaltbereitschaft der Jugend, die Verwahrlosung, die schädliche Wirkung des Internets. In Walter reifte ein Entschluss: wenn die sich so sicher waren, den Tathergang zu kennen, dann würde er zur Polizei gehen und seine Beobachtung schildern. Gleich morgen.
Als Walter am Montagmorgen in der Polizeiwache seine Beobachtungen darstellen wollte, wurde er schnell unterbrochen. Das sei Sache einer besonderen Task Force Kramermarkt, wurde er belehrt. Wann und wo er die denn sprechen könne? Es sei ja schon alles geklärt. Wenn er trotzdem seine Aussage machen wolle, würde man sich bei ihm melden und ihn vorladen. Unschlüssig fuhr Walter wieder in die Schule. Es dauerte eine ganze Woche, bis die Polizei ihn anrief. Ob er noch zur Aussage bereit sei? Ja, das war er. Walter war irgendwie erleichtert, als er zur Polizei fuhr. Endlich könnte er sich entlasten von den Gedanken, die immer in seinem Kopf kreisten.
Angekommen, ließ man ihn lange warten. Schließlich wurde er in einen Raum geführt, den er bisher nur aus Fernsehkrimis kannte. Schlicht, kühl, absichtlich unangenehmes Licht, verspiegelte Scheiben, hinter denen unerkannte Beobachter zu vermuten waren. Walter schilderte seine Beobachtung: er habe im Stau gestanden, vor ihnen ein voll besetzter schwarzer Audi A8 mit Münchner Kennzeichen, ein Junge sei mit einem Paket ausgestiegen, über den Bürgersteig in Richtung Kramermarkt gegangen, unmittelbar darauf habe es den grellen Blitz und den Donner der Detonation gegeben, dann sei gleich der Audi angefahren. Die Leute im Audi hätten wahrscheinlich den Ort der Detonation sehen können. Den Jungen habe er im Fernsehen klar wiedererkannt.
„Aber es war doch dunkel!“, sagte der Kommissar.
„Wenn Kramermarkt ist, ist es in der Messestraße nirgendwo dunkel“, beharrte Walter.
„Aber wir haben keine Hinweise darauf, dass ein Münchener Wagen hier gewesen ist“, sagte der Kommissar. „Auch aus dem Umfeld des Täters ergibt sich kein Hinweis darauf. Es macht keinen Sinn.“ Walter bestand auf seiner Beobachtung. „Wollen Sie sie wirklich zu Protokoll geben?“, fragte der Kommissar. „Ich meine, das kann einige Unannehmlichkeiten bereiten. Wir werden Sie überprüfen, auch psychologisch testen lassen. Meistens verbirgt sich hinter so abstrusen Phantastereien eine Wahrnehmungsstörung, die man abklären muss. Apropos Wahrnehmungsstörung: waren Sie schon einmal in psychologischer Behandlung?“
„Ja.“
„Und weswegen?“
„Ich hatte einen Burn-Out. Ich habe einige Zeit ausgesetzt und mich beraten lassen, was ich besser machen kann.“
„Soso.“ Der Kommissar machte sich Notizen. Dann bat er ihn, das Wesentliche handschriftlich zu hinterlassen. Widerwillig schrieb Walter seine Aussage auf. „Und unterschreiben, bitte“, mahnte der Kommissar. „Das wär ´s dann. Vielen Dank.“
Walter verließ den Raum. Niemand begleitete ihn zum Ausgang.

Die kommenden Tage entfaltete diese Erfahrung ihre Wirkung. Walter war nicht entlastet, sondern noch stärker in den Strudel seiner Gedanken und Bilder gestoßen worden; er wurde sie nicht los. Auch ein Sinnzusammenhang formte sich in seinem Kopf, der Verstand ging eine Verbindung mit seiner Phantasie ein und ergänzte alles, was er nicht hatte beobachten können, zu einem Ablauf, der zumindest für ihn selbst schlüssig schien. Die Bilder formten sich von selbst; er hatte keine Kontrolle darüber. Der Junge, der mit dem Paket aus dem Auto entlassen wurde, sein Gang mit dem Paket zum Papierkorb, die ihn verfolgenden Blicke aus dem Audi, der Beifahrer, der die Fernauslösung in der Hand hielt und in dem Augenblick auslöste, als der Jugendliche das Paket in den Papierkorb stopfte, mit beiden Armen, so stellte Walter sich das vor, denn dass der Papierkorb übervoll war, daran konnte er sich noch erinnern. Auch die Gleichzeitigkeit der Explosion und des Anfahrens des Audi verfolgte ihn; ihm war, als wäre der Audi einen Sekundenbruchteil vor der Explosion angefahren. Das grelle weiße Licht der Explosion gab ihm zu denken; so explodiert keine selbstgebastelte Bombe aus Unkraut-Ex und Zucker. Seine Kenntnisse als Chemielehrer reichten aus, um in ihm einen inneren Protest gegen diese Nachricht auszulösen. - Die Tagesschau meldete, die Ermittlungen seien eingestellt worden. Da der Täter tot wäre, gebe es keinen Bedarf an weiteren Untersuchungen.
Walter setzte einen schriftlichen Bericht auf und sandte ihn an die Staatsanwaltschaft. Wenn es, wie seine Beobachtung nahelegte, weitere Tatbeteiligte gebe, könnten die Ermittlungen nicht einfach eingestellt werden. Als er auch nach einer Woche keine Antwort erhielt, sandte er eine Kopie an die Nord-West-Zeitung. Die müssten es doch bringen, wenn hier etwas nicht stimmte. Kein Artikel erschien. Er setzte nach und sandte eine Kopie an den Spiegel.
Zwei Tage später war große Aufregung zu Haus: die Tochter war verschwunden. Gisela hatte sofort die Polizei angerufen, als sie vom Spielplatz nicht nach Haus gekommen war. Ihr Bruder hatte nicht bemerkt, wo sie hingegangen war, plötzlich sei sie weggewesen. Walter zitterte, als er das Haus betrat. Gisela sah ihn mit angsterfüllten Blicken an. Sie fielen einander in die Arme. Plötzlich läutete die Glocke. Walter drehte sich um und öffnete. Da stand die Tochter mit einem Polizisten! Die Kleine rannte sofort zu Gisela.
„Ist das Ihre Tochter? Sie wurde uns übergeben. Vielleicht passen Sie in Zukunft besser auf; sie ist wohl noch zu klein, um allein in der Stadt herumzulaufen. Sie hat sich verirrt.“
„Danke, dass Sie sie wiedergebracht haben.“ Walter schloss die Tür. „Was war los? Warum bist Du weggelaufen?“ Das Mädchen sah seinen Vater ungläubig an.
„Ich bin nicht weggelaufen. Da war ein Mann, der hat gesagt, ich solle sofort mitkommen. Er hat mich gepackt und mitgezogen. Der hat mich dann zur Polizei gebracht. Dort musste ich ganz lange auf einer Bank warten, bis mich der Polizist hergefahren hat. Wirklich, ich bin nicht weggelaufen. Und verirren tue ich mich auch nicht“, fügte sie trotzig hinzu.
Der Schreck war schnell wieder abgelegt, irgendwo in der Rumpelkammer des Gehirns, wo all das lagert, was nicht sinnvoll wegsortiert werden konnte und den Alltag störte. Die Schilderung der Tochter war zu ungeheuerlich, um ihr Glauben zu schenken. Hatte sie sich nicht schon öfter mal etwas ausgedacht und dann vehement als Erlebtes verteidigt? Walters Unbehagen steigerte sich. Seit dem Vorfall am Kramermarkt war nichts mehr, wie es war. Er begann an sich selbst zu zweifeln. Als er einige Tage vom Spiegel nichts hörte, rief er in der Redaktion an. Er brauchte lange, bis er einen zuständigen Redakteur am Telefon hatte, der sich sogar an sein Schreiben erinnern konnte. Nein, das habe man gleich beiseitegelegt, auf so einen Brief hin könne man nichts unternehmen, „was meinen Sie wie viele Spinner uns so etwas täglich schicken? Vielen Dank.“
Walter fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Als er abends nach Haus kam, fand er Gisela verstört vor. Überall im Haus war Chaos, der Inhalt des Wohnzimmerschranks war auf dem Teppich verteilt, Geschirr lag herum, Kleidung, Bettwäsche … und mittendrin Gisela, hohläugig, aufgelöst.
„Stimmt das?“ fragte sie mit zittriger Stimme.
„Stimmt was?“, fragte Walter zurück.
„Das war eine Hausdurchsuchung. Die Polizisten hatten einen Durchsuchungsbefehl, sie haben ihn mir gezeigt. Sie waren überall, alles ist durchwühlt. Sie sagten, es gäbe den Verdacht, dass du im Internet verbotene Videos bestellt hast. Stimmt das?“
„Ich? Verbotene Videos? Was für Videos?“ Walter konnte es nicht begreifen.
„Ich weiß es nicht. Mehr wollten sie nicht sagen. Aber sie haben mir einen Beweis gezeigt. In Deinem Schreibtisch lag eine Computerfestplatte, auf die du mit einem Hammer geschlagen haben sollst, damit man die Daten nicht mehr auslesen kann. Der Hammer habe auch dagelegen.“
„Und wo ist der Hammer jetzt?“
„Den haben sie mitgenommen, als Beweisstück.“ Walter schoss in den Keller zu seinem Werkzeugschrank und öffnete ihn. Richtig, sein Hammer fehlte.
Er rannte wieder hoch. „Sage mal, Gisela, du glaubst das doch nicht? Diesen Quatsch? Wenn man Daten verschwinden lassen will, nimmt man doch nicht einen Hammer, haut darauf, und lässt die Festplatte dann für alle sichtbar herumliegen … das ist doch der allerletzte Schwachsinn!“
„Ich weiß es nicht, Walter. Ich bin völlig durcheinander. Jetzt kommen all die Erinnerungen, auf Spiekeroog, wie oft du die Kinder nackt aufgenommen hast, unsere Fotoalben sind doch voll davon, ich mochte sie nie meinen Eltern zeigen…“
Erschöpft ließ Walter sich in einen Sessel fallen. Da saß Gisela vor ihm, so nah, und doch so unerreichbar weit weg. Für immer?
Im Dienst hoffte er auf etwas Normalität. Aber die Kollegen wichen ihm aus, niemand grüßte ihn zurück. Als er seinen Stellvertreter zur Rede stellte, berichtet der vom Anruf des Schulrates, dass gegen den Schulleiter ermittelt werde und er deshalb vom Dienst suspendiert sei. „Vorläufig“, fügte er hinzu. Die Hoffnung auf einen raschen Aufstieg war in seiner Stimme trotzdem nicht zu überhören. Ob er denn keine Nachricht erhalten habe? Walter leerte sein Postfach. Obenauf ein Brief, der musste ja per Boten zugestellt worden sein, datiert auf den heutigen Tag. Wegen der staatsanwaltlichen Ermittlungen käme man nicht umhin, ihn vorsorglich vom Dienst zu suspendieren, hieß es dort, immerhin ginge es um das Wohl der ihm anvertrauten Schüler, das die Behörde mit Priorität zu besorgen habe.
Wieder zu Haus, begrüßten ihn die Kinder fröhlich. Es fiel ihnen nicht als ungewöhnlich auf, dass ihr Vater mitten in der Woche vormittags nach Haus gekommen war. Gisela blieb stumm und wich seinen Blicken aus.
Walter verließ das Haus und fuhr wieder ab. Zunächst wusste er nicht, wohin. Dann merkte er, dass er in Richtung Bad Zwischenahn fuhr. Dort hatten Freunde von ihnen ein Wochenendhaus direkt am See, das sie seit einigen Jahren gelegentlich teilten. Viele schöne Tage hatten sie dort gemeinsam verbracht. Im Rückspiegel sah er einen schwarzen Audi. Wie elektrisiert sah er immer wieder in den Spiegel. Wie viele dieser Audis es doch gab? Er musste sich gegen diese Einbildungen wehren, diesen Verfolgungswahn. Als er die Autobahnausfahrt von Bad Zwischenahn erreicht hatte und blinkte, folgte ihm der Audi. Unwillkürlich entschied er sich, direkt wieder auf die Autobahn und in Richtung Oldenburg zurück zu fahren. Bei der ersten Ausfahrt verließ er die Autobahn und fuhr nun auf der Landstraße wieder in Richtung Bad Zwischenahn. Auf der Strecke passierte er einen schwarzen Audi, der in einer Seitenstraße stand, vollbesetzt. Ihm wurde mulmig. Bevor er an das Zwischenahner Meer kam, parkte er seinen Wagen in einem Waldweg und ging zu Fuß querfeldein zum See. Im Haus angekommen, nahm er sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich damit auf den Bootssteg. Die Sonne erreichte gerade die Baumwipfel auf der gegenüberliegenden Seite des Sees. Mücken tanzten über dem Wasser. Der Abendhimmel spiegelte sich in den Wellen. Das Jever schmeckte heute bitter. Es war einer der letzten warmen Herbsttage, trotzdem, als die Sonne verschwand, wurde es kühl. Gleich, einen Augenblick noch, dann würde er hineingehen und im Kamin das Holz anzünden, das darin vorbereitet lag, mit Papier und Anmachholz unten drunter. Er nahm sein Handy und tippte eine SMS an Gisela. „Es wird alles gut. Ich liebe Dich. Walter“, schickte er ihr. Dann schaltete er das Handy aus. Er wollte nicht wissen, ob und was sie antwortete.
Am nächsten Abend setzte Gisela sich wieder vor den Fernseher. Walter hatte ihr einen Gruß gesimst, das hatte sie irgendwie beruhigt. Sie dachte sich, dass Walter im Wochenendhaus sein würde. Eine kurze Auszeit war sicher gut für sie beide. Sie spürte, wie sie bereit wurde, ihm wieder zu vertrauen. Das alles konnte nicht stimmen; es würde, es musste sich bald aufklären. Die Tagesschau begann. Keine Meldung mehr über das schreckliche Attentat auf dem Kramermarkt mit über dreißig Toten, seit dem ihr Leben so durcheinander geraten war. Zum Schluss eine regionale Meldung: am Zwischenahner Meer habe sich ein Oldenburger Schulleiter das Leben genommen. Ein Großeinsatz von Polizeitauchern habe ihn nahe am Ufer gefunden. Seine Beine seien gefesselt und mit einem Stein verbunden gewesen. Im Haus habe er einen Abschiedsbrief hinterlassen. Darin bedaure der Schulleiter, dass er durch seine Bezüge von illegalen Videos Schande über seine Familie gebracht habe. Gisela saß wie betäubt. Also stimmten die Vorwürfe doch! Wut und Verzweiflung überdeckten den Schmerz über den Verlust ihres Mannes.
Die Beerdigung fand in aller Stille statt. Niemand würdigte diesen Sohn der Stadt, niemand kam vom Rotary-Club, niemand aus den anderen Vereinen, in denen Walter Mitglied war und geglaubt hatte, Freunde zu haben. Auch Gisela ging nicht hin. Walters Eltern nahmen die Kinder mit. Sie schaffte es nicht. Ihre einander widerstrebenden Gefühle machten es ihr unmöglich, sich von Walter zu verabschieden. Auch in den folgenden Wochen ging sie nicht an sein Grab.
Ein Vierteljahr darauf übergab die Polizei die Hinterlassenschaften an Gisela. Seine Uhr, seine Brille, die Kleidung, die Brieftasche. Und den Abschiedsbrief. Gisela zögerte. Jetzt konnte sie diesen Brief, seinen letzten Brief, im Original lesen. Den Text kannte sie ja schon; er war sogar vollständig in der Nordwest-Zeitung abgedruckt worden.
„Liebe Gisela! Ich bitte Dich um Verzeihung für alles, was ich Dir zugefügt habe. Ich kann und will damit nicht weiterleben. Ich wusste, dass mein Geheimnis eines Tages herauskommen würde; aber ich habe gehofft, dass es später geschehe. Dein Walter“
´Was für ein Unsinn´, durchfuhr es sie. Sie ließ den Brief liegen. In den kommenden Tagen nahm sie sich abends, wenn die Kinder schliefen, die Fotoalben und sah sie durch. Wieder wurden diese alten Zeiten lebendig, das Glück, das sie gelebt hatten und das ihnen gar nicht bewusst gewesen war. Dann nahm sie seine Briefe, Walters Briefe, und las sie, zuerst die ganz alten Liebesbriefe, dann die späteren. Zum Schluss die Briefe, die Walter in den vergangenen Jahren geschrieben hatte, wenn er für ein paar Tage zu einer Fortbildung gewesen war. Sie besann sich, wie schön es war, dass er immer noch Briefe per Hand geschrieben hatte, nicht nur kurze Mails oder Nachrichten auf Facebook. Plötzlich fühlte sie eine Unruhe in sich und wusste nicht, woher. Sie sah die Briefe an, erst die alten, dann die späteren, dann den letzten von einem Seminar, dann den Abschiedsbrief. Sie legte sie nebeneinander. Es durchfuhr sie wie ein Blitz, schoss durch ihren Rücken, ihr Kopf glühte und das Herz pochte wild: wie hatte Walter „Walter“ geschrieben? Immer auf dieselbe Weise, nur auf dem Abschiedsbrief sah es anders aus. Aber wie anders? Es war doch seine Schrift!
Sie suchte nach anderen Dokumenten, die er unterschrieben hatte. Die Zeugnisse der Kinder fielen ihr als erstes in die Hände. Sie legte sie zu den Briefen. Ihr Herz pochte noch wilder, nun war es unübersehbar: der Vorname unter dem Abschiedsbrief war geschrieben wie in der vollen Unterschrift, mit Nachnamen. Dieser sah ganz anders aus als der Schriftzug des Walter aus den privaten Briefen, ohne Nachnamen. Ein anderer Schwung, mit einem Übergang zum Nachnamen, nur das der im Abschiedsbrief fehlte.-
Am nächsten Morgen ging Gisela zum Friedhof, besuchte zum ersten Mal Walters Grab, legte einen Blumenstrauß darauf und stand dann still davor. „Verzeih´ mir, Walter“, sagte sie.

 

Hallo Setnemides,

oh ist das unfair... gerade als ich denke, ich erhalte die Lösung, hört deine Geschichte auf. Hmpf.... :D

Das ist schade, ich hätt doch gern irgendwie einen Schluss, der mich mehr überzeugt, aber im Grunde genommen weiß der Leser ja durch deine deutlichen Hinweise, dass es ein Anschlag war, der nicht nur von einem Einzeltäter stammt.

Eine schön spannende Geschichte ist dir da gelungen. Habe daran nichts zu meckern, du baust die Spannung gut auf und hältst sie auch gut auf hohem Level.
Vielleicht ist daher meine Erwartungshaltung die gewesen, dass ich ein noch spannenderes Ende herbei gewünscht habe.
Einmal abgesehen vom Ende, habe ich den kleinen Thriller sehr gern gelesen.


Hier noch ein bisschen Textkram:

der Zeitzünder zu falschen Zeit die Explosion ausgelöst,
zur oder zu der

Das Wochenende fühlte sich Walter wie in Trance
Das ist etwas sehr umgangssprachlich. Ich würde sagen: Während des Wochenendes fühlte sich ....

, das wesentliche handschriftlich
Wesentliche

Walter verließ den Raum Niemand. begleitete ihn zum Ausgang.
Punkt

stärker in Strudel seiner Gedanken
im

als er in die Haustür trat.
Finde ich auch zu ungenau. Als er das Haus betrat.

Da läutete die Glocke. Walter drehte sich um und öffnete. Da stand die Tochter mit einem Polizisten!
Wortwiederholungen

Alles löste sich auf, seit dieser Explosion. Alles.
Das hast du an früherer Stelle schon gesagt, daran erinnert sich der Leser noch. Ich würde daher dies hier streichen.

Freunde von Ihnen ein Wochenendhaus
ihnen

Sie suchte nach anderen Dokumenten ,die er unterschrieben hatte.
Komma


Gern von mir gelesene, spannende Geschichte.


Lieben Gruß

lakita

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Lakita,
schön, dass ich mich darauf verlassen kann, hier eine sorgfältige Kritik zur Verbesserung zu bekommen, danke für die Mühe.
Was die Lösung angeht: ich dachte, der Ablauf sei klar, insofern kommt keine Überraschung, erst zum Schluß begreift auch die Frau, was wirklich passiert ist - die Täter haben noch mehr drauf, und ihr Mann hat keinen Selbstmord begangen. Ich verknüpfe hier Elemente aus mehreren Geschichten, der Anschlag auf das Oktoberfest und die Edathy-Affäre stehen im Vordergrund.

Liebe Grüße

Set

 

Hallo Setnemides,

ich fürchte, ich habe mich missverständlich ausgedrückt. Nein, du hast durchaus ein logisches Ende in deiner Geschichte und ich habe auch fraglos erkannt, dass es um den Gedankenprozess der Ehefrau geht, die am Ende begreift, was wirklich geschehen sein muss.

Aber irgendwie fühlte ich mich so wohl in der Geschichte, die hatte so richtig gute Spannung und ich wollte einfach mehr lesen und weiter lesen und mehr erfahren und deswegen ist das Ende für mich so unbefriedigend. Ich könnte mir gut vorstellen, dass diese Frau jetzt etwas unternimmt gegen den Mord an ihrem Mann und man jetzt weiterbangen muss, ob es ihr gelingt. Vielleicht war das in meinem Kopf, dass ich nicht loslassen wollte, weil ich noch mehr Geschichte erwartet habe.

Also du kannst das jetzt, wenn ich mal unüblicherweise meine eigene Kritik kommentieren darf, als Kompliment dafür sehen, wie fesselnd du geschrieben hast oder als dringende Aufforderung weiter zu schreiben. :D

Lieben Gruß

lakita

 

Toll. Ganz toll finde ich Deine Geschichte, Setnemides. Vielleicht, weil ich glaube, sie zu kennen. Habe selbst eine ähnliche Geschichte entworfen, aber nicht zu Ende gedacht, geschweige gebracht. Die Geschehnisse nach dem Anschlag auf den Oktoberfest 1980 waren ja ähnlich, die Einzeltätertheorie war sofort da, und alle Zeugenaussagen, die dieser Theorie widersprachen, nicht berücksichtigt. Zeugen bzw. mögliche Mitbeteiligte, widerriefen ihre Aussagen, manche starben kurz danach plötzlichen Todes (Herzversagen, Selbstmord).

Du hast diese Atmosphäre der Ohnmacht gut beschrieben. Es wird deutlich, wie zuerst noch subtil gegen den Prot vorgegangen wird, aber als er nicht locker lässt, wird es immer brutaler. Es wird auch deutlich, dass man gegen den Staat – oder den Menschen, die ihn repräsentieren – nichts ausrichten kann, wenn man allein ist. Nicht nur in Italien (Gladio, Bombenanschlag auf den Bahnhof in Bologna im gleichen Jahr 1980 mit viel mehr Opfern), auch bei uns gab und gibt es Mächtige, die sich um den Rechtsstaat nicht scheren. Sie sitzen oft an Schlüsselstellen und können Beweise manipulieren – siehe die verschwundene Festplatte aus dem Polizeigewahrsam, die einem Sohn von Franz Josef Strauß gehörte und der Staatsanwalt, der gegen diesen Sohn ermittelte, stirbt auch noch bei einem Autounfall. Wenn alle Stricke reißen, werden übergeordnete Staatsinteressen gelten gemacht und alle Beteiligte zum Schweigen verpflichtet.

Wir sehen uns diese gut gemachten Bond-Filme an – und vergessen, dass es tatsächlich bei uns Menschen mit Lizenz zum töten gibt, natürlich im Auftrag des Staates bzw. der Menschen, die diese Macht verliehen bekamen. Das sind dann so Fälle, wo Polizei nichts findet – weil sie nichts finden darf. Deshalb ist es so wichtig, dass wir immer noch eine unabhängige Presse haben, obwohl es seitens des Staates immer wieder versucht wird, sie zu überwachen und damit einzuschüchtern.

Das mit der Presse hat in deiner Geschichte zwar nicht funktioniert, aber normalerweise ist das schon eine Story für sie. Vielleicht handelst Du deswegen diese Kontakte zu den Zeitungen in nur wenigen Sätzen ab?

Aber das tut nichts zur Sache, die Geschichte ist trotzdem glaubwürdig. Und den Schluss finde ich auch okay so, denn nach allem, was bis dahin vorgefallen ist, kann man abschätzen, wie dieser „Selbstmord“ geschah.

Kompliment. :thumbsup:

 
Zuletzt bearbeitet:

Zuerst – gefangen durchs Walter-Jens-Zitat – fragte ich mich die Namen lesend:

Gisela und Walter
‚heißt Gisela nicht Inge?’,

lieber Set,

aber schon war ich vorgestern drin in der Geschichte, die den Anschlag aufs Oktoberfest, das schändliche Treiben der NSU (die keineswegs allein aus dem bekannten Triumvirat bestehen wird und Mithelfer in Staatsdiensten gefunden hat, ob als V-Mann oder Ermittler; es wäre mörderisch und überhaupt nicht mehr durchschaubar/nachvollziehbar für die Ermittler und für unsere schöne neue Welt, wenn dieses Lumpenpack sich mit der Mafia verbündete), aus einer anwachsenden Galerie von Selbstmordattentätern, die immer jünger werden, und der Arbeit der Medien – die weniger auf- und er-, als verklären, und also schließen wir mit Christian Morgenstern „messerscharf, dass nicht sein kann, was nicht darf.“

M. E. setztu hiermit die mit „Schlesien im Herbst“ begonnene Arbeit mit geänderter Perspektive in moderner Zeit fort, einzig das blinde Auge der Obrigkeit auf der rechten Seite ist geblieben.

Freilich warstu wohl selber auf der Flucht, was eine erhebliche Menge von Schnitzern anzeigen, was auch die Ursache ist, dass ich erst heute einen ersten Beitrag der Geschichte zufüge. Also in der Reihenfolge ihres/ihrer ersten Auftritts/-tritte:

„Endlich Wochenende!“[,] seufzte Walter.
„ …? Habt Ihr nicht noch eine Konferenz angesetzt?“[,] fragte Gisela.
(Kommt häufiger vor und dass Du die Regel kennst, zeigt sich gelegentlich wie hier:)
„Wieso denn? Vor ihm ist frei!“, entgegnete Walter

Wenigstens einmal schnappt die Fälle-Falle zu:
…, mit schlunziger Kleidung, verwaschene Jeans, Turnschuhe, Lederjacke.
besser Dativ
…, mit schlunziger Kleidung, verwaschene[n] Jeans, Turnschuhe[n], Lederjacke.
…, eine Entladung, die augenblicklich das Gefühl vermittelte, das man schon lange auf sie gewartet hätte, …
Offensichtlich habe der Zeitzünder zu[r] falschen Zeit die Explosion ausgelöst, …
„Wenn Krame[r] rmarkt ist, ist es in der Messestraße …
Das Mädchen sah [seinen/altern.: den] Vater ungläubig an.
…, Bettwäsche[…] …[…]und mittendrin …
Walter le[e]rte sein Postfach.
Dort hatten Freunde von hnen …

Letzte Anmerkung für heute (schließlich muss ich noch übern großen Teich)

Mehr erfuhr er nicht, stattdessen ausführliche Berichte über die Psychologen vor Ort, die die Traumatisierten behandelten, Beiträge über die zunehmende Gewaltbereitschaft der Jugend, die Verwahrlosung, die schädliche Wirkung des Internets.
Bemerkenswert ist doch, dass dem Arabischen Frühling, dem Taksimplatz wie dem Maidan das Loblied des welt-weiten-(ge)werbes gesungen wurde und dann ins Gegenteil kippen kann – irgendwo hab ich mal Bedenken gehört, was wäre, wenn ein Hitler das Internet hätte nutzn können … Den braucht es gar nicht! Die globalisierten Konzerne werdens schon richten – denn wer vermag eine Nachricht noch von einer Anzeige oder Propaganda zu unterscheiden. Die Generation Google wird sich schwer tun. Hinzu kommt die hirnrissige Denglisierung etwa in der schlichten „Einsatzgruppe“ als
task force
.

Gruß

Friedel

PS: Stammt das Jens-Zitat nicht schon aus dem Jahr 1950?

 

Hallo Dion,
Danke für das Lob, tut mir gut. Bezüglich der Einordnung derartiger Vorgänge wie denen in der Geschichte sind wir uns einig; ich möchte natürlich auch die anstoßen, die das anders sehen. Dass der heutigen, in Computerdingen aufgeklärten Gesellschaft unwidersprochen erzählt werden kann, die Polizei habe bei der Hausdurchsuchung eines Politikers auf dem Schreibtisch eine mit einem Hammer bearbeitete Festplatte nebst Hammer gefunden und werte dies als Beweis für versuchte Datenvernichtung, müßte sich irgendwie neurologisch erklären lassen (kollektive Paralyse?), rational ist es kaum zu fassen. Dies war einer der Anstöße zum Schreiben der Geschichte.
Was die Medien angeht, bewerte ich die Situation anders. Es rutscht vielfach noch einiges durch, worüber man sich wundern kann, aber es wird auch viel gezaubert.

Hallo Tashmetum,
richtig, die Adjektive ersetzen ja die Handlung, die diese Stimmungen auch vermitteln könnte. Ich versuche es mal zu verbessern. Dank für die Korrekturen,

Lieber Friedel,
Jens hat sein Buch 1950 veröffentlicht, mein Exemplar im Regal ist von 1954. Es lohnt sich, nachzusehen. Wer meint, Hitler hätte eine andere Qualität erlangt, wenn er das Internet gehabt hätte, schätzt die Rolle der Medien m.E. falsch ein. Es gilt unverändert, dass man seine Augen und Ohren öffnen muss, um wahrzunehmen, was passiert. Man muss die Realität, die sich dann zeigt, aushalten können, sich nicht an stabilisierende Vorstellungen klammern. Man kann das Internet nutzen, um sich zu informieren, man kann es ebenso für eine verbesserte Propaganda nutzen. In der Summe sehe ich da wenig Unterschiede, auch die anderen Medien sind ähnlich: was nützen 40 Fernsehprogramme, wenn sie alle ungefähr dasselbe erzählen? Ein einziger Rundfunksender hat da immer noch den Vorteil, dass man seine Einseitigkeit leichter erkennen kann.
Nein, ich bin nicht auf der Flucht, meine Fluchtigkeitsfehler liegen eher an der langen Schreibpause oder sonst wo dran. Danke umso mehr für die Korrekturen.

Grüße Set

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Setnemides,

ich habe Deine Geschichte schon vor ein paar Tagen gelesen, komme aber jetzt erst zum Antworten. Vieles ist ja schon angemerkt worden, von daher gehe ich nicht mehr so sehr ins Detail.

Ich muss gestehen, ich hätte Deine Geschichte beinahe nicht zu Ende gelesen. Der Einstieg gefiel mir nämlich leider nicht besonders. Zum einen lag das an den schon von den anderen Kommentatoren erwähnten Punkten wie den vielen Adjektiven. Darüber hinaus packte mich aber auch die Kirmes-Stimmung nicht so recht. Vielleicht war ja Deine Absicht durch die eher kurzen Sätze und übergangslosen Szenenwechsel dieses Kirmes-Gefühl rüberzubringen.

Die Grundidee dahinter verstehe ich, eine Kirmes hat für mich mit ihren drängenden Menschenmassen und der bewussten Reizüberflutung, der man sich ja mehr oder (in Walters Fall) weniger freiwillig aussetzt, immer etwas latent bedrohliches. So, wie Du es hier anpackst, funktioniert es aber für mich noch nicht. Vielleicht klappt es eher indem Du exemplarisch ein zwei Szenen beschreibst, so wie z.B. bei der Geisterbahn.

By the way:

Dieser Kirmes war ein Muss in Oldenburg,

Korrigier mich, wenn ich falsch liege, aber ich kenne Kirmes als Femininum, müsste also "Diese Kirmes" heißen, oder?

Was ich auch nicht so recht verstanden habe, war diese Aussage:

Gisela warf das Papiertaschentuch in den Drahtkorb. Walter sah ihr geistesabwesend zu. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn beim Anblick des Papierkorbes. Er wusste nicht, was es war, aber er wollte so schnell wie möglich weg von hier.

Da erzählst Du mir einfach, was Walter beim Anblick des Papierkorb empfindet, ohne dass ich das nachvollziehen kann. Ist da irgendwas Verdächtiges? Wenn ja, was? So bleibt es einfach eine Behauptung.

Verloren hättest Du mich dann bei der Passage über die Lehrerkonferenz. Da ist mir auch nicht ganz klar, wozu die letztlich dient. Soll die Walters Charakter als gestressten Schulleiter besser veranschaulichen? Meiner Meinung nach brauchst Du das in dieser Geschichte gar nicht und an der Stelle hat es mich unnötig aus der Geschichte gerissen.

Weitergelesen habe ich dann letztlich aufgrund der Kommentare, die sich sammelten, denn da dachte ich mir, da muss doch mehr drin stecken. Und siehe da: Ab hier gefällt mir die Geschichte mit jedem Satz besser. Wie Walter kleine Details auffallen, wie er immer unruhiger über die offenbar falsche Berichterstattung wird, sein vergeblicher Gang zur Polizei und zur Presse und schließlich die komplette gesellschaftliche und soziale Demontage des angesehenen Schulleiters und fürsorglichen Vaters: das ist alles nachvollziehbar und spannend dargestellt und geht unter die Haut.
Lediglich die Frau bleibt hier ein wenig blass und nimmt alles sehr undifferenziert / unreflektiert zur Kenntnis - das haben ja andere auch schon angemerkt.

Auch den Schluss finde ich klasse und absolut gelungen. Keine Auflösung, keine Rehabilitierung und die Schuldigen werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Leider genau so, wie man es sich im wirklichen Leben auch zu gut vorstellen kann ...

Wenn ich raten müsste, würde ich schätzen, dass Gisela mit dem Wissen um den vorgetäuschten Selbstmord letztlich gar nichts unternimmt, allein um ihre Familie vor weiterem Schaden zu bewahren. Aber das ist nur meine Interpretation und jeder kann sich seine eigene Antwort zurechtlegen. Gerade deswegen finde ich das Ende genau so richtig und würde daran nichts ändern.

Lediglich die Geschichte mit dem Abschiedsbrief und der Unterschrift habe ich auch nicht so recht verstanden. Meine Interpretation war, dass der Rest mit dem PC geschrieben wurde, das kommt aber im Text glaube ich nicht vor. Generell fand ich den ganzen Teil mit den Unterschriften im Vergleich zum restlichen Text noch ungelenk formuliert:

der Walter unter dem Abschiedsbrief war geschrieben wie der Walter in der vollen Unterschrift, mit Nachnamen. Dieser Walter sah ganz anders aus als der Walter aus den privaten Briefen, ohne Nachnamen.

Das musste ich dreimal lesen, bis ich es verstanden hatte. Vielleicht hast Du ja noch eine Alternative.

So, nochmal zusammengefasst: Mir hat Deine Geschichte sehr gut gefallen und (noch besser) sie hat mich wieder einmal nachdenklich gemacht. Ich bin sehr froh, dass ich nach dem (für mich) holprigen Einstieg doch noch bis zum Ende gelesen habe.

Alle Kritikpunkte sind nur meine Meinung und müssen nicht stimmen ;).

Schöne Grüße
HerrLose

P.S.: Walter, der Chemielehrer ... Ist das eine bewusste Verbeugung vor Breaking Bad, oder Zufall :)?

 

Habe eine Überarbeitung eingestellt, Dank für die Hinweise. Einiges konnte ich nicht lösen, z.B. den deskriptiven Umgang mit Empfindungen beim Einstieg. "Ungutes Gefühl", meine Schwägerin stand einmal vor langer Zeit vor einem großen Gebäude in Madrid, plötzlich überfiel sie eine unbeschreibliche Unruhe, fast Panik, sie zog an meinem Bruder und rief: "Lass uns weg hier!". 24 Stunden später detonierte genau an diesem Ort eine Bombe. Ein solches Gefühl ist gemeint, aber wie löst man das literarisch?
Dank nochmal, Set

 

Hallo Setnemides,

würdest du so hilfreich sein und kurz umreißen, was du geändert hast? Ich habe eben in die Geschichte reingeschaut und mir fiel so auf den ersten Blick nix auf. Aber ich gestehe, der Blick war reichlich oberflächlich.

Dieses eigenartige Gefühl, wenn man meint, eine Vorahnung zu haben, könnte man so darstellen:

Ich greife mir dein Beispiel mit der Schwester heraus, um zu demonstrieren, wie ich es versuchen würde.
Deine Schwester steht vor diesem Gebäude und sie fühlt unvermittelt, dass ihr unbehaglich wird. Sie hat eine Phantasie, eine Vision und sie stellt sich vor, dass dieses Gebäude vor ihren Augen in die Luft fliegt, Betonstücke wie Geschosse umherfliegen, sie zuckt bei dieser Vorstellung, die ihr so real vorkommt, zusammen, duckt sich fast, atmet schneller, kürzer und ihr Unwohlsein steigert sich. Gib der Person mit der Vision Raum, es körperlich zu empfinden, was sie da gerade sieht und zeige die Bilder, die diese Person im Kopf hat.
Ok, aber nun musst du zurück in die Wirklichkeit und die könnte nun so aussehen, dass sich die Schwester schüttelt als wolle sie etwas Lästiges von sich abschütteln und der Leser erfährt ihre Gedanken. Sie geht mit sich ins Gericht, findet ihre Gedanken übertrieben und überzogen und vielleicht sogar lächerlich. Sie sagt sich, dass sie wohl kaum hellseherische Fähigkeiten besitzt, dass ihre Phantasie, die ja sowieso bei allen erdenklichen Situationen Rumba tanzt, ihr jetzt auch einen fetten Streich gespielt hat. Sie wendet sich ab und der Leser weiß vielleicht nicht, ob sie letztendlich doch flieht oder aber , ob sie einfach versucht, den Ort zu verlassen, der ihr so unwirkliche Gefühle beschert hatte. So in etwa würde ich versuchen, es darzustellen.
Also zeigen was im Kopf für Gedanken herumschwirren und auch diesen inneren Dialog schildern, dass man was wahrnimmt, aber sich fragt, ob man sich nicht doch getäuscht haben könnte und man einfach versucht, ein anderes Programm laufen zu lassen und von aussen darstellen, was diese Person körperlich macht. Steht sie steif wie festgefroren, schlackert sie mit den Armen und tritt von einem Fuß auf den anderen, legt sie den Kopf schief, schüttelt sie den Kopf, dreht sie den Oberkörper weg vom Objekt, um das es geht und so weiter. Oder kommt das wie ein Flash binnen Sekunden.

Gewiss sind meine Vorschläge nur Vorschläge und in jeder Hinsicht verbesserungswürdig.

Lieben Gruß

lakita

 

hallo Lakita,

"Überarbeitung" ist vielleicht übertrieben; ich habe die vielen orthographischen Mängel versucht zu beheben, dann die Stelle mit dem Blick auf den Papierkorb anders formuliert und den umgangsprachlichen Schluss mit der Signatur neu formuliert.

Hallo Herr Lose,
über den Charakter der Frau habe ich noch einmal nachgedacht; ich kann die Stellen nicht ändern, ohne die Person neu zu schaffen und müsste dann die Geschichte neu erzählen. Die Darstellung, dass auch über Jahre gewachsenes Vertrauen durch äußere Angriffe gründlich verunsichert werden kann, zumal wenn diese von einer respektierten Instanz ausgehen, ist mir wichtig; ich möchte diesen Aspekt nicht aufgeben.

Danke und Gruß

Set

 

Ich hatte einen Burn-Out.

Eher unbedeutend meine kleine Anmerkung (wahrscheinlich nur, um anzuzeigen, dass ich die Geschichte jetzt auch noch mal durchgesehen hab),

lieber Set -


aber “burnout“ (Ausgebranntsein) wird im engl. nur als Verb (to burn out) auseinandergeschrieben, ansonsten im Deutschen laut (vielleicht bereits überholtem) Duden (24. Aufl., 2006, für die Neuerung "lol" lohnt sich keine neuere Auflage) „Burn-out-Syndrom“ bzw. als Variante (lt. eines Lexikons (Jahrgang 2007) Burnout-Syndrom.

Aber jetzt zum "unguten" Gefühl ...

Gisela warf das Papiertaschentuch in den Drahtkorb. Walter* verfolgte das Papier mit den Augen; sein Blick blieb lange an dem Papierkorb haften. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn bei dessen Anblick. Er wusste nicht, was es war, aber er wollte so schnell wie möglich weg von hier. Nicht weit war die Straße, dort wären sie raus aus diesem lärmenden Gewimmel. Sein Sohn zog ihn in Richtung Geisterbahn.
„Komm, Papi, komm! Lass uns Geisterbahn fahren!“ Walter murmelte etwas unwillig in sich hinein.
* alte Fassung:
Walter sah ihr geistesabwesend zu. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn …

Vielleicht kannstu das „ungute“ durch ein schlechtes oder übles Gefühl ersetzen, wobei etymologisch „schlecht“ mit „schleichen“ verwandt ist. Warum sollte sich nicht ein "übles" Gefühl bereits aufs „lärmende Gewimmel“ zurückführen, also Abneigung Walters - der wohl auch eher ein Einzelgänger zu sein scheint - gegen Masse Mensch?

Gruß und vorsorglich ein schönes Wochenende aus'm Pott vom

Friedel

 

... aber “burnout“ (Ausgebranntsein) wird im engl. nur als Verb (to burn out) auseinandergeschrieben, ansonsten im Deutschen laut (vielleicht bereits überholtem) Duden (24. Aufl., 2006, für die Neuerung "lol" lohnt sich keine neuere Auflage) „Burn-out-Syndrom“ bzw. als Variante (lt. eines Lexikons (Jahrgang 2007) Burnout-Syndrom.
Eine kleine Anmerkung dazu: Der Online-Duden sagt:

Von Duden empfohlene Schreibung: Burn-out
Alternative Schreibung: Burnout

 

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