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Krämers Seele
„Es war an einem Nachmittag im Mai, als ich ihn das erste Mal sah. Meine Frau wollte noch mit den Kindern in einen Buchladen gehen. Wir schlenderten die Fußgängerzone der Altstadt hinunter und haben uns an den Händen gehalten. Wissen Sie, ich habe damals geglaubt, ich wäre glücklich.“
„Sie haben es nur geglaubt?“, wollte Doktor Bernstein wissen.
„Ich habe es angenommen. Oberflächlich betrachtet, ging es mir ausgezeichnet. Ich war erfolgreich in der Arbeit, hatte Familie, genügend Geld auf dem Konto. Ich wurde respektiert. Aber das alles hat sich als nutzlos herausgestellt.“
Bernstein hatte die Akte mit Krämers Krankengeschichte studiert. Jetzt nahm er die Lesebrille ab und schaute ihn prüfend an.
„Würden Sie mir das erste Zusammentreffen mit ihm jetzt mal etwas näher beschreiben?“
Krämers ausdrucksloses Gesicht wurde ernst.
„Ich ging also mit meiner Frau dort entlang und da hatte ich plötzlich so ein unangenehmes Gefühl, … als würde ich beobachtet werden. Ich habe mich umgesehen und dann sah ich diese Augen. Sie starrten mich an. Sie starrten aus dem Schatten einer Gasse zu mir herüber. Es waren keine gewöhnlichen Augen.“
„Was hat diese Augen von anderen unterschieden?“
„Das Weiße in ihnen leuchtete. Und es kam mir so vor, als blickten sie in mein Herz. Ich blieb stehen und da erkannte ich sein Gesicht. Es sah genau wie meines aus, nur war es ganz schwarz, wie von Kohlen. Es … hat mich angegrinst.“
Der Doktor registrierte, wie Krämers Muskeln sich anspannten. Beruhigend legt er seine Hand auf seine Schulter.
„Sie sind in Sicherheit. Es kann Ihnen nichts passieren. Haben ihn dann noch andere wahrgenommen?“
„Ich hab meine Frau gefragt, ob sie diesen Mann kenne. Aber sie konnte ihn nicht sehen.“
„Sie waren also der Einzige?“
„Ja.“
„Könnte es dann nicht sein“, Bernstein setzte die Brille wieder auf, „dass er nur in ihrer Vorstellung existiert hat? Dass es sich hier um eine Person handelt, die, warum auch immer, Sie sich nur einbilden?“
„Er ist keine Person. Er ist meine Seele.“
„Ach, das ist interessant. Wie kommen Sie darauf, wenn ich fragen darf?“
„Er hat es mir natürlich gesagt.“
Bernstein notierte es sich, dann schloss er die Augen und runzelte die Stirn.
„Bei welcher Gelegenheit hat er denn zu Ihnen gesprochen?“
Krämer blickte ins Leere.
„Die ersten paar Tage hat er mich nur angestarrt und beobachtet. Er stand meistens in der Ecke, irgendwo im Dunkeln. Ich habe versucht, ihn so gut es ging zu ignorieren. Ich hab auch mit keinem Menschen darüber gesprochen. Dann eines nachts, hat er angefangen zu reden. 'Siehst du mich?' hat er immer wieder gefragt.“
„Und dann hat er sich als Seele bezeichnet?“
„Ich fragte ihn, wer er sei. Er sagte: 'Ich bin deine Seele. Du lässt mich verhungern'.“
„Ihre Seele war ausgehungert. Wonach verlangte er?“
„Gottes Licht.“
Der Doktor lehnte sich zurück und musterte Krämer.
„Ihre Seele ernährt sich also vom Licht Gottes, richtig? Finden Sie nicht auch, dass dies eine Umschreibung für Mitgefühl, Liebe oder Ausgeglichenheit sein könnte? Sind das nicht alles Dinge, die eine Seele festigt und stärkt?“
„Nein, ich sagte, er hat nach dem Licht Gottes verlangt“ erwiderte Krämer gereizt.
Bernstein ging nicht darauf ein.
„Sagen Sie, wo befindet sich nun Ihre Seele. Wieder in Ihrem Körper, vielleicht?“
„Er steht da drüben“, sagte Krämer und deutete in die Ecke.
…
„Ick bin doch so ne Nette, hast du ne Zigarette?“ Jenny machte einen Schmollmund und klimperte mit ihren Wimpern.
„Lass mich bloß in Ruhe, du übergeschnappte Krähe!“ Doch Jenny dachte gar nicht daran.
„Du kannst mir och Nebelkrähe nennen. Ick kam aus dem Nebel und krähte, … haste jetzt ne Zigarette?“
Das gesamte Raucherzimmer nahm wegen der erhöhten Lautstärke Teil an der Unterhaltung. Einige Bewohner schmunzelten. Jenny genoss die Aufmerksamkeit. Außerdem bereitete es ihr sichtlich Freude, dem Neuen auf die Nerven zu gehen.
„Mach' s mir doch nich so schwer und gib die Kippe endlich her! …. Willste denn alles selber pofen? ... Ach komm schon, denk doch mal an deine armen Leidensjenossen, wir sind hier alle einjeschlossen!“
„Alter, halt jetzt deine Fresse oder du spuckst Blut!“, schrie es aus dem Neuen heraus.
Im selben Moment betrat Krämer das Raucherzimmer. Er ging an den Tisch mit dem Neuen und blickte ihm tief in die Augen.
„Ich glaube, du solltest dir jetzt einen neuen Platz suchen“. Eiseskälte lag in seiner Stimme.
Der Neue rutsche geräuschvoll mit dem Stuhl vom Tisch weg und verließ fluchend das Zimmer.
Krämer setzte sich.
„Jennylein, Jennylein. Kannst es wohl wieder nicht lassen“, sagte er lächelnd.
„Andy, ick brauch jetzt dringend wat zu rochen!“
„Hier. Und jetzt? ... Hast du' s?“, fragte er gedämpft. Er hatte nun wieder seinen ausdruckslosen Blick.
„Warte, ick hol mir nur schnell Feuer.“
Jenny ging zur Tür. An einer Schnur hing das Feuerzeug.
Dann setzte sie sich wieder mit angezogenen Beinen auf den Stuhl. Da sie nie Schuhe trug, waren ihre Socken stets schmutzig. Sie wippte beim Rauchen hin und her.
„Jennylein, was ist nun?“
„Ick habe sie, ick habe sie.“
„Okay, du bekommst meinen restlichen Zigarettenvorrat und noch'n Zwanni dazu.“
Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, schob ihr Krämer alles hin.
Jenny dankte es ihm mit einem irren Grinsen. Sie waren mittlerweile die Einzigen im Raucherzimmer. Schließlich sagte sie mit einer albern tiefen Stimme:
„Meine Damen und Herren, hiermit präsentiere ick Ihnen: die Nagelschere!“
„Ich danke dir, Jennylein. Du bist eine wahre Freundin.“
„Wir sehen uns auf der anderen Seite, Andy!“
Krämer nahm sie rasch an sich und verließ den Saal. Jenny schaute ihm hinterher.
„Ritze, ritze, ratze,
Blutgefäßlein platze.
Rotes Bächlein fließe,
auf des Bades Fliese.
Ist der Andy leer,
gibt's kein Andy mehr.“
...
Wenn ihr das hier liest, werde ich an einem bessern Ort sein.
Mag sein, dass dort Dunkelheit herrscht oder auch Flammen lodern. Aber für mich wird es aushaltbar sein, mehr, als es in diesem Leib ist, da bin ich mir sicher.
Seid weder traurig, noch seid mir böse. Bis zuletzt bin ich bei klarem Verstand und vollem Bewusstsein. Will man meinen Zustand als krank bezeichnen, so stimme ich zu, aber nicht im medizinischen Sinne. Ich bin gesund, doch meine Seele krank.
Eure Versuche, uns Seelenerkrankten helfen zu wollen, verachte ich zutiefst. Ihr habt sie nicht erkannt, die Seele.
Ihr redet von Gefühlen und chemischen Vorgängen im Hirn. Von Grenzen und sozialen Benachteiligungen. Von Traumata.
Doch über meinem Freund hier, der euer Denken sprengt, schweigt ihr. Ihr verleugnet ihn, weil ihr nur das sehen wollt, was eurer Vorstellung entspricht. Und wie kann der wissen, der nur von Büchern gelernt und nicht am eigenen Geist und Leib erfahren hat.
Ich spucke in eure selbstgefälligen Fratzen, ihr hohlen Gestalten!
Jetzt, da ich von meinem Peiniger getrennt sein werde, fällt ein Schimmer Hoffnung in diese dunkle Kammer.
Die Mauern meiner Existenz sind eingerissen. Und ich bin endlich frei.
Hier, diesen da lasse ich bei euch zurück.
Vielleicht hätte ich ihn nicht so verderben lassen sollen. Vielleicht hätte man helfen können.
Aber was war, ist geschehen und es gibt keine Rückkehr.
Und es ist gut so, wie es ist.
Andreas