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Kornblumaugen
Als er unter den goldschimmernden Fenstern des Sommerabends nach Hause ging, versuchte er im Rückblick herauszufinden, wie dieser Tag so aus dem Ruder laufen konnte.
Er war also bei Lena, die er erst ein paar Mal getroffen hatte, nach Hause eingeladen worden. Gegen Mittag fuhr er mit der Tram in eines dieser Viertel, in denen das Wetter immer ein bisschen besser zu sein scheint. Die Haltestellen heissen “Lindenhof“ statt „Krummenacker“ und sind nicht mit „jonas du hurensohn“ verschmiert. Sollte sich trotzdem mal einer als Künstler versuchen, wird sein Werk eiligst vom städtischen Betriebswerk weggewaschen, denn die Leute regen sich leicht auf hier.
Mit einem mulmigen Gefühl ob all der Gepützeltheit und Ordnung, läutete er wenige Minuten später an einer weissgestrichenen Türe mit goldenem Handknauf. Er wartete keine zwei Augenblicke, bis sie ihm die Türe öffnete. Atemlos begrüsste sie ihn mit einem nervösen Lächeln. Sie sah blendend aus in ihrem blauen Kleid, dessen rechter Träger ein bisschen über ihre Schulter gerutscht war. Sonst war alles perfekt; der Anhänger mit dem blauen Stein auf ihrer gebräunten Haut, ihr braunes, dichtes Haar, das sie sorgsam nach links genommen hatte. Ihr Blick schweifte an ihm herunter. Ihm fiel ein, dass er morgens noch seine Schuhe putzen wollte, doch nun war es zu spät. Er lächelte verlegen. Sie lächelte zurück und nahm seine Hand.
„Ah, da ist er ja, unser Herr Doktor!“ Ein grossgewachsener Mann mit kurzgeschorenen, grauen Haaren reichte ihm die Hand. „Also, eigentlich nur Medizinstudent-", wollte er schüchtern einwerfen, doch Lenas Mutter schnitt ihm lachend das Wort ab: "na, dann werden Sie wohl hoffentlich bald ein Arzt sein, oder nicht? Wir wollten immer schon einen Arzt in der Familie haben, wissen Sie.“
Der Tisch war mit einem blendend weissen Tischtuch gedeckt, das Besteck glänzte silbern.
„Mein junger Freund! Wissen Sie, wir essen heute zu Ihren Ehren unser Traditionsgericht! Unsere Familie isst es schon seit Generationen zu besonderen Anlässen! Ein Rindskopf, blutig gebraten. Haha, Sie rollen nun die Augen, aber es ist ganz vorzüglich, sag ich Ihnen! Vor allem der Hals, der auf jeden Fall dran sein muss.“
In der Tat kamen gleich darauf Lena und ihre Mutter mit einem riesigen silbernen Tablett herein, auf dem ein Rindskopf balancierte. Es sah fürchterlich aus, die Augen weit aufgerissen, hing dem armen Tier die Zunge fast bis zu dem mit Blut getränkten Tablettboden.
„Oh, exzellent meine Damen, das nenne ich Kochkunst! Na, haben Sie schon mal ein saftigeres Stück Fleisch gesehen? Haute Cuisine!“
Lenas Vater stand auf und nahm das ihm dargereichte, säbellange Fleischmesser entgegen. Er prüfte es mit strengem Blick und stach dann mit wilder Entschlossenheit in die Mitte der Rinderschädels. Sogleich fing das Hirn an rauszuquellen und vermischte sich mit dem Blut am Boden des Tabletts.
„Herr Doktor! Ich gebe Ihnen ein besonders delikates Stück: Hinterkopf mit Nacken. Nur für ganz besondere Gäste, sag ich Ihnen! Aber passen Sie ja auf, dass das Tischtuch sauber bleibt!
Wissen Sie, wir wollen bei der Gelegenheit auch schauen, ob Sie Manieren haben. An der Tischetikette sieht man den ganzen Charakter, sag ich immer, und wir wollen für unsere Lena doch nur das Beste! Nicht wahr, meine Süsse?“
Lena lächelte und hob ihr Glas hoch. Durch das klare Kristall blitzten ihre Kornblumaugen. Das Farbspiel mit dem Licht machten sie noch schöner.
„Auf eine blendende Zukunft der jungen Generation“, kam ihr der Vater zuvor.
Als alle ihr Stück Fleisch hatten, ging man ans Werk. Er schaute hilflos in die Runde, doch keiner nahm Notiz davon. Sie waren konzentriert damit beschäftigt, mit gekonnter Technik Fleischstreifen vom Schädelknochen zu entfernen, diese dann ins Blut zu tunken und mit genüsslicher Miene zu kosten.
Der Nacken schien einfacher mundgerecht zubereitbar zu sein. Er versuchte die Gabel ins Fleisch zu stecken, sie glitt ab, vermutlich ein Wirbel.
Erstaunt darüber, wollte er die Gabel mit grösserer Kraft reinstossen, wobei das Malheur passierte: In grossem Bogen, gleich einer Fontäne, spritzte Blut über den Tellerrand aufs blütenweisse Tischtuch —
Er wollte ein „Nein“ ausstossen, doch nichts kam raus. Alle starrten auf den roten Fleck vor ihnen, “aber … was machen sie bloss, sind Sie denn wahnsinnig?!“
„Ich wollte das nicht ...“
„ Sie wollten das nicht? Sind Sie völlig übergeschnappt? Was sind denn Sie für einer? Ein Bauerntölpel! ein Taugenichts! Ich dachte ja schon, dass da was faul ist, nur schon diese verfleckten Schuhe!“
Lena schwieg. Aus ihrem linken Mundwinkel lief Blut runter. Sie hatte die eine Gesichtshälfte bekommen, die ihn nun vom Tellerrand entsetzt anstarrte.
„Ich bitte sie, das lässt sich doch auswaschen!“
„Auswaschen? Meinst du, es geht mir um das scheiss Tischtuch? Ich werde deinen Flecken nicht auswaschen, ich werde das verdammte Tuch verbrennen, verstehst du?“
Wieder blieb er stumm, Seine Kehle war wie zugeschnürt, er wollte sich wehren, sich nicht so behandeln lassen, doch sein Körper liess ihn im Stich.
“Na, stehen sie mal auf junger Mann.“
„Warum?“
„Los, los, ich habe nicht ewig Zeit!“
Er gehorchte mit zitternden Beinen.
„Ziehen Sie sich aus!“
„Wie bitte…?“
„Ziehen Sie sich aus!“
Er lächelte ungläubig, das konnte doch nicht sein Ernst sein. Er kam sich vor wie auf der Anklagebank; entsetzte Augen, die nun endlich wissen wollen, wen sie vor sich haben.
„Na gut…“ Er knöpfte sein Hemd auf, zog sein Unterhemd aus.
„Die Hosen auch!“
„Ich bitte Sie, was wollen Sie denn sehen?“
Der Vater nahm sein Fleischmesser in die Hand und liess es in seiner Handfläche drehen.
„Na los, mach schon, rumheulen bringt jetzt nichts.“
Als er seine Hosen ausgezogen hatte, trat der Vater an ihn heran und rupfte ihm mit einem Ruck auch noch seine Unterhosen runter.
„Na, nicht rasiert! War doch klar. Lena, weißt du, was sich hier unten alles ansiedeln kann? Der reinste Urwald, ekelhaft ist dies, nicht anzusehen!“
Er hatte die Unterhosen reflexartig wieder hochgezogen und war zurückgewichen. Die ganze Situation schien wie erstarrt, niemand traute sich mehr zu atmen, er selbst starrte auf den Vater mit dem langen Messer.
„Ja, Sie können sich wieder ankleiden, wir haben genug gesehen.“ Scheinbar resigniert warf der Vater den Säbel in eine Ecke und setze sich erschöpft auf seinen Stuhl.
Wie er die Hosen zuknöpfte, stieg endlich Wut in ihm hoch. Seine Kehle öffnete sich, er spürte das Herz wieder schlagen und Tränen stiegen in seine Augen.
Jetzt richtig laut rumbrüllen, Lena den Stierkopf ins Gesicht drücken und dem Faltenonkel das dumme Kristall um die Ohren hauen, das müsste man jetzt tun.
Er atmete tief durch und nahm das Glas in die Hand.
„Meine Damen und Herren, ich bin sicher, Sie werden eine blendende Zukunft haben!“
Das Glas glänzte klar in der Abendsonne. Vielleicht hätte er sich doch zurückhalten sollen am Schluss, doch nichtsdestotrotz fühlte er sich nun ungemein erleichtert.