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Kopfüber
Das Papier in ihren Händen ist feucht. Ihre Finger sind durchgehend damit beschäftigt, es zusammen- und wieder auseinander zu falten. Noch ein paar Mal mehr und man kann die Schrift zwischen all den Knickfalten nicht mehr lesen. Sie weiß auswendig, was dort geschrieben steht – dank tagelangem Starren auf die Kühlschranktür, wo der Flyer bis heute morgen hing. Je näher das fett gedruckte Datum gerückt war, desto öfter hatte sie mit dem Kühlschrankgriff in der Hand vergessen, warum sie ihn öffnen wollte.
Das Datum ist heute, die Uhrzeit in wenigen Minuten erreicht. Und sie kann noch immer nicht glauben, dass sie hier ist.
Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, nicht herzukommen. Sie hätte auf dem Sofa liegen und sich rentnermäßig von einer dieser Freitagabend-Talkshows einlullen lassen können, um sich von der Woche zu erholen. Aber manche Entscheidungen fällt man, ohne dass man selbst etwas davon mitbekommt. Dann sieht man sich selbst dabei zu, wie man wie fremdgesteuert in die Bahn steigt, wie man den Namen einer Station hört, wie man auftsteht und aussteigt, wie man in einer Schlange zwischen kulturinteressierten Stadtmenschen steht, wie man einen Saal betritt, sich setzt, auf einen Vorhang starrt.
Neun Jahre ist es her. Neun Jahre lang nichts gesehen, nichts gehört und vor allem nicht aufgehört, an sie zu denken. Vor zwei Wochen dann ein Umschlag in der Post. Ohne Absender. Nur dieser Flyer mit einem winzigen Post-It:
Meine erste Hauptrolle, Momo. Würde mich freuen, wenn du kommst.
P.S.: Jedes Wort kam kopfüber.
Der Türrahmen von Niekes Zimmer hatte damals so eine Stange. Ständig hing sie dort wie ein Affe und sagte Zeilen für irgendeine Rolle in der Theater-AG auf, mit hochrotem Kopf und hervortretender Ader auf der Stirn. Ihre Erklärung: Die Worte, die beim Lesen nach unten rutschten, mussten eben wieder hoch in den Kopf kommen, wenn sie sie wieder haben wollte. Sowas Bescheuertes. Mona saß dabei mit Zetteln im Schoß auf Niekes Bett, korrigierte sie beim Aufsagen und stellte fest, wie fremd ein verkehrtherumes Gesicht mit der Zeit aussah, selbst wenn man es noch so gut kannte.
Der Saal füllt sich mit gedämpften Stimmen und deren Körpern, die sich auf der Suche nach ihren Plätzen ducken und entschuldigen. (Links von ihr das typische Deutschlehrer-Gesicht: ein grauer Herr mit unmoderner Brille und Schnäuzer, rechts von ihr ein zurechtgemachtes Paar, vielleicht in ihrem Alter.) Ihre Hand hält noch immer nicht still. Erst recht nicht jetzt, als die Lichter sich verdunkeln und alles Gemurmel verebbt. Ihre schwitzige Haut saugt vermutlich gerade die restliche Druckerschwärze auf. Es ist vollkommen still, aber das Ding in ihrer Brust schlägt so laut, dass es in ihren Ohren pulsiert. Neun Jahre. Verdammt nochmal.
Der Vorhang geht auf.
Als die ersten drei Schauspieler die Bühne betreten, schaut sie panisch von einem zum anderen und ist fast erleichtert, dass es sich bei keinem von ihnen um Nieke handelt. Dann versucht sie, ihre Sinne auf das zu konzentrieren, was aus ihren Mündern kommt. Eine hoffnungslose Angelegenheit.
Zweite Szene. Neue Schauspieler. Nieke betritt die Bühne. Ihr Blick geht durch den Raum. Gehört das zum Spiel? Mona hält die Luft an, jeder Muskel verkrampft sich. Ihre Blicke treffen sich.