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Kopfüber
Ich weiß nicht, ob ich auf die Kompetenz einer Frau vertrauen kann, deren Vorgarten in so einem Zustand ist. Zwei Stunden richtig ranklotzen, dann wäre immerhin schon mal das Gestrüpp vom letzten Winter entfernt. Das denke ich jedes Mal, wenn ich hier auf der Fußmatte stehe. Die müsste übrigens dringend erneuert werden. Das denke ich auch jedes Mal. Und jetzt bleibt auch noch die Klingel hängen, schrillt einfach weiter, ein fieser Ton, wo gibt es noch solche Klingeln, ich drücke darauf herum, bohre meinen Fingernagel in die Ritze, ist die laut, das klingt so entsetzlich dringend, als würde ich sturmklingeln, als wäre was Schreckliches passiert. Mir bricht der Schweiß aus. Und der Fingernagel ab. Aber da reißt die Belugi schon die Tür auf, ruft „Oh weia!“, pult mit einer Haarnadel oder sowas am Klingelknopf und endlich ist Ruhe. Sie entschuldigt sich lachend. Ihr ist doch wohl klar, dass mich so was in die Nähe einer Ohnmacht bringt, oder? Ich wanke hinter ihr her.
Als ich mich setze, habe ich alles vergessen, was ich erzählen wollte. Nein, nicht alles.
„Zwölfmal“, sagt Frau Jensen, während ich noch damit beschäftigt bin, die Nadel wieder im Haar zu befestigen. Sie wirft mir die Zahl vor die Füße wie einen Fehdehandschuh, zwölfmal ist es diese Woche passiert. Die Flitterwochen unserer Therapiebeziehung sind vorbei, die erste große Entlastung, als sie mir stockend gestand, was sie denkt, wenn ihr Kind am allerniedlichsten ist, schon ein paar Wochen her. Und die Dankbarkeit darüber, dass ich nur genickt habe. Sie hat akzeptiert, dass ein Gedanke noch keine Tat ist, nicht mal eine Absicht, sie hat gegoogelt und da stand dasselbe, was ich gesagt habe, und sie hat sich „voll wiedergefunden“ und mir ausführlich erklärt, was mit ihr los ist. Sie hat mich gefragt, ob ich Verhaltenstherapie mache wie im Netz empfohlen und ich habe einen kleinen Augenblick gehofft, dass sie bei mir aufhört und zu der Theimer wechselt oder dem Hansen. Ich finde sie anstrengend und das liegt nicht an den Phantasien, die sie quälen, sie könnte ihr Kind verletzen.
„Zwölfmal?“, frage ich. Sie nickt langsam und guckt mich vorwurfsvoll an.
Dummerweise habe ich es nicht mehr geschafft, mir die Aufzeichnungen von der letzten Stunde durchzulesen. Die zehn Minuten, die ich vor der Sitzung eingeplant hatte, habe ich mit Aufwischen verbracht. Schade um den Kaffee, den hätte ich gut gebrauchen können. Ich schaue sie an. Die zuckenden Muskeln an ihrem Kiefergelenk. Meine Güte.
„Sagen Sie, haben Sie abgenommen?“, frage ich.
Sobald Maja bei ihrer Tagesmutter ist, renne ich. Fahre zur Marienhölzung, hab die Klamotten schon drunter und laufe los, ein oder zwei Stunden. Mark findet das nicht witzig, er meint, dass wir so wenig Zeit zusammen haben, weil ich abends auch nochmal eine Stunde laufe, wenn er Maja nehmen kann. Er sagt, er hat gar nichts gegen ein bisschen Speck auf den Rippen, dabei geht es doch gar nicht darum. Aber, wenn ich recht überlege, er hat sich schon lange nicht mehr beschwert. Die Belugi guckt besorgt.
„Ich jogge ziemlich exzessiv. Ich glaube, das habe ich auch noch. Ich bin laufsüchtig.“
„Das haben Sie auch noch?“ Sie lächelt. Dann holt sie zweimal Luft, denkt nach, lächelt mich an, überlegt. Ich will jetzt wissen, was die ausbrütet.
„Wenn Sie irgendeine Idee haben, was mir helfen würde, immer her damit“, sage ich und lache.
Sie hat eine Art aufzulachen, dass ich zusammenzucke. In den ersten Stunden gab es das ständig, ein Satz, einen Lacher. Sie macht Druck, das verunsichert mich. Wie sie wohl auf ihre Angestellten gewirkt hat? Ich schicke mein kleines, schusseliges Mädchen, das Angst hat zu versagen, auf den Spielplatz. Geh schaukeln, sage ich zu ihr. Lass mich das machen.
Die Läuferin. Damit könnte man vielleicht anfangen.
„Wie fühlt es sich an, das Laufen?“, frage ich. Sie schlägt die Beine übereinander und richtet sich auf. Die Frage gefällt ihr.
„Beim Laufen werden ja Endorphine freigesetzt. Es entsteht ein Rausch, eine Euphorie, ein Flow. Man kriegt Flügel.“ Sie zögert. „Manchmal breite ich die Arme aus, wenn keiner in der Nähe ist und hebe beinahe ab. Aber nur kurz, irgendwie fühle ich mich doch beobachtet.“
„Von wem?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht ist da irgendwo eine Drohne.“ Sie lacht und ich zucke zusammen. Dann schwärmt sie weiter vom Laufen, von der Kraft, die sie fühlt, von der Natur. Ich müsste auch wieder mit Gymnastik anfangen, schon allein für den Rücken. Ich sitze zu viel.
„Manchmal laufe ich so lange, dass ich mich übergeben muss“, sagt sie und schaut mich an, ein kleiner Test, ob ich merke, wie zwiespältig dieses Laufvergnügen ist. Ob ich ihren Schmerz bemerke. Ja, ich bemerke ihn.
„Die Läuferin“, sage ich, „die Läuferin die läuft und läuft, die in einen Rausch kommt, die läuft, bis sie erbrechen muss – wo spüren Sie die im Körper?“
„Ja, in den Beinen logischerweise.“ Sie lacht und ich zucke nicht zusammen. Ich konzentriere mich.
„Nehmen Sie sich ruhig noch einen Moment Zeit. Ist es wirklich nur in den Beinen? Wie fühlt es sich an?“ Sie wippt mit dem übergeschlagenen Fuß, zögert, nickt.
„In den Beinen, in der Lunge, in den Armen. Da ist so eine Kraft, eine Spannung. Unruhe.“
„Und wenn Sie sich jetzt vorstellen, dass Sie dieses Körpergefühl zu einem Bild formen, haben Sie da eine Vorstellung von der Läuferin, vielleicht eine Farbe, eine Figur oder ein Tier?“ Ich male mit den Händen amorphe Formen in die Luft und sie guckt mich zweifelnd an.
„Dann sehe ich mich, wie ich da laufe.“
Sie überlegt.
„Wie eine Amazone.“
Das ist doch schon was.
„Bleiben Sie ruhig noch einen Moment bei ihr und schauen Sie ihr zu. Was trägt sie, wie guckt sie, wo läuft sie?“
„Die rennt, während die Landschaft an ihr vorbeipfeift. Man sieht nur so grüne Schlieren. Ihr Blick ist voll fokussiert. Sie hat was Indianisches an, so braunes Leder. Mit Fransen.“ Jetzt blitzen ihre Augen und wir freuen uns beide über das Bild, das sie mir serviert.
„Und was für ein Gefühl haben Sie gegenüber dieser Amazone?“ Ich sehe es ihr schon an.
„Ich finde sie toll. Sie ist so stark.“
„Vielleicht mögen Sie ihr das mal sagen, dass Sie sie toll finden?“
„Das müsste ich ihr schon hinterherrufen, so schnell ist die.“ Sie lacht und ich auch, diese Amazone bringt hier gerade Leichtigkeit rein.
„Ja, rufen Sie nur. Sie brauchen das nicht laut zu machen, nur in Ihrer Vorstellung.“
„Okay ...“
„Hat sie Sie gehört?“
„Ich weiß nicht. Ja, vielleicht.“
„Bleiben Sie noch bei ihr. Schauen Sie ihr zu. Nehmen Sie sich Zeit für sie.“
„Gut.“
Sie schaut an mir vorbei aus dem Fenster und auch ich wende den Blick ab, damit sie sich nicht angestarrt fühlt. Manchmal schließen Klienten die Augen, aber sie nicht. Ich bin verblüfft, wie schnell sie in ihre Bilder hineinkommt.
„Puh“, sagt sie schließlich, „das reicht.“
„Was passiert gerade?“
„Das ist total anstrengend.“
„Sie spüren, wie anstrengend das für die Amazone ist, die ganze Zeit zu rennen.“
„Ja.“
„Schauen Sie sie weiter an. Vielleicht haben Sie irgendeinen Impuls, wenn Sie sie so sehen?“
Ihr Blick beginnt im Raum zu wandern und ich fürchte, dass sie ausgestiegen ist.
„Mögen Sie ihr einmal sagen, dass Sie sehen, wie anstrengend das ist, das Laufen?“
Sofort schweift ihr Blick aus dem Fenster, in die Ferne, über die Felder. „Okay“,
„Hört sie Sie?“
„Das hat sie gehört.“
„Woran merken Sie, dass sie das gehört hat?“
„Sie hat den Kopf weggedreht. Sie will davon nichts wissen.“
„Sie will davon nichts wissen, wie anstrengend das ist?“
„Nein.“ Sie lacht. „Wie ich.“
„Können Sie die Läuferin einmal fragen, was sie befürchtet, wenn sie anhält und Pause macht?“
Sie schaut immer noch aus dem Fenster. „Also ich habe sie jetzt gefragt ...“
„Aha?“
Sie spricht sehr langsam. „Jetzt sehe ich sie ganz schlecht. Das ist wie ein Nebel, der zieht das Bild weg.“
„Ein Nebel?“
„Ja. Und jetzt sehe ich die Läuferin nicht mehr. Weg.“
„Und der Nebel?“
„Auch weg. Irgendwie bin ich raus.“ Sie sieht mich an, wach und frustriert.
Tja, so ist das bei mir. Ich hätte schon gerne gewusst, was mit meiner Läuferin ist, warum ich so unter Spannung stehe. Aber denkste Puppe. Nichts dahinter. Ich kann sowas nicht. Bestimmt ist die Belugi jetzt enttäuscht. Aber ich bin ja auch nicht hier, um sie glücklich zu machen. Sie soll mich glücklich machen. Ist ja auch nicht ganz billig hier. War das jetzt Hypnose? Das ist jedenfalls neu. Ich habe noch die Liste von letzter Woche in der Tasche, pro und contra, weg vom Homeoffice, wieder mal raus, Maja länger zur Tagesmutter. Ich hab fleißig mitgearbeitet und danach nicht mehr draufgeguckt. Das ist es nicht. Irgendwie bringt es das alles nicht.
Sie ruckelt das Kissen im Rücken zurecht. Sag was, Frau Belugi.
Ich lächele ermutigend. „Das war doch schon einmal ein guter Einstieg. Eine Sache noch. Könnten Sie sich einmal noch bei der Läuferin bedanken, dass sie sich gezeigt hat?“
„Nur bedanken? Soll ich was sagen?“
„Sagen Sie ihr einfach danke. Das können sie auch innerlich sagen.“
„Okay ...“ Sie schaut kurz aus dem Fenster, dann zu mir.
„Hat sie es gehört?“, frage ich.
„Ich glaube ja. Sie hat abgewunken.“
„Sehr beschäftigt, die Läuferin.“
„Ja, die will weiterkommen.“
„Könnten Sie sich jetzt noch bei dem Nebel bedanken?“
„Bei dem Nebel? Der hat doch alles versaut.“
„Er wird schon wichtig sein, der Nebel. Er hat sich gezeigt. Dafür ist es gut, danke zu sagen.“
„Okay ...“
Diesmal ist der Blick länger draußen, sehr lange. Ich warte. Frage schließlich leise: „Was passiert gerade?“
„Da blitzen so Bilder auf.“
„Bilder?“
„Ein kleines Mädchen, das hängt kopfüber an einer Kletterstange.“
„Wie beim Schweinebaumeln?“
„Es wirkt nicht so wie ein Spiel ... Meinen Sie wirklich, das hat was zu bedeuten? Vielleicht habe ich vor drei Tagen was im Fernsehen gesehen, oder so. Ich hab viel Phantasie.“
„Vielleicht können wir herausfinden, ob es was zu bedeuten hat. Wenn Sie mögen, dann schauen Sie dem Kind einen Moment zu.“
„Das führt doch zu nichts.“
„Da meldet sich jetzt so ein skeptischer Teil ...“
„Allerdings.“
„Vielleicht können Sie ihn einmal ansprechen und ihn bitten, ob er bereit wäre für einen Moment beiseite zu treten, damit Sie zu dem Mädchen hinschauen können?“
Sie schüttelt den Kopf. „Also den kann ich jetzt richtig klar sehen. Erstaunlich.“
„Wie sieht er denn aus, der skeptische Teil?“
„Das ist ein Mann mit Igelhaarschnitt. Der verdreht die Augen. Und beiseite treten will der definitiv nicht.“
„Vielleicht können Sie ihm sagen, dass es gut ist, wenn er skeptisch bleibt. Er kann in der Nähe bleiben und sich einmischen, wenn er das wichtig findet. Aber es wäre trotzdem gut, wenn er ein bisschen Platz lässt, damit wir zu dem Mädchen schauen können.“
„Okay … ja, er geht ein bisschen zur Seite.“
„Gut. Können Sie jetzt noch einmal zu dem Mädchen schauen?“
Ihr Gesicht verschließt sich. „Ja, ich seh sie.“
„Was nehmen Sie an ihr wahr?“
„Sie hängt da, ziemlich steif mit dem Kopf nach unten. Die Arme sind so merkwürdig an den Körper gefaltet. Ihre Haare hängen nach unten. Rote Haare. Ich hatte als Kind rote Haare.“
„Was noch?“
„Tja. Die hängt da halt so rum.“
„Was für ein Gefühl haben Sie gegenüber dem Mädchen?“
Sie zögert. „Ich mag sie nicht.“
„Sie mögen sie nicht.“
„Nein, sie nervt mich irgendwie, wie sie da hängt, so starr. Meinen Sie wirklich, dass das was zu sagen hat?“
„Da meldet sich wieder der skeptische Teil, stimmt's?"
„Ja, stimmt. Der ist skeptisch, auf jeden Fall.“
„Mögen Sie ihn einmal fragen, was er befürchtet, was passiert, wenn wir uns mit dem Mädchen beschäftigen?“
„Der sagt, das ist einfach nutzlos. Spökenkiekerei. Der schimpft so rum.“
„Okay, und wenn Sie ihm so zuschauen, wie er rumschimpft, was für ein Gefühl haben Sie ihm gegenüber?“
„Ich finde den gut. Der ist so handfest. Aber er stört auch. Ich würd das schon mal ausprobieren mit dem Mädchen. Vielleicht bringt es ja was.“
„Würden Sie ihm das einmal sagen, dass Sie ihn gut finden, dass Sie seine handfeste Art mögen, das ist doch so?“
„Ja, das stimmt.“
„Sagen Sie ihm das ruhig.“
„Ja. … er nickt.“
„Und vielleicht könnten Sie ihn nun einmal fragen, was er befürchtet, wenn Sie sich mit dem Mädchen beschäftigen?“
„Da kommt sofort: Steiger dich nicht in irgendwas rein.“
„Können Sie ihn mal fragen, was er mit „Reinsteigern“ meint?“
„Dass ich traurig werde, wegen nichts. Dass ich was erfinde.“
„Er fürchtet, dass Sie traurig werden?“
„Ja, ich glaube schon.“ Sie schluckt.
„Können Sie ihm mal sagen, dass Sie sehen, wie sehr er sich anstrengt, um Sie zu schützen?“
„Was?“
Ich wiederhole den Satz und sie nickt langsam. „Ja, okay.“
„Hört er Sie?“
„Ja, er hört zu.“ Sie lehnt sich zum ersten Mal an die Rückenlehne an. „Ich glaub, das tut ihm ganz gut.“
„Vielleicht können Sie ihm auch sagen, dass wir aufpassen werden, dass die Traurigkeit Sie nicht überflutet.“
„Ja. Er ist skeptisch, aber er sagt ja.“
„Er darf gerne weiter skeptisch sein.“
„Okay.“
„Gibt es einen Platz, der gut für ihn wäre?“
„Ja, er steht so ein Stück neben mir.“
„Gut. Würden Sie nun noch einmal zu dem Mädchen schauen?“
„Die hängt immer noch da. Wie bestellt und nicht abgeholt.“ Sie lacht hart auf.
„Was für ein Gefühl haben Sie jetzt gegenüber dem Mädchen?“
„Ganz ehrlich: Ich bin wieder gereizt.“
„Gut. Der gereizte Teil ist nicht der skeptische Teil von eben?“
„Nein.“ Ihre Stimme verändert sich, wird gepresst. „Mir bleibt richtig die Luft weg.“
„Sie spüren das körperlich?“
„Ja.“
„Im Brustkorb?“
„Ja, wenn ich das Mädchen ansehe.“
„Gibt es für diesen Teil, der Ihnen gerade die Luft nimmt, auch ein Bild?“
„Eine schwarze Pfütze. Nein, ein schwarzer Stein. Ich könnte ihn nehmen und dem Mädchen an den Kopf werfen. Schrecklicher Gedanke.“
„Das ist der gereizte Teil, der den Stein in der Hand hält und das Mädchen bedroht, oder?“
„Ja, ich sehe ihn, wie er auf das Mädchen zielt, ein schwarzer Mann.“
„Können Sie ihn einmal fragen, was ihn so wütend macht?“
„Er sagt nichts.“
„Können Sie ihn fragen, wie alt er ist?“
„Er spricht nicht mit mir.“ Sie hat die Augen aufgerissen.
„Wie lange gibt es ihn schon?“
„Ich glaube, schon immer.“
„Schon immer?“
„Ja.“
Auf einmal bin ich total ratlos. Ich sehe einen schwarzen Mann und ein hängendes Kind in jahrelanger Erstarrung und weiß nicht mehr weiter. Während ich versuche wieder Boden unter die Füße zu bekommen, höre ich meine Ausbilderin: „Ihr dürft euren Klienten vertrauen.“ Also mache ich einfach weiter, mit der Standardfrage.
„Wenn Sie die beiden so anschauen, das Mädchen und den Mann, was fühlen Sie den beiden gegenüber?“
„Ich fühle mich total hilflos“, murmelt sie. „Das ist so schrecklich.“
„So schrecklich?“
„Ich fühle mich so hilflos.“
Ich murmele auch: „Vielleicht können Sie den hilflosen Teil auch noch einmal zur Seite bitten? Sie können ihm sagen, dass er nichts tun muss. Dass es nicht darum geht, jetzt eine Lösung zu finden. Dass Sie einfach nur hinschauen wollen.“
„Ja, der geht. Eigentlich ganz erleichtert. Ich gucke nochmal.“ Sie schaut aus dem Fenster. „Der Spielplatz hinter unserem neuen Haus. Meine Eltern haben doch damals dieses Haus gebaut. Und ich habe ein paar Spielgeräte in den Garten bekommen. Als erstes diese Stange zum Turnen. Da hängt das Mädchen.“
„Ist sie alleine da?“
„Ja. Sie ist so bewegungslos. Wie eine Puppe.“
„Hat sie die Augen geöffnet?“
„Nein.“
„Merkt sie, dass Sie sie anschauen?“
„Nein.“
„Mögen Sie sie ansprechen?“ Ich merke sofort, dass das zu schnell war. Sie schüttelt den Kopf.
Und so frage ich wieder: „Was für ein Gefühl haben Sie ihr gegenüber?“
„Ich finde sie unheimlich. Das ist so eine Horror-Puppe. Jetzt meldet sich übrigens auch wieder der Skeptiker. Sagt, was für ein Kokolores. Steiger dich nicht rein.“
„Da ist der Skeptiker. Und ein ängstlicher Teil, der eine Horror-Puppe sieht. Beide wollen nicht, dass Sie da länger hingucken, oder?“
„Nein. Ich weiß schon. Ich bitte sie mal, ob sie beiseite treten können.“ Sie schweigt. Nickt dann.
Ich überlege. „Wenn Sie jetzt wieder zu dem Mädchen hinschauen …“
„Moment … sie hat sich ein bisschen bewegt. Den Kopf, sie hat den Kopf bewegt.“
„Sie ballen ihre Faust. Ist das wieder der schwarze Mann?“
Sie wird blass. „Mir ist übel.“
„Vielleicht ist der schwarze Mann auch ein Teil von Ihnen, den wir kennenlernen sollten. Verstehen, was er will, was er braucht.“
„Das ist kein Teil von mir. Der sieht so aus wie der Sensenmann. Oder bin ich das doch? Vielleicht habe ich den Tod in mir. Bin ich gefährlich?“
„Wäre es möglich, auch diesen ängstlichen Teil, der das denkt, einmal beiseite zu bitten?“
Sie lacht auf, schüttelt den Kopf, schaut aus dem Fenster und zuckt mit den Schultern.
„Ich versuch's.“ Sie ringt eine ganze Weile. Dann sagt sie: „Ich kriege ein klitzekleines bisschen Abstand.“
„Ein klitzekleines bisschen reicht. Der schwarze Mann wird in dem Moment bedrohlich, wenn das hängende Kind sich bewegt, oder?“
„Ja.“
„Schauen Sie bitte noch einmal auf die Situation und sagen Sie dem Mann, dass wir verstehen wollen, was er da tut.“
„Er kann nicht mit uns reden, er muss das Kind beobachten.“
„Sagt er das, oder denken Sie das?“
„Er sagt, er darf das Kind niemals aus den Augen lassen.“
„Was passiert denn, wenn er nicht aufpasst?“
„Das weiß er nicht mehr. Etwas Schlimmes.“
„Fragen Sie ihn mal, ob er weiß, wie alt Sie sind?“
„Nein.“
„Sie wollen ihn nicht fragen?“
„Nein, er weiß nicht, wie alt ich bin. Er kennt mich nicht. Das ist ganz schön abgedreht. Hab ich zu viel Phantasie?“
„Können Sie ihm mal sagen, dass Sie ...“, ich gucke schnell auf meine Karte, “dass Sie zweiunddreißig Jahre alt sind? Und dass Sie an seiner Seite stehen? Dass Sie sich jetzt auch um das Kind kümmern? … Frau Jensen?“
Ein muffiger Geruch schlägt mir entgegen. Er tut komische Gewürze in sein Essen und er hat die Heizung immer auf drei.
„Du schon wieder“, sagt er und lächelt hinter seinem Bart.
„Ich will dich ein bisschen ärgern.“ Ich hüpfe hinter ihm her durch den Flur. Sein Rolli surrt leise. Er fragt mich, wie es meinen Eltern geht und ich sage gut. Als ich bei ihm geklingelt habe, klapperten die Briefkästen. Ich mag die Postbotin nicht. Briefe sind unsere Feinde. Wenn Papa wütend ist, hat er so Kräusel zwischen den Augen. Bei Mama ist es ein Dreieck aus Falten. Der Küchentisch voll mit Papier. Aber jetzt bin ich hier. Ich hüpfe wieder ein bisschen. „Hier stinkt's!“, rufe ich. Er lacht. „Na, dann mach mal das Fenster auf Kipp.“
„Was passiert gerade?“ Die Belugi legt den Kopf auf die Seite, eine Haarnadel hängt halb aus den Locken. Ich versuche, nicht dahin zu starren, überlege.
„Mir fällt gerade unser Nachbar ein. Ich glaube, ich schweife ab. Bevor wir ins Haus gezogen sind, da war ich oft bei unserem Nachbarn im Erdgeschoss.“
Jetzt guckt die Belugi beunruhigt. Gibt es sowas wie Nebel im Zimmer? So sieht es gerade aus. Ich werde müde.
„Sie haben ihn oft besucht, den Nachbarn?“
„Fast jeden Tag.“
„Aber da waren sie doch schon in der Schule.“
„Das war 2020, da ging das ja los mit den Coronajahren. Ich hatte keine Schule und meine Eltern waren froh, wenn sie mich mal vom Hacken hatten. Obwohl, ich glaube, mein Vater mochte ihn nicht besonders.“
In seinem Wohnzimmer liegt ein orientalischer Teppich. Ich fahre mit dem Finger die Ranken nach. Tiere sind dort eingeknüpft, Vögel, Schlangen, Löwen. Er erzählt, wie er den Teppich gekauft hat. In Marrakesch. Wie die Augen des Verkäufers geleuchtet haben, weil er viel zu viel bezahlt hat. Er kann nämlich nicht gut verhandeln. Auch das Schachbrett war zu teuer. Aber er lacht darüber. In seinem Sekretär sind lauter kleine Fächer. Steine, Edelsteine. „Ich bin ein Sammler“, sagt er. Mama und Papa finden, er ist ein Messie. Ich bin sieben Jahre alt und ich sortiere alles für ihn. Lege die Steine auf die Felder vom Schachbrett, erfinde Muster. Er schaut mir zu. Ein Stein ist übrig.
Mir wird mulmig. Offen bleiben. Vielleicht schweift sie wirklich ab, vielleicht wieder ein Wächter, der uns von diesem Mädchen wegführen will. Vielleicht aber auch das Mädchen selbst, dass uns seine Geschichte erzählt. Vielleicht gibt es etwas zu bezeugen.
„Und wie ging es Ihnen damit?“
„Super.“ Sie sagt es so lahm.
„Wirklich?“
„Ja wirklich. Er war sehr klug. Schon steinalt für mich, vielleicht um die siebzig. Er saß im Rollstuhl und hatte viel Zeit.“
„Wie hieß er denn?“
Sie öffnet den Mund und schaut mich überrascht an. „Ich weiß es nicht mehr. Ich habe so lange nicht an ihn gedacht. Aber ich habe ihn manchmal Meister Eder genannt, das weiß ich noch. Und ich war der Pumuckl. Die Filme habe ich bei ihm geguckt. Kennen Sie die noch? Das war doch mehr Ihre Generation, oder?“
Meister Eder und sein Pumuckl. Ob das wirklich so harmlos war? Irgendetwas stimmt da nicht.
„Sie wirken so traurig, wenn Sie über ihn sprechen.“
„Meine Eltern wollten mich irgendwann nicht mehr zu ihm lassen.“
„Sie durften ihn nicht mehr besuchen?“
„Nein. Er war ja Risikopatient. Die Zahlen waren gestiegen. Wahrscheinlich deshalb.“ Sie schweigt.
„Das war also so schlimm für Sie. Konnten Sie denn Kontakt halten? Telefonieren?“
„Ich durfte nicht hin. Aber ich habe ihn trotzdem besucht. Er hat sich immer gefreut.“ Sie zupft an ihrem Halstuch, zupft und zupft. „Und dann hat es uns erwischt, das Virus. Wir waren drei Wochen zu Hause. Es war ätzend, obwohl wir ganz gut durchgekommen sind. Ich jedenfalls. Aber in dieser Zeit ist unser Nachbar ins Krankenhaus gekommen. Ich habe ihn nie mehr gesehen.“
Sie hat immer schneller geredet und jetzt lehnt sie sich mit Schwung in den Sessel zurück, schlägt die Beine übereinander, guckt hoch zur Decke und dann zu mir.
Ich räuspere mich. „Glauben Sie, dass Sie ihn angesteckt haben mit dem Virus?“
„Das liegt nahe, oder?“
„Wissen Sie es?“
„Nein.“
„Aber Ihre Eltern, haben sie ...“
„Meine Eltern haben nur gesagt, dass er doch schon so krank war. “
„Haben Sie mit Ihren Eltern darüber gesprochen, dass Sie Angst hatten, ihn anzustecken?“
„Nein. Ich habe ihnen nicht mal gesagt, dass ich drüben gewesen war. Obwohl, ich glaube, ich habe es versucht. Vielleicht wollten sie es nicht wissen. Könnte doch sein, oder?“
„Sie scheinen sehr mit ihren Problemen beschäftigt gewesen zu sein.“
„Ja.“ Sie fährt sich mit beiden Händen über das Gesicht. „Ja, das waren sie.“
„Wie ging es Ihnen damals?“
„Beschissen. Ich habe Asthma bekommen, vielleicht als Folge meiner Infektion. Ich habe so viel gehustet, obwohl ich es schon hinter mir hatte.“
Wir schweigen eine Weile. Dann sage ich: „Möchten Sie vielleicht noch einmal zu dem Mädchen hinschauen, das an der Stange hängt?“
„Okay.“ Sie schließt die Augen.
„Ich habe das Gefühl, ich muss zu ihr. Sie wird so weich, sie rutscht bald ...“
„Ja, tun Sie das!“
Sie blinzelt. „Ich habe sie aufgefangen.“
„Gut“, flüstere ich.
„Ich sage ihr, dass das alles so traurig ist.“
„Ja.“
„Unsagbar traurig.“
„Ja.“
Sie seufzt.
„Halten Sie sie noch im Arm?“
„Ja.“
„Und was macht sie?“
„Sie ist noch immer ein bisschen angespannt. Sie lauscht irgendwie.“
„Gibt es noch etwas, was Sie ihr sagen möchten?“
„Dass sie nichts dafür kann.“
„Ja, sagen Sie ihr, dass sie nichts dafür kann.“
„Ich sag es ihr … sie weint.“ Jetzt weint auch Frau Jensen. Sie zieht sich ein Taschentuch aus der Box und spricht schluchzend weiter. „Sie glaubt mir nicht so recht. Sie sagt, sie weiß ja, dass sie bei ihm gewesen ist.“
„Vielleicht mögen Sie ihr sagen, dass sie sieben Jahre alt war und das gar nicht überblicken konnte? Dass er erwachsen war und das für sich entschieden hat? Dass er sie gerne bei sich haben wollte?“
Sie weint, nickt und atmet tief aus. „Jetzt beruhigt sie sich etwas.“
„Gut.“
Sie seufzt noch einmal und schaut auf. „Eigentlich bin ich auch wütend.“
„Wütend?“
„Er konnte das doch überblicken. Er hätte mich nicht reinlassen dürfen. Aber ich will nicht wütend auf ihn sein. Viele Großeltern haben damals Kontakt zu ihren Enkelkindern gehabt und es ist gutgegangen. Und manche haben halt Pech gehabt.“
Sie schaut aus dem Fenster. „Ich habe ihn so vermisst. Keiner hat über ihn gesprochen. Ich hatte Angst über ihn zu sprechen, weil ich dachte, dass jemand sagt, ich sei schuld.“
„Und ihre Eltern?“
„Auch nicht. Für meine Eltern war es nicht so schlimm, dass er gestorben ist. Die waren immer völlig erledigt, wegen dem neuen Haus. Haben sich mit der Baufirma gestritten. Jahrelang. Und dann haben sie miteinander gestritten. Am Ende haben sie sich getrennt und das Haus wurde verkauft.“
„Sie hätten jemanden wie ihren Nachbarn gebraucht, in der Zeit.“
„Ja. Einmal haben wir in der Stadt die Frau getroffen, die seine Wohnung immer sauber gemacht hat. Ich weiß noch, wie sie auf mich zugestürmt ist und die Arme nach mir ausgestreckt hat. Ich bin zurückgeschreckt. Umarmen ging damals gar nicht. Sie hat sich entschuldigt und gerufen, ach, der Herr Rosenberger hat dich immer so gern gehabt. Ich war wie erstarrt und meine Mutter hat sich verabschiedet und mich weitergezogen.“
„Herr Rosenberger hieß er?“
„Ja, jetzt hab ich's wieder. Herr Rosenberger.“
Der Stein ist tiefblau und er passt genau in meine Hand. „Der ist so schön“, rufe ich. Er sagt, dass das ein Lapislazuli ist und dass daraus früher Farbe gemacht wurde, kostbare Farbe. Ich mache meine Pumucklstimme, fordere und bettele.
„Nu leg ihn mal schön wieder in die Schublade“, sagt er.
„Aber Meister Eder, das ist doch ein Pumucklstein!“
Er lacht. „Nee, nee, aber wer weiß, irgendwann hast du ja Geburtstag.“
- Verwendete Wörter
- kopfüber, Lapislazuli, Flügel, Rollstuhl, Zeuge