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Kontrolle
Ich zog die Maske hoch und überschritt den Spalt, trat von der Bahnsteigkante auf das Trittbrett und über die Stufen in den Waggon. Kurzentschlossen steuerte ich zu einem naheliegenden Platz. Da vernahm ich eine unsichere Stimme hinter mir. Sie ließ mich zögern, bis ich mich entschloss nach ihr zudrehen. Ich erblickte eine lange, hagere Gestalt.
„Wie bitte?“, fragte ich.
„Is this train going to Munchen?“
Verwirrt antwortete ich nicht gleich, obwohl ich eine Antwort parat hatte. Ein Pfeifen kündigte das schließen der Türen an und ich presste ein „No“ hervor.
„Fast! You have to leave!“, hörte ich mich sagen, „You have to take another train.“
Die Türen schlossen sich im Zeitlupen-Tempo. Der Fremde wandt sich ihnen zu und trat erst an sie heran, als sie vollkommen geschlossen waren, drückte ein paar Mal auf den blinkenden Knopf. Die Türen blieben verschlossen und der Zug fuhr an. Der Fremde fügte sich ohne eine sichtbare Reaktion. Wir blieben nebeneinander stehen, starrten auf den vorbeigleitenden Bahnsteig.
„You should go to the conductor and explain your situation. You can ask what to do.“, sagte ich.
Ich vernahm seine Stimme. Seine Worte wurden jedoch von den Geräuschen des Waggons geschluckt.
„You have a ticket?“, fragte ich.
Er nickte und ich ging zu einem Platz hinüber, während er im Eingangsbereich zurückblieb und eine Magnetkarte hervor zog.
Als ich zu ihm hinüber schaute kam er mir verlassen und einsam vor. Er schien ergeben auf das zu warten, was kommen wird.
In einiger Entfernung bemerkte ich die Zugbegleiterin, langsam kam sie die Reihen entlang und verlangte die Fahrscheine.
Wird sein Fahrausweis auch für diese Fahrt gelten? Das ist unwahrscheinlich. Wie kann ich ihm helfen?
Da wusste ich, was ich zu tun hatte.
Ich war mit einem Zehnfahrtenpass in der Tasche losgefahren und hatte während eines außerplanmäßig Aufenthalts die Zeit genutzt, für meinen täglichen Gebrauch eine Monatskarte zu erwerben, die nun für die Reststrecke ebenfalls galt. Ich hatte es also in der Hand, konnte den jungen Mann helfen, schaffte ich es nur ihm die Situation zu erklären. Würde dies klappen, konnten wir am Bahnhof von Rohrbach gemeinsam aussteigen. .
Mit dem Plan im Kopf sprang ich auf.
Ja, hätte ich aufspringen sollen, um an ihn heranzutreten.
Stattdessen blieb ich sitzen, blickte vor mich hin, dachte zwar kurz an das Vorhandensein der Fahrausweise, kam jedoch, von einem dumpfen Gefühl gepackt, zu keinem Entschluss. Wie der Junge, dem Geschehen ausgeliefert, blieb ich sitzen und hatte nur das Glück selbst nicht in seiner Situation zu sein.
Ein weiterer Reisender wurde kontrolliert. Kaum hatte die Schaffnerin das Ticket entwertet, holte er sein Mobiltelefon hervor. Sie beachtete ihn nicht weiter und trat an den jungen Mann heran, verlangte den Fahrausweis.
Er gab ihr die Magnetkarte und sie streifte sie über den Leseapparat. Ein Bip ertönte.
„Die ist ja schon seit Monatsanfang nicht mehr gültig!“, entfuhr es ihr. „Wohin wollen sie?“
Der junge Mann antwortete sichtlich verwirrt, „I go to München“
„Wie bitte, das ist doch in die Gegenrichtung. Sie sind ja völlig falsch! Wie konnte das passieren?“
Sie schien gemerkt zu haben, dass er nicht gut deutsch sprach und wechselte ins Englische, „Can I see your ID-Card, please? I will see what I can do for you.“
Er streckte ihr ein Papier hin.
„Firstly, this is not a ID. ...And the name is not the same as on your electronic ticket! Can you give me your ID, please?, wiederholte sie etwas verärgert, „And then I will look how you can manage your travel.“
Da erhob sich der Fahrgast mit dem Mobiltelefon und kam zu ihr herüber: „Ich habe nur eine kurze Frage.“
„Ja, wie bitte?“, sagte die Zugbegleiterin und zeichnete einen Kreis mit der Magnetkarte.
„Dürfen Sie denn überhaupt die Personalien kontrollieren?“
„Warum wollen Sie das wissen?“
„Ja, weil Sie das gerade mit dem jungen Herren da machen. Oder wie würden Sie das nennen, was Sie da tun?“
„Was soll die Frage?“
„Antworten Sie mir bitte ehrlich.“, sagte der Reisende.
Die Zugbegleiterin zögerte etwas, wurde unsicher und sagte, „Nein, ich…äh … ich habe keine Befugnis dazu...“, sie brach ab.
„Ja, warum tun Sie es dann!“
„Äh...ja“
„Übrigens ich habe Sie mit dem Handy gefilmt. Und ich werde es veröffentlichen.“
„Was haben Sie getan? Sie spinnen ja, sind ja völlig verrückt! Hören Sie, dass können sie nicht machen! Nicht mit mir!“
Und da geschah etwas für mich unerwartetes, die erzürnte Zugbegleiterin baute sich vor dem Reisenden auf, versuchte dem Überraschten, mit einer flinken Bewegung das Handy zu entreißen.
Sie taumelten zwischen die Sitze. Ein Kreischen ertönte. Ihre schrillen Schreie erinnerten mich an streitende Pubertierende, die sich zum Spaß um ein Objekt balgten. Es war fast belustigend, den beiden zuzusehen.
Ich wendete mich ab und blickte zu dem jungen Mann hinüber.
Was denkt er sich?
Er löste sich nicht aus seiner Starre, blieb im Eingangsbereich stehen und verfolgte wie ich passiv das Geschehen.
„Was fällt ihnen ein!" rief sie, „das dürfen Sie nicht! Löschen sie das sofort!“
„Nein, lassen Sie das. Ich kann machen, was ich will. Übrigens habe Sie damit angefangen, Sie dürfen die Personalien nicht kontrollieren! Verstehen Sie was ich meine! Ja, warum machen Sie es dann?“
„Ich werde die Polizei rufen und dann werden Wir schon sehen, wer Recht bekommt.“
Die Zugbegleiterin ließ von dem Telefon ab, nahm ihres zur Hand und tippte geschwind etwas ein. Es vergingen nur Sekunden, der Zug verlangsamte die Geschwindigkeit und blieb auf offener Strecke stehen.
„Jetzt kommen Sie mal mit!“, befahl sie, „Ja, wir gehen zum Fahrer.“
Der Fahrgast folgte ihr. Geknickt trabte auch der Junge Mann hinterher. Sie hatte ja seinen Fahrausweis.
Minuten später fuhr der Zug erneut an. Die beiden kamen ohne die Schaffnerin durch die Sitzreihen. Ich blickte ihnen entgegen.
„Jetzt hat Sie die Polizei gerufen! Und wir werden von ihr an der nächsten Haltestelle empfangen!“ erklärte der revoltiert Fahrgast.
Ich schaute zu dem junge Mann hinüber. „You get your ticket back?“, fragte ich.
Er blickte mir mit großen Augen entgegen, schüttelte stumm den Kopf und lehnte sich gegen den Sitz.
Als ich aus dem Fenster blickte, rollten wir am Bahnsteig vorbei. Der Zug bremste schon. Ich packte meinen Rucksack und stellte mich in den Gang.
Die Türen glitten zur Seite, ein sommerlicher Tag wartete am Bahnsteig. Jedoch keine Polizei weit und breit.
Ich atmete auf, grüßte und stieg aus, dabei wunderte ich mich, das keiner mir folgte. Der junge Mann schien auf sein Ticket zu warten und der Fahrgast wollte nicht an diesem Halt aussteigen.
Werden sie nun von der Polizei am nächsten Bahnhof empfangen?
Hinter mir schlossen sich die Türen. Ich sah die Zugbegleiterin, wie sie in der Ferne den Schlüssel, der die Weiterfahrt bestätigte, in den kleinen Automaten steckte und einstieg.
Der Zug rollte an, verließ den Bahnhof und ich trat mit einem unguten Gefühl im Bauch den Fußmarsch in die nahe Ortschaft an.
Ich atmete tief ein und schritt mit meinem Ziel vor den Augen aus.