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Kontrolle
Sie sitzt in ihrem 12qm- Zimmer im zweiten Stock und kaut gedankenverloren an dem Nagel ihres rechten Zeigefingers herum. In der linken Hand hält sie den Stoffelefanten mit der gelben Latzhose, der quietscht, wenn man ihm auf den Bauch drückt. Eigentlich ist Natalie zu alt für so etwas. Aber es hilft ihr beim Nachdenken, wenn sie dieses Kuscheltier an ihren Körper schmiegen kann. Heute muss Natalie unbedingt nachdenken, findet sie. „Ich muss eine Antwort finden, damit ich weiß, wie ich weitermachen kann.“
Quietsch! Quieieieietsch! „Elefant, sag du doch mal etwas dazu!“ Natalie hält ihren leblosen Kumpel eine Armlänge von sich gestreckt, damit er ihr genau in die Augen schauen kann. Außerdem kann sie auf diese Art und Weise zur Not von seinen Lippen ablesen, wenn er zu leise spricht.
„Ach, hör auf zu spinnen“, sagt sie zu sich selber, während sie im Nebenzimmer ihren Vater rumoren hört. Er macht wahrscheinlich eine Kanne Tee für ihre Mutter. Die kann das nämlich nicht mehr selber machen. Dabei soll sie gerade jetzt doch soviel trinken. Das ist gut bei ihrer Krankheit, hat der Arzt gesagt. Den Namen der Krankheit hat Natalie schon wieder vergessen, aber was tut das schon zur Sache.
Fest steht, dass es Mama nicht gut geht. Sie ist so schwach geworden. Jeden Morgen, bevor Natalie zur Schule geht, steht sie auf und schmiert ihr das Pausenbrot. Darauf besteht Mama. Sie tut dann so, als ob sich nichts verändert hätte. Aber noch bevor Natalie die Haustür zugeschlagen hat, sinkt sie seufzend in den alten Sessel mit den breiten Armlehnen. Natalie hat es genau mitbekommen, weil ihr schon zweimal an der Tür eingefallen ist, dass sie ihren Turnbeutel an der Garderobe hängen lassen hat. Da hat sie Mama in ihrem Sessel sitzen sehen und sie hatte gar nicht den liebevollen Mama-Blick im Gesicht. Ihr Gesicht war aschfahl, die Haare irgendwie stumpfer als sonst und der Mund bildete eine gerade Linie. Die Grübchen, die man so gut sehen konnte, wenn sie lachte, waren wie weggezaubert.
Kein guter Zauber.
Natalie überlegt, ob sie ihrem Vater helfen soll. Sie hat heute nach dem Mittagessen nur kurz bei Mama hereingeschaut. Sie lag im Bett und Mama hat Natalie lange ins Gesicht gesehen und ihr zugezwinkert. Aber irgendwie fiel es ihr schwer, auf Mama zuzugehen. Es war eigenartig. In der Luft lag fast so etwas wie Verlegenheit und es war unangenehm still. Natalie ertappte sich dabei, wie sie von einem Bein auf das andere trat. Sie mochte Mama nicht lange ins Gesicht sehen.
„Wie war es in der Schule, mein Schatz? Komm, setz dich zu mir und erzähl ein bisschen! Was hast du heute angestellt?“ – „Hmm. Ach, nichts besonderes. Andreas und Ingo haben sich in der Pause gestritten, bis Frau Helma dazwischen gegangen ist. Und Elena hat zum Geburtstag ein neues Fahrrad bekommen. Ein rotes. Mit zwölf Gängen!“
Jetzt muss sich Natalie schon wieder auf die Lippe beißen. Sie ist immer so gerne mit Mama Fahrradgefahren. Im Moment sieht es nicht so aus, als könnten sie das jemals wieder gemeinsam tun. Genauso wie die vielen anderen Dinge, die sie sonst so oft zusammen unternommen haben. Über die sie sich auch unterhalten haben.
In letzter Zeit kommt Mama gar nicht mehr aus der Wohnung heraus. Meist nicht einmal aus dem Schlafzimmer. Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Die Sicht aus dem Fenster verändert sich nicht gerade sehr und Natalie hat das Gefühl, dass seit Mamas Krankheit sowieso jeder Tag gleich ist.
Sie begann wieder unruhig hinundherzutreten. Mama hatte es gesehen. Natalie hatte den Eindruck, dass sie eine Träne verstecken wollte, als sie für einen kurzen, aber doch etwas längeren Moment, ihre Augen schloss. „Du, Mama, ich muss noch Hausaufgaben machen. Wir haben viel zum Rechnen aufbekommen.“, sagte sie gewichtig. Sie wollte Mama gerne noch einmal zulächeln, damit sie ihr glaubte. Aber eigentlich hatte sie gar nicht so viele Rechenaufgaben zu erledigen und deshalb gehorchten ihre Mundwinkel auch nicht. Sie blieben starr, wie gelähmt. Natalie war froh, dass zumindest ihre Beine noch funktionierten und sie aus dem Zimmer fortschleppten.
Jetzt sitzt sie hier schon seit einer Stunde mit dem Elefanten auf ihrem Bett und schämt sich. Mama braucht sie jetzt. Warum schafft sie es nicht, mehr für sie dazusein? „Stattdessen halte ich jetzt dich im Arm“, sagt sie vorwurfsvoll zu ihrem Elefanten, lässt ihn einmal kurz aufquietschen und hebt dann ihren Blick zur Decke.
„Vielleicht ist alles nur ein mieser Trick“, erklärt sie dem Elefanten. Der guckt sie genau an. „Vielleicht ist die Krankheit nur eine Erfindung von einem durchgeknallten Menschen. Der hat Mama Pillen verschrieben, die ihr erst die Schmerzen verursachen, die sie jetzt hat. Und uns erzählt er natürlich, sie müsse diese Arznei weiternehmen, weil sie andernfalls nicht lange überlebt. Deshalb trauen wir uns nicht, ihm nicht zu gehorchen. Aber was ist, wenn dadurch alles nur noch schlimmer wird? Vielleicht sollten wir die Medikamente wirklich einmal ganz weglassen. Doch wer weiß, vermutlich hat er Wanzen und Kameras installiert und kommt dahinter, dieser Lügner. Dann sorgt er bei seinen Besuchen dafür, dass sie die Pillen trotzdem schluckt. Verdammt, Elefant, vielleicht ist das alles nur inszeniert und wir sind zu blöd, dahinter zu kommen, obwohl doch alles so einfach sein könnte!“
Elefant bleibt stumm. Typisch, denkt sie. Die besten Zuhörer haben doch nicht immer die besten Antworten.
Trotzdem drückt sie den Elefanten so fest an sich, dass er schließlich aufdringlich aufquietscht. Sie drückt und drückt ihn, und lässt erst nach, als ihr Arm etwas herabsinkt. Sie schläft.
Plötzlich hört sie ein Wummern. „Also doch Wanzen“, denkt sie im ersten Moment, bis ihr einfällt, dass dann ja nicht sie jemanden, sondern dieser jemand eher sie, Natalie, hören müsste.
„Natalie, oh, habe ich dich geweckt?“, fragt Papa mit leiser Stimme. Früher hat er lauter gesprochen. Aber seit Mamas Krankheit ist es im Haus stiller geworden. Selbst die Holzbohlen im Flur scheinen ihr Knarren eingeschränkt zu haben. „Kommst du noch einmal mit zu Mama? Ich bin mir sicher, dass sie dich unbedingt bei sich haben will. Im Moment schläft sie zwar, aber ich weiß es trotzdem sicher.“
Verwundert steht Natalie auf. Normalerweise legt ihr Vater viel Wert darauf, Mama ganz in Ruhe zu lassen, wenn sie endlich einmal schläft. Irgendetwas stimmt da nicht. Sie merkt, dass ihre Lippen schon wieder ganz hart werden. Deshalb nickt sie nur und steht auf.
Da liegt sie, den Kopf leicht zur Seite gedreht, eine Haarsträhne fällt ihr ins Gesicht. Der Mund steht leicht offen. Es sieht ein wenig so aus, als setze sie zum Pfeifen an. Anders als in den letzten Wochen, zeigt Mama aber endlich wieder einen Gesichtsausdruck, den Natalie deuten kann. Während sie sonst sehr angestrengt dreinblickte und viele Falten ihre Stirn zerfurchten, nimmt Natalie jetzt einen ihr wohlbekannten Ausdruck wahr. So guckt Mama immer, wenn sie sich nach einem langen Tag ausruht. Dann durfte sie nie jemand stören, „selbst wenn der Bürgermeister persönlich vorbeikommt“, sagte Mama immer. Und Natalie wusste es, denn wenn man Mama wirklich in Ruhe ließ, dann war sie am nächsten Tag ganz bestimmte die gutgelaunte, lachende Mama, die sie so liebte. Daran erinnert sich Natalie gerade und tritt noch einen Schritt näher ans Bett.
„Sie verträgt die Pillen nicht mehr“, flüstert Papa mit brüchiger Stimme. Dann nimmt er ihre Hand und drückt sie so fest, wie Natalie eben ihren Elefanten an sich gedrückt hat. Doch anders als der Elefant, drückt Natalie zurück.
„Das ist nicht schlimm, Papa. Das ist gar nicht schlimm. Schau sie dir an!“ Obwohl sie Tränen in den Augen hat, ist ihre Stimme fest. „Jetzt kann Mama auf jeden Fall ihren ganz eigenen Weg gehen.“
Dann fließen die Tränen doch aus ihren Augen und nach einem intensiven Blick auf ihre Mutter rennt Natalie aus dem Schlafzimmer, ja, aus dem Haus. Mitten in den strömenden Regen hinein. Ihre Tränen vermischen sich mit dem Regen.
Sie fühlt die Tropfen auf ihrer Haut, auf der Kleidung und in den Haaren. Sie fühlt es und weiß: Dies ist nicht vorgetäuscht. Es ist echt.