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- 01.08.2003
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Kontrolle
Langsam goss sie das heiße Wasser aus dem Kocher in die Glaskanne. Auf dem Tablett standen schon auf gebackene Brötchen, Butter und Marmelade in Schälchen, etwas Käse auf einem Teller, dazu Tomaten und Gurkenscheiben sowie Besteck, Geschirr und Tassen. Eigentlich fehlten noch Blumen, der Kaffee musste sowieso noch etwas ziehen. Sie stellte eine Vase bereit und ging Richtung Hintertür zum Garten.
Die Hintertür ging von alleine auf.
„Überraschung!“ grinste ihr Bruder. „Steve habe ich auch mitgebracht. Das Haus ist doch wohl groß genug für alle!“ Und schon schob er sich an ihr vorbei und öffnete die Kühlschranktür.
„Was, gar kein Bier im Haus? Egal wir haben genug für ne kleine Feier!“
Der Kies knirschte, und wie zur Bestätigung schleppte Steve zwei Kisten heran.
„HI! Melissa! Wir waren die ganze Nacht unterwegs hierher, echt anstrengend bei der Hitze, doch dein Gesicht zu sehen, macht das alles wett!“ flötete er und warf ihr einen seiner schmachtenden Blicke zu. Als er mit den Kisten an ihr vorbeiging, streiften seine Finger ihre Hüfte. Dass sie unter dem Morgenmantel nichts trug, ließ ihr diesen Kontakt noch abstoßender als normalerweise erscheinen.
„Hi Steve“, erwiderte sie gepresst und ging rasch zu ihrem Bruder.
„John warum? Wir waren zuerst hier und warum verdammt noch mal willst du von allen Wochen im Jahr ausgerechnet diese eine, an dem Damian und ich endlich mal Zeit für Urlaub haben und hier unsere Ruhe haben wollen, auch gerade hierher? Mom und Dad haben dir doch bestimmt gesagt, dass wir hier sind, als du den Schlüssel geholt hast!“
„Ich habe einen eigenen Schlüssel, Schwesterherz! Ich bin hier, wann immer ich Lust habe und ich lasse mir das von niemandem verbieten! Außerdem muss ich doch ein Auge auf mein kleines Schwesterlein haben, nicht wahr?“
Er grinste.
„Versuch doch, mich rauszuschmeißen. Ach nein, geht ja nicht, sonst könnte jemand ja unseren Eltern stecken, wofür du immer so oft in die Apotheke rennst.“
„Wir werden doch alle zusammen Spaß haben, nicht?“ fragte Steve unter Flaschengeklirr. Seine Augen waren auf den Halsausschnitt gerichtet. Hastig zog Melissa den Gürtelknoten straffer und schnaubte verächtlich.
Lass deine Augen von mir! Und deine Gedanken! Du widerst mich an! Übertreib es nicht, du bildest dir das bloß ein. Lass dich doch von so einer Pfeife nicht nervös machen! Er kann dir doch nichts tun!
Mit einer hochgezogenen Augenbraue warf John einen Blick auf seine Schwester. „Stören wir dich Lissy?“ echote er.
„Nein, macht es euch nur gemütlich!“ zischte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
„Oh Frühstück!“ entfuhr es ihrem Bruder hinter ihr. „Ich hab einen Riesenhunger, hier nimm dir auch was Steve!“ Dieser warf einen Blick auf Melissa. „Ich bin nicht hungrig“, sagte er zögernd. Melissa kniff die Augen zusammen. So schnell es ging, ohne dass der Morgenmantel zu sehr flatterte, ging sie in den Treppenaufgang und eilte die knarrenden Stufen empor.
Ja, du hast andere Dinge im Kopf und der Sabber tropft dir fast schon aus dem Mund!
Die Tür flog mit einem Knall gegen die Wand. Damian zuckte zusammen und warf einen Blick auf Melissa. Ihr Gesicht war gerötet, die Zähne mahlten aufeinander, sämtliche Muskeln waren angespannt. Das genügte, um zu erkennen, dass sie vor Wut bald platzte. „Was habe ich getan, um das zu verdienen?“ fragte er in einem Versuch, sie aufzuheitern. Außerdem war er sich keines Vergehens bewusst.
„Dieser elende Widerling von meinem Bruder ist hier.“
„Was?“
„Und Steve ebenfalls. Wenn ich den schon sehe, möchte ich kotzen!“
„Na prima. Und kannst du ihn nicht überreden, wieder zu verschwinden?“
„Ich? Meinen Bruder? Der hat sich von mir doch nie was sagen lassen. Außerdem hat er gedroht, mein ...“, sie zögerte, „früheres Problem meinen Eltern zu verraten.“
„Komm, die wissen doch sowieso Bescheid. Das wird doch immer so sein und bei anderen stört es dich doch auch nicht!“
„Das ist was anderes. Solange sie es nicht wirklich wissen, können sie es ignorieren. Dann machen sie sich keine Vorwürfe, dass alles, was schiefgelaufen ist, ihre Schuld ist. Nachher schicken sie mich noch zur Therapie. Das fehlt mir noch, ein völlig fremden, der in meinem Seelenleben herumschnüffelt und alles mit meinen Eltern durchanalysiert und breittritt. Fällt dir nichts ein, Schatz ?“
„Ich werde sie erstmal begrüßen und etwas schwimmen gehen. Dabei fällt mir vielleicht eine Überredungstatktik ein. Komm mit, da kannst du dich abreagieren! Wie warm ist es draußen eigentlich?“ Er nahm Zuflucht zu banalen Dingen. Sie durfte sich nicht in ihre Emotionen reinsteigern, sonst würde das Ganze in einem hysterischen Anfall enden.
Sie nimmt so was immer gleich persönlich.. Natürlich wäre ich auch lieber mit ihr alleine hier, aber das Grundstück ist groß genug. Er wird in der einen Ecke sitzen und saufen, wir haben den Rest und machen es uns gemütlich.
„Nein, habe ich nicht, aber ich schätze es auf mindestens 25°C. Mehr als Badezeug braucht man wirklich nicht.“ Ihre Stimme schwankte, dann schien sie sich innerlich zusammenzureißen. Sie brauchte immer einen kleinen Ruck, aber dann brachte sie sich meistens schnell wieder unter Kontrolle.
Damian stand auf und als er an seiner Freundin vorbeiging, säuselte er neckend: „Du hast übrigens unser Frühstückstablett unten gelassen.“ Lachend rannte er die Treppe hinunter, bevor sie ihm für diese Stichelei einen Klaps geben konnte. Sie hörte ihn ein höfliches. „Hallo!“ in Richtung Küche rufen, wo ihr Bruder und inzwischen wahrscheinlich auch Steve ihr mühsam vorbereitetes Frühstück in sich hineinschlangen. Dann klappte die Hintertür.
Seufzend ließ sie sich aufs Bett fallen. Ihre Wut brodelte in ihr, regte sie auf. Ihre Hilflosigkeit trieb ihr die Tränen in die Augen.
Er tut mir ja nicht wirklich etwas. Dass er mich ansieht, dass er mich berührt, das alles könnte ja auch Zufall sein. John wird mich auslachen. „Sei doch nicht so verklemmt!“wird er sagen. Was kann ich denn dafür, ich finde es widerlich, wie er mich mit Blicken auszieht.
Sie zwang sich langsam zu atmen, sich bei jedem Atemzug etwas weiter zu entspannen. Ihre Hände fuhren unruhig auf ihren Unterarmen auf und ab. Drückten und Kniffen, um ihre innere Anspannung zu lösen, ihre Gedanken auf ein anderes Ziel zu lenken. Die Fingernägel bohrten sich hinein und hinterließen erst bleiche, dann sich rot färbende Abdrücke auf der leicht gebräunten Haut. Sie betastete die alten Narben.
Denk nicht mal im Traum daran. Du hast es versprochen!
Ich werde mich wieder einmal nicht besiegen lassen, sondern stark sein. Für mich, für Damian, für uns beide.
Ihre Liebe hatte sie bis jetzt über jede weitere Krise gerettet, als ihre Katze starb, als ihre Bewerbung abgelehnt wurde, wenn jemand sie beleidigte, sie gekränkt und voller Selbsthass war. Immer war Damian da gewesen, hatte ihr Mut gemacht. Sie dankte es ihm durch absolutes Vertrauen. Weder ihren Eltern noch ihrem Bruder hatte sie sich so öffnen können. In Gedanken hörte sie seine Stimme, die ihr Mut zusprach, fühlte seine Arme um sich.
Unten in der Küche ertönte lautes Gelächter. Die Hände in ihrer Fantasie wurden zu Steves grabschenden, gierigen Händen. Wütend schlug sie sich auf die Arme, so dass rote Male ihrer Finger auf der Haut blieben. Wut zu beherrschen war schwierig.
Die Hitze ließ schon um diese Uhrzeit Schweiß auf ihrer Stirn perlen, ärgerlich wischte sie ihn zur Seite. Sie sollte wohl besser aufstehen und sich anziehen, solange sie wusste, wo sich ihr Bruder und sein Kumpan aufhielten.
Lauwarm lief das Wasser aus den alten Messinghähnen, als sie ihre Arme darunter hielt. Die Male von Nägeln und Fingern müssen verschwinden, Damian wäre sonst so enttäuscht! Er setzt solches Vertrauen in mich, ist so glücklich, dass wir es besiegt haben. Und es wäre ja auch nicht gut, wenn ich es wieder anfinge. Es geht mir ja auch besser, seit ich es nicht mehr machen muss. Sein Lächeln, als ich ihm meine Sammlung gegeben habe!
Mit einem Quietschen drehte sie den Hahn zu und blickte durchs Fenster runter zum Steg. Eine schmale, dunkle Gestalt lag unter dem Sonnensegel, dass sie am Tag ihrer Ankunft aufgespannt hatten. Sie strich sich ihr Haare aus dem Gesicht, wickelte sich ein Badetuch über den Bikini um die Hüften und ging hinaus. Auf dem Weg durch die Küche lauschte sie in den anderen Flur: John und Steve waren gerade am Auspacken, eine ideale Gelegenheit ohne einen lästigen Kontakt zu verschwinden.
Für den Rest des Tages lagen Damian und sie unten am Steg und sprangen ab und zu ins Wasser. Doch die Unbeschwertheit war verflogen, ihr Bruder und sein Kumpel hatten das gesamte Grundstück mit ihrer lärmenden Gegenwart in Beschlag genommen. Es war natürlich nicht bei zwei Kisten Bier geblieben. Melissa hatte aufgehört zu zählen, wie viele Kisten sie aus dem Auto gezerrt hatten und was für Alkohol außer Bier noch neben ihrem Tomatensaft im Kühlschrank lagerte.
Ein lauter Knall ließ das Pärchen zusammenzucken.
„Was zur Hölle machen die jetzt?“ grummelte Damian. „Es ist über dreißig Grad, sie sind voll bis in die letzte Pore und haben noch Energie, um solche Scheiße zu machen!“ Melissa rollte mit den Augen. „Eines seiner Lieblingshobbys. Erst Saufen, dann Bierflaschen zerballern. Ich hoffe nur, er macht es an der Südmauer, sonst weiß ich nicht, wie wir mit heilen Füßen wieder zum Haus kommen sollen.“
Sie scheint sich mit der lästigen Gesellschaft abgefunden zu haben. Nun, da ihr Bruder zuhause ebenfalls laut und gedankenlos ist, wundert mich das nicht. Der Urlaub ist vorbei. „Ich frage mich, wie du das zuhause aushältst!“ murmelte Damian träge. „Ich glaube, ich schnorchele jetzt ein bisschen, unter Wasser ist es wenigstens leise.“ Melissa betrachtete ihn, als er ins Wasser stieg. Seine einen Meter fünfundachtzig sahen kleiner aus, als sie in Wirklichkeit waren, er hielt seine Schultern immer leicht nach vorne gekrümmt, seine braunen Haare bildeten eine unregelmäßige Linie auf seinen Schultern. Er war eher hager, hatte eine schlanke Silhouette ohne Ausbuchtungen, weder von Fett, noch von Muskelbergen herrührend. Sein ruhiger Charakter hatte ihr den nötigen Halt gegeben. Kein Model, kein Einstein. Allein seine positive, ruhige Lebenseinstellung und seine Entschlossenheit war dass, was sie brauchte und glücklich machte. Seufzend drehte sie sich unter dem Sonnensegel herum. Sie schwamm zwar gerne, aber nicht mit der Kraft und Begeisterung wie ihr Freund, tauchen fand sie gruselig, sie hasste es, ins Wasser zu springen und mit dem Kopf unter Wasser zu geraten.
Das Knallen im Hintergrund ging monoton weiter, aber immerhin hatte der Schütze inzwischen seinen Rhythmus gefunden. Die Regelmäßigkeit ließ das Geräusch aus ihrer Wahrnehmung verschwinden. Die Planken vibrierten, eine Person näherte sich. Ohne auch nur hinzusehen, wusste sie, wer es war.
„Störe ich dich?“
„Nein, nein, du störst uns nicht“ antwortete Melissa mit einer Stimme, die ihrer Antwort die Bedeutung „Selbstverständlich störst du, also verschwinde!“ gab. Steve setzte sich, etwas zu nah, als es noch höflich gewesen wäre.
„Wo ist denn dein Typ?“ Er roch nach Alkohol.
„Im Wasser.“
„Und warum nur er? Hast wohl auf mich gewartet?“
„Keine Lust“. Ihre kurzen, kühlen Antworten prallten wirkungslos von ihm ab.
„Würdest du mir den Rücken eincremen?“ fragte er mit schmalziger Stimme und rückte ein Stück näher. Sie konnte spüren, wie ihr Oberschenkel sich erwärmte. Der Abstand zwischen ihrem und seinem musste nur noch Millimeter betragen. Melissa starrte aufs Wasser und zog, unsichtbar für Steve, eine angeekelte Grimasse. Sie konnte seine Augen fühlen, wie sie an ihrem Körper entlang glitten, der von dem Bikini nicht gerade verhüllt wurde.
Wie schleimige, braune Nacktschnecken an einem Stück Obst entlang kriechen! Was für ein Idiot, wie plump kann man eigentlich sein. Sie kochte vor Wut und Hilflosigkeit, ihr Rücken und ihre Schultern schmerzten vor Anspannung. Er tut doch nicht wirklich was, das kann ein Versehen sein. Er will nur freundlich sein. Wenn ich wegrücke, ist er beleidigt. Und wenn er es nicht freundlich meint? Dann ist das trotzdem unhöflich. Solange er nicht wirklich auf Tuchfühlung geht, kannst du dich doch nicht so anstellen. Das sind doch nur Worte! Ich bilde es mir nur ein. Nein, ich bilde es mir nicht ein. Das ist mehr als nur nett sein! Scheiße! Scheiße, was mache ich nur?
„Nein, ich will mir meine Hände nicht schmierig machen.“ Ablehnung und Beleidigung in einem. Vielleicht lässt er mich dann ja in Ruhe, wenn ich zickig bin. Wenn er nur nett sein wollte, tja Pech, dann gibt es halt eine Person mehr, die mich für arrogant hält. Aber wenn nicht war das doch hoffentlich deutlich genug.
„Ich helfe dir dann auch“, redete er unbeeindruckt weiter. Und wieder rutschte er ein Stück näher. Sein Knie berührte ihren Hintern. Ruckartig stand sie auf und ging zum Ende des Steges. Sie hasste es, ins Wasser zu springen, aber Steves Gesellschaft hasste sie noch mehr, nichts wollte sie mehr, als möglichst schnell frei davon zu sein. Also sprang sie und landete fast auf Damian.
„Bist du bescheuert?“ schimpfte er erschrocken los.
„Nein“ flüsterte Melissa, den Tränen nahe. „ Steve ist betrunken und versucht mich anzugrabschen.“
„Das meint er bestimmt nicht so. Er ist nicht so ganz helle, aber die Schwester seines Kumpels ? Das kann ich mir kaum vorstellen. Er weiß doch, dass wir zusammen sind und wenn er besoffen ist... . Dann weiß er halt nicht mehr so genau, was er tut.“
„Und das sagst du, als mein Freund? Ein anderer Kerl begrabscht mich? Dieses eklige, kraushaarige, pickelgesichtige, Schnurrbart tragende Schwein! Er macht mich krank.“ Ihre Hände rieben an ihren Armen, eine Hand begann zu kratzen und hinterließ rote Streifen auf der hellen Unterseite.
„Nicht, Schatz! Ich sehe ja, dass es nicht so bleiben kann! Er will bestimmt nur harmlos mit dir rumblödeln. Er kann doch nicht wissen, dass du das nicht magst, das steht dir ja nicht auf der Stirn. Ich werde nachher mal den bösen Freund rauskehren und ihm klarmachen, dass er nicht auf fünf Meter an dich rankommen sollte, wenn er alle Zähne behalten will. Dann bin ich der böse, eifersüchtige Tyrann und du hast deine Ruhe“ Er ergriff beide Hände und führte sie hinter seinem Rücken zusammen, so dass sie ihn umarmte. Dankbar lehnte sie ihre Wange an seine Brust. Sie unterdrückte die Tränen der Erleichterung, ihr Puls beruhigte sich von hektischem Rasen zu normalen Schlägen. In seiner Nähe fand sie Geborgenheit und Sicherheit. Langsam ließ er sich zur Seite ins Wasser sinken.
„Komm, schwimmen wir zum Badefloß!“
Sie zogen sich an der rauen Holzkante empor, das von Muscheln verkrustete Seil meidend. Die Sonne hatte die Planken hellgrau gebleicht und aufgeheizt, doch nach dem kühlen Wasser war es angenehm, sich wieder aufwärmen zu lassen.
„Vielleicht sollten wir ganz hierher ziehen“, sagte Damian, „bis hier her schafft dieser Schlaffi das doch nie!“ Melissa seufzte und hielt seine Hand fest. Hier draußen konnte man das Schießen nicht mehr hören, vielleicht hatte ihr Bruder aber auch aufgehört und war besoffen zusammengesackt.
Als sie wieder ans Ufer schwammen, war Steve nicht mehr da. Jetzt sah Damian, wie Melissas Schultern herabsanken, unbewusst hatte sie sich total verkrampft. Die Arme, sie hat eine größere Individualdistanz als andere, das ist für sie wirklich ein Problem. Ein großes Problem, aber hat man erstmal erreicht, dass sie Nähe zulässt... Er lächelte, als er hinter ihr die Leiter hinaufstieg, ihre Figur bewunderte und sich an den heutigen Morgen erinnerte.
Der Grill rauchte, auf dem Holztisch standen Salat, Brot und Saucen. Sogar an vegetarisches Grillgut für seine Schwester hatte John gedacht.
„John, du hast dir ja wirklich Mühe gegeben“, sagte Melissa besänftigt. Sie lächelte ihrem Bruder zu. „Kein Problem, ich sagte doch, wir können hier alle zusammen etwas Spaß haben. Hör mal, ich weiß doch, dass ich zur Wiedergutmachung Wochen brauchen werde Lissy. Da kann ich genauso gut auch jetzt schon damit anfangen.“ Damian strich ihr sanft über den Rücken und massierte mit einer Hand abwechselnd ihre Schultern. Sobald sie Steve sah, hatte sie sich wieder verkrampft und er tat sein bestes, um ihre Unruhe zu lindern.
Sie hat recht, er starrt sie tatsächlich an. Aber das machen Männer doch leicht mal. Es gefällt mir auch nicht, ich werde, wenn er reingeht, mal mit ihm reden. Denn so besoffen, dass er nicht merkt, wie unhöflich er ist, kann er nicht sein.
John und Steve waren immer noch nicht ganz nüchtern, hatten aber ihren nachmittäglichen Rausch mit mehreren Stunden Schlaf beendet, so dass sie schon wieder zu vollständigen Sätzen fähig waren. Etwas harmonischer saßen sie zusammen und aßen. Als Melissa nach der Wasserflasche griff, griff Steve ebenfalls danach, sie zuckte zurück, als könne sie sich verbrennen. Damian goß ihr ein, nachdem Steve sich das Glas gefüllt hatte. Grillen zirpten, die Hitze war noch immer drückend. Fledermäuse flatterten in der dunkelblauen Dämmerung und jagten Insekten. Langsam erlahmte das erzwungen höfliche Gespräch, denn beide Parteien waren vom Charakter und Interessen so unterschiedlich, dass sie nicht wirklich ein Thema fanden, dass für Gesprächsstoff gesorgt hätte. Steve stand auf und ging ins Haus.
„Willst du noch Wein, Schatz?“, fragte Damian. Dankbar lächelte sie und nickte. Auch er verschwand im Haus. Melissa entspannte sich erleichtert.
Er wird mit Steve reden und ihm klarmachen, dass er sich nicht so aufführen darf. Wie dumm von mir, dass ich einen Beschützer brauche, aber was soll ich denn noch tun? Was, außer ihm sagen, er soll mich nicht anfassen, ansehen oder ansprechen.
Sie unterdrückte wieder Tränen der Hilflosigkeit und Erleichterung, dass es Damian gab, dass er sie so liebte und für sie da war. Ich verdiene ihn gar nicht, und trotzdem ist er immer da. Verstohlen wischte sie in der Dunkelheit eine Träne von der Wange.
„John, Steve macht mir Angst“, sagte Melissa unvermittelt. Ihr Bruder blickte sie verständnislos an.
„Er belauert mich, wartet immer darauf, mich ohne Damian zu erwischen. Er versucht, mich zu begrabschen.“
„Lissy, stell dich doch nicht an! Das bildest du dir doch ein. Du bist meine Schwester, wenn er scharf auf dich wäre, würde er mir das gesagt haben. Du bist nun einmal ne hübsche Frau, ich weiß nicht, wann er das letzte Mal mit einer im Bett war. Da guckt er halt mal , wenn du hier halbnackt rumläufst. Hinschauen ist doch nichts Schlimmes!“
Hilflos zuckte sie mit den Achseln. „Ich weiß nicht, es kommt mir so vor, als würde er Mut fassen wollen, für einen Augenblick, indem ich nicht aufpasse oder so. Und bis jetzt kam ihm dann halt immer was dazwischen. Ich ging weg oder Damian kam zurück....“
„Na siehst du, geh einfach weg und er ist dir nicht weiter lästig.“
„Ich will aber nicht immer weglaufen! Auf meinem eigenen Grundstück, in Gesellschaft von meinem Freund und meinem Bruder. Das kann doch nicht dein Ernst sein! Bitte, sag ihm, dass er gehen soll.“
„Ach daher weht der Wind! Es passt dir nicht, das ich mit meinem Kumpel mich hier amüsieren will und schon denkst du dir so einen Schwachsinn aus! Steve ist doch kein Perverser! Jetzt nerv mich nicht weiter mit deinen Lügengeschichten. Man konnte dir Psychokrüppel schon seit deinem zwölften Lebensjahr nicht mehr trauen, aber das übertrifft echt alles!“ Wütend ergriff er sein Glas und kippte den Inhalt herunter. Es wurde dunkler, sie konnte die Gestalt und das Gesicht ihres Bruders nur noch schemenhaft erkennen. Ein völlig Fremder schien da in der Dunkelheit zu sitzen und im Schein der einsamen Fackel seine Züge und seine Gestalt zu verändern. Der Garten kochte vor Hitze, schwerer Blumenduft und Salz vom Meer machten die Luft dick und das Atmen kam ihr anstrengend vor. Die Vorwürfe ihres Bruders klangen ihr in den Ohren, trotz der Wärme schauderte sie. Sie und Damian würden auf dem Zimmer den Abend ausklingen lassen. Oben waren drei Schlafzimmer und ein Bad, doch ihr Bruder und Steve wohnten unten, sie würden also ungestört sein. Die Treppe verrät, wenn jemand kommt. Lächerlich, wer sollte schon nachts in unser Zimmer schleichen. Oder durchs Schlüsselloch spannen. Oder... Schluß damit!
Sie packte eine Salatschüssel und das gestapelte Geschirr und ging zum Haus zurück.
Damian öffnete ratlos die Küchenschränke. Wo hatte er den Wein bloß hingestellt? Im Grunde wollte er nicht mit Steve darüber sprechen, dass Melissa seine Gegenwart nicht ertrug. Und den Wein wollte er tatsächlich mitbringen, also konnte er auch jetzt danach suchen. Im Badezimmer den anderen Flur entlang hörte er Steve in die Toilettenschüssel würgen.
Allerdings hat er gerade eben wirklich dreist auf ihren Busen geglotzt. Sensibel wie sie ist, ist es klar, dass sie sich dadurch beschmutzt vorkommt Und bevor ein Mensch wie sie jemanden mit einem Spruch in seine Grenzen verweist, richtet sie ihre Aggression lieber gegen sich selbst.
Wenn der Alkohol die Hemmschwelle dieses verklemmten, kleinen Wichsers so herabsetzt, gibt es vielleicht doch eine Bedrohung für Melissa. Hilflosigkeit provoziert bei manchen Männern ja eine Verstärkung ihres Verhaltens.
Vielleicht fahren wir morgen einfach weg. Zu mir in die Stadt, das ist zwar nicht dasselbe, aber da ist sie trotzdem entspannter als hier.
Er merkte, dass er mehrere Minuten in den Schrank gestarrt hatte. Vielleicht ist die Flasche ja noch in meiner Tasche?
Er verließ die Küche und ging die Treppe hinauf.
Die Zimmertür war angelehnt, von drinnen kam der Lichtschein der Nachttischlampe. Vielleicht hatte sie ja die unerfreuliche Tischgesellschaft verlassen und wartete schon auf ihn. Er lauschte. Im Zimmer war Kleidergeraschel und Keuchen zu hören. Aber nicht Melissas Atem. Irritiert stieß er die Tür auf und erstarrte.
Vor dem Bett, auf dem Damian und Melissa schliefen, stand Steve mit heruntergelassenen Hosen, eine Hand in seinem Schritt, die andere hielt Melissas Unterwäsche vor sein Gesicht.
Außer sich vor Wut und Ekel stürzte Damian sich auf den anderen, riss ihm den Stoff aus den Händen und drosch mit seinen Fäusten auf Steve ein. Betrunken und noch halb in seine Onanie versunken fiel dieser in sich zusammen, versuchte, auf die Füße zu kommen, stolperte über seine Hosen und stürzte abermals. Blut lief ihm aus der Nase, eine Augenbraue war aufgeplatzt. Mit vor Angst glasigen Augen suchte er einen Weg an Damian vorbei. Damian scheute instinktiv davor zurück, einen am Boden liegenden Gegner zu verletzen. Drohend machte er einen Schritt auf Steve zu, ins Zimmer hinein. Auf Händen und Füßen, die Augen unverwandt auf seinen Gegner gerichtet, krabbelte und rutschte Steve zur Tür. Damian folgte ihm auf einer gebogenen Linie, wie ein Wolf oder ein anderes Raubtier seine Beute fixiert und vor sich her treibt. Ans Geländer gekrallt zog Steve sich in eine senkrechte Position, schaffte es endlich, seine Kleider halbwegs zu ordnen und polterte die Treppe hinab.
Melissa betrat die Küche, Damian war nicht hier. Direkt neben dem Messerblock auf der Anrichte stand die Flasche, er hatte wohl erst mit Steve reden wollen. Wenn sie bloß nicht Steve begegnete. Schon der Gedanke bewirkte, dass sie sich vor Ekel zusammenkrümmte. Vielleicht sollte ich Damian bitten, morgen hier wegzufahren, es kann für ihn ja auch kein Spaß sein, wenn er mich ständig beruhigen muss. Ich benehme mich albern, aber ich kann es nicht verhindern.
Die Bedrohung, die sie durch diesen anderen Mann empfand, ließ sie in einem Zustand permanenter Wachsamkeit. Für einen Augenblick bildete sie sich ein, Schritte hinter sich zu hören, fuhr herum und hob abwehrend die Arme. Niemand stand dort. „Sei doch nicht albern!“ schimpfte sie laut mit sich. Sie nahm die Weinflasche. Dann fiel ihr Blick auf den Messerblock. Wenn ich diesen Widerling jetzt im Flur treffe? Soll ich nicht lieber eine Waffe mitnehmen? Nur als Drohung? ich könnte keinen anderen Menschen verletzen, aber weiß er das? Nein, weiß er nicht. Als Abschreckung wäre es bestimmt hilfreich. Und wenn ich sicher oben bin, gebe ich Damian auch sofort das Messer.
Ohne es zu merken, hatte sie das Messer schon in der Hand. Im Licht der Fackel, das von draußen durch das Fenster drang, glühte die Schneide orange auf. Dann lag sie wieder im Dunkeln. Sie strich mit dem Finger über das kühle Metall. So glatt. Tastete die Schneide entlang. So fein, so zart, so dünnUnd so gefährlich. . Die Spitze des Messers war klein und scharf. Melissa drückte sie gegen ihren Finger. Ihr brach der Schweiß aus. Das sollte ich nicht tun. Ich habe versprochen, damit aufzuhören. Die Versuchung war groß, mindestens so groß wie die Anspannung, der Stress, der Druck der sich im Laufe des Tages auf ihrer Seele gesammelt hatte. Die Flasche war ihr im Weg, sie stellte sie wieder ab, drehte die Klinge hin und her. Ihre Hände mit dem Messer darin zitterten. Ihre rechte Hand umfasste den Griff stärker, so stark, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Ihr Schatten tanzte an der weißen Holzwand mit den Blumenbildern. Schwarz vor rötlichen Flammen, geheimnisvoll und elegant, wie eine Magierin bei einer Beschwörungsformel. Verzweiflung schüttelte sie, ihrer Hand auf dem Griff rutschte. Vor Sehnsucht und Scham liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Kein Ärmel war im weg, mit einer leichten, gleitenden Bewegung fuhr das Messer quer über ihren Arm. Die Anspannung wuchs. Auch wenn sie Steve nicht kontrollieren konnte, ihr Körper wenigstens gehorchte ihr. Ich bin stark, ich halte viel aus. Sie verstärkte den Druck auf die Klinge, zog noch einmal über den Arm. Diesmal blieb ein kleiner, blutiger Strich zurück. Was sind schon Schmerzen! Erleichterung durchströmte sie, alles war unter ihrer Kontrolle. Sie kontrollierte das Messer, sie kontrollierte ihre Schmerzen, ihre Ängste. Wenn man sich selbst kontrollieren kann, dann auch alles andere! Parallel zum ersten Schnitt setzte sie das Messer wieder an. Sie wusste nun, wie viel Druck nötig war, um durch die Haut zu gelangen, presste noch stärker und schnitt. Tiefer diesmal. Blut tropfte aus dem Schnitt. Schwarz perlte es ihren Arm hinab, im unsteten Licht von außen war die tiefe, rote Farbe nicht zu erkennen. Versunken griff sie nach einem Küchenhandtuch und wickelte es sich um den Arm. Das ist ein schönes Messer! Das nehme ich mit, wenn wir wegfahren, dann habe ich endlich wieder was zum Ritzen.
Damian wird mir das Messer wegnehmen. Glasscherben, Nadeln, Messer, Zigaretten ... alles hat er weggenommen. Eigentlich ja gut, aber manchmal fehlt es mir, brauche ich es einfach! Nur, wenn er länger nicht da ist! Wenn ich viel alleine bin, sonst nicht. Nur damit ich weiß, dass etwas da ist, wenn ich es mal brauche. Nicht, dass ich es wirklich benutzen werde.
Entspannt und ruhig nahm sie die Weinflasche zum zweiten Mal an sich und ging zur Tür. Oben hörte sie Gepolter, einen unterdrückten Wutschrei. Damian! Und er kämpft mit jemandem! Ohne Nachzudenken rannte sie los.
Steve hastete stolpernd und rutschend die Treppe herunter, sein Gesicht brannte. Nicht nur von den Schlägen, auch vor Scham. Blut und Angstschweiß liefen ihm über das Gesicht, er wischte es weg. Er war in Panik, auf Damians Gesicht hatte mörderische Wut gelegen, und er folgte ihm mit wenigen Schritten Abstand die Treppe herunter. Er befürchtete, der andere würde die Beherrschung verlieren und ihn hinunterstoßen. Von oben aus dem Schlafzimmer strömte Licht nach unten, machte aus Damians hagerer Gestalt einen bedrohlichen, schmalen schwarzen Schatten, der ihn verfolgte. Steves nasse Hand glitt am Geländer ab, er stolperte über sein Hosenbein, mit einem Schrei fiel er nach vorne. Er ruderte mit den Armen, sah eine Gestalt vor sich im Dämmerlicht und griff, um sein Gleichgewicht zu halten, zu.
Melissa erstarrte und blickte das unwirkliche Bild an, dass sich vor ihren Augen bot. Von einem Lichtkegel aus trieb Damian mit hassverzerrtem Gesicht Steve vor sich her, hinab in die Dunkelheit, in der sie stand. Damian ist schon immer ins Dunkle gestiegen, zu mir, um mich zu retten. Wütend auf alles, was mich zu dem gemacht hat, was ich heute bin. Ein seelisches Wrack. Er hat mir die Hand entgegengestreckt und mich nach oben, ans Licht geführt. Am Steg dachte ich, er glaubt mir nicht, wüsste nicht, was er tun soll. Aber er ist mein Beschützer.
Glücklich lächelte sie zu ihrem Freund empor, sah nur ihn. Steves sah sie nicht. Sein Gesicht war eine Maske aus schwarzem Blut und heller Haut. In der Wärme des Hauses war das Blut deutlich zu riechen. Als er aus dem Nichts mit einem Schrei auf sie stürzte, erschrak sie bis ins Mark. Gelähmt stand sie da. Dann hatten seine Hände sie erreicht, feucht glitten sie über ihre bloßen Arme, hinterließen dunkle Abdrücke auf dem Handtuch. Sein stinkender Atem blies in ihr Gesicht. Vor Abscheu stieß sie einen schrillen Schrei aus und zerrte ihren heilen Arm frei. Ohne nachzudenken schlug sie zu.
Damian sah an der Bewegung, dass es Melissa sein musste. Sie stand bewegungslos am Fuße der Treppe und blickte nach oben. Ihre Augen und ihre Lippen glänzten, sie lächelte, das wusste er. Dann stolperte Steve plötzlich, schrie auf, erwischte im Fallen noch Melissas Schultern. Die schrie wie am Spieß auf, mit beiden Armen versuchte sie, ihn abzuwehren, bekam einen Arm frei und schlug mit der Weinflasche zu.
Es klirrte, ein Sprühregen aus Wein und Glassplittern ergoss sich über Melissa und Steve. Der Mann sackte zusammen und bewegte sich nicht mehr.
John begann ungeduldig zu werden. Erst war Steve gegangen, keine zwei Minuten später Damian und dann auch noch seine Schwester. Jetzt sitze ich hier seit mindestens 10 Minuten draußen und keiner kommt wieder! Verdammt noch mal, was soll der Scheiß? Dann bemerkte er den Moskito auf seinem Arm. Ärgerlich grunzend schlug er zu. Leider war mit zunehmender Dunkelheit kein Wind aufgekommen und die Fledermäuse fraßen lieber Falter. Scharen von Moskitos waren im Garten. Abräumen können wir den Rest auch morgen bei Tageslicht. Er drückte die Fackel in die Erde, kippte Wasser über den Grill und ging zum Haus.
Von drinnen ertönten Schreie. Einer von Steve und einer von Melissa, voller Panik hatten sie geklungen. John stolperte zur Tür und schlug auf den Lichtschalter. Auf dem Fußboden sah er Blutstropfen, in der Spüle lag ein großes Filetiermesser, mit zwanzig Zentimeter langer, blutiger Schneide. „Scheiße!“ fluchte er. Ich dachte, sie hätte diese pubertäre Phase überwunden, aber ich habe mich wohl geirrt. Er stürzte weiter in den Flur, machte auch dort Licht an und musste würgen. In einer riesigen, roten Lache kniete Melissa mit tränenfeuchten Gesicht, ihre Haare waren nass und klebten in wirren Strähnen an ihren Schläfen. Ihre helle Bluse war mit roten Tropfen verziert, ein heruntergefallenes Handtuch saugte sich ebenfalls voll. In Melissas Armen steckten Glassplitter, von ihren nackten Beinen, von ihren Fußsohlen tropfte Blut aus kleinen Schnitten. Damian saß ihr gegenüber und hielt ihre Hände fest umklammert, auf seinem Gesicht war ein eingetrockneter Blutspritzer. Verwirrung und verzweifelte Entschlossenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Um seine Iris war ein weißer Ring, er atmete schwer. Und halb von ihnen verdeckt lag Steve. Die Augen halb geöffnet, der Mund stand offen. Blut rann ihm aus Mund, Nase, Augenwinkeln und Ohren, seine linke Schläfe war seltsam verformt. Der kleine Treppenaufgang war von Gestank erfüllt, nach Blut, nach Wein, nach Urin und Kot. John würgte. Starrte seiner Schwester ins Gesicht. Würgte wieder und erbrach sich auf den Boden. Melissa rückte zur Seite, glasige Augen ohne einen Hauch Vernunft auf diesen weitern Mann gerichtet. Leise wimmerte sie.
„Steh auf, Schatz!“ Zug am Handgelenk. Wie unangenehm, aber der Zug wird wohl nur nachlassen, wenn ich nachgebe.
Melissa erhob sich wie eine Marionette.
An den Füßen piekt es. Jemand will das Spielzeug wegnehmen, drückt Finger auseinander. „Nein! Das ist meins!“ rasch zog Melissa die Hand weg und barg sie an ihrer Brust. Die Stimme die ihr antwortete, war ihr vertraut. „Ich will es nur mal ansehen, natürlich bekommst du es zurück!“ Wer ist das bloß, der so spricht? Den will ich sehen! Braune Augen lächelten sie an. Die Augen sind nett. Die können nichts Böses wollen. Sie dürfen das Spielzeug sehen. Zögernd öffnete sie die Hand.
Der Flaschenhals hatte sich mit den Kanten fest in Melissas Hand gebohrt. „Sehr hübsch“, sagteDamian. „Aber du siehst nicht halb so hübsch aus Schatz. Willst du dich nicht waschen?“ Melissa roch den Gestank, der wie eine Well über ihrem Kopf zusammenschlug. Spürte die stechenden Schmerzen in ihren Armen und Beinen. „Ich kann das Aushalten“, presste sie zwischen den Zähnen hervor, „ ich habe alles unter Kontrolle.“ Dann begann sie zu schreien und zu weinen, in einem hysterischen Anfall warf sie sich Damian in die Arme. „Was ist denn bloß passiert? Da war ein Monster, Damian, ich habe es gesehen! Hilf mir doch!“
John hatte nichts mehr in seinem Magen, was er von sich hätte geben können. Betäubt blickte er Damian an. Melissas Kopf war an dessen Schulter vergraben, ihr ganzer Körper wurde von Schluchzern geschüttelt. In einer lautlosen Geste formte John aus seiner einen Hand einen Telefonhörer und hob ihn an sein Ohr. Damian schüttelte den Kopf. John starrte ihn an. Sah noch einmal auf Melissa, auf ihre von Narben übersäten Arme mit den frischen Schnitten, die von Weinkrämpfen geschüttelt in Damians Armen lag. „Es wird sowieso ewig dauern, bis sie hier sind“, sagte er. Damian zuckte die Achseln Dann ging er leicht in die Knie, hob Melissa auf und trug sie in eines der unteren Schlafzimmer.