Kontrastprogramm
Ein leichter Wind fegt durch die Straße, lauwarm und gerade so stark, dass die Luft den Passanten um die Beine schmeichelt. In gedämpftem Licht beleuchtet die Sonne Gebäudekomplexe, die sich in moderner Stahl-Glas-Architektur geradlinig in den Himmel schieben, jenen kapitalen Größenwahn demonstrierend, der im Namen dieser Stadt mitschwingt: Frankfurt.
Bankentürme, Versicherungspaläste, Marmorgepflasterte Eingangsportale, Glasfassaden – und dahinter Skulpturen und Bilder avantgardistischer Künstler, deren Namen selbst gebildete Menschen noch nie gehört haben, die aber – glaubt man den Besitzern dieser Wirtschaftspaläste – absolut „in“ und die Träger des neuen Zeitgeistes sind. Ein Blick auf die Kunstmesse, die gerade am angrenzenden Messegelände stattfindet, verrät zumindest die eigentliche Triebfeder für die Exposition solcher Schaustücke, denn Kunstwerk mag ich diese Anhäufungen aus geschmolzenen, gegossenen und geschichteten Metallen gar nicht nennen. Verglichen mit dem Preis dieser Identitätskarte des neuen Zeitgeistes wäre ein Original von Vincent Van Gogh noch geradezu erschwinglich. Wer Geld hat, möchte es massiv zeigen, besonders denen, die jene Imperien des Kapitals und der vielstelligen Dollarbeträge betreten.
Und als wäre dieser Lebensstil zur Religion erhoben worden, durchströmt eine riesige Menschenmenge jeden Tag dieses Viertel, gehorsam nach den neuen Prinzipien in Gewand gehüllt, dessen Designer höchstens noch ihre eigenen Entwürfe kennen, die Stoffbahnen, aus denen ihre Kunst genäht wird, jedoch wahrscheinlich nicht einmal in den Händen halten. Wer dazugehören möchte, bemüht sich um den gleichen Gesichtsausdruck wie die Jünger der neuen Zeit, einer Mischung aus Elitewillen, Erfolgsvernarrtheit und Arroganz. Nebst entsprechendem Outfit, versteht sich. Gehüllt in Namen, deren Träger im Gegensatz zu den Käufern auch in Zukunft unvergessen bleiben werden. Und dabei dient auch diese Maskerade nur einem Ziel: Spuren zu hinterlassen – jetzt und in Ewigkeit....
Langsam senkt sich Ruhe über das Viertel, das von der hereinbrechenden Abenddämmerung in eine Mischung aus Rot und Violett getaucht wird. Noch immer bewegt ein leichter Windhauch die Bäume in den Parkanlagen, die sich großzügig durch das Herz der Finanzmetropole ziehen. Auch die letzten erfolgssüchtigen Anhänger des neuen Zeitgeistes verlassen in edlen Autos ihre Arbeitsplätze in den oberen Etagen kapitalstarker Unternehmen, deren Glaspaläste nun in der untergehenden Sonne ein letztes Mal aufleuchten, ehe sich eine stürmische, sternenlose Nacht über Frankfurt senkt.
Der Wind nimmt zu, wird kälter und bläst gnadenlos um die Ecken der Häuser. Im nahtlosen Dunkel verschwinden auch die letzten Schemen der modernen Skulpturen, die sich noch hartnäckig im Kampf gegen das Einswerden mit dem endlosen Schwarz jener Nacht gewehrt haben. Nur vereinzelt brennt da und dort Licht in den sonst schon menschenleeren Bürogebäuden. Selbst die kleinen Bistros und Restaurants schließen, weil mit dem vergangenen Tag auch die geschäftige Businessklientel in die angesagtesten Szenebars und Clubs der Innenstadt verschwindet.
Die Ampeln der Durchzugsstraßen, die tagsüber mit den neuesten Modellen großer Autohersteller überflutet sind und sich jetzt als völlig unbelebte Asphaltbänder durch die Stadt winden, sind auch schon abgeschaltet. Monoton blinkt das gelbe Licht als einziger Farbklecks, und es scheint, als sei dieses Viertel ab Einbruch der Dunkelheit völlig ohne Leben. Fast unheimlich starren die dunklen Fensterhöhlen der Bürogebäude auf spärlich erleuchtete Bürgersteige, wo hin und wieder etwas auf den Pflastersteinen glitzert, als wären die Asphaltflächen mit Diamanten übersät. Stimmen flüstern in den Winkeln und Ecken der Häuser, hier und da dringt ein Wortfetzen durch die bleierne Stille. Unter den Brettern eines Baugerüstes flackert ein kleines Feuer, das frierenden Hände Wärme spenden soll. Eng zusammengekauert hocken dort Gestalten um die Flammen, deren Umrisse alleine schon Geschichten über ihren ungünstigen Lebenslauf erzählen. Zerzauste, zottelige Mähnen, die zu zerfurchten Gesichtern, zerstochenen Armen und Beinen und insgesamt zu Lebewesen gehören, die nur dann menschliches an sich zu haben scheinen, wenn sie sich wieder einen Schuss setzen konnten. Nur dann ist es, als wären sie eins mit dieser Welt, wären auch geistig hier anwesend, anstatt in einem Delirium zwischen halblebend und halbtot zu schweben. Punks sitzen daneben in ihren mit Metallnieten und Stacheln beschlagenen Lederjacken, die Hosenbeine hochgekrempelt und nach ihren Venen suchend, weil die Adern an den Armen schon verschlossen sind. Ihr imposanter Haarkamm, der tagsüber in allen Farben schillert, hebt sich nun als zackiger Umriss vor der roten Glut des Feuers ab. Dazwischen einige junge Frauen mit verzweifelten Gesichtern, die zwischen Überlebensfrust und Geldnot über Philosophisches diskutieren, immer wieder den Kopf schütteln und dabei einen derart traurigen Ausdruck in ihren Augen tragen, dass es Menschen mit Gefühl sogar in der Dunkelheit den Magen zusammenkrampft.
Jene Wesen der Nacht, die man im Licht des Tages niemals in diesem Viertel erahnen würde, bevölkern nun die Straßen, beleben in der Dunkelheit die Plätze und Parks zwischen den Bürotürmen, in denen es für wenige Stunden still geworden ist. Keines der Gebäude wirft das Echo dieses Lebens zurück, keine Türe öffnet sich für diese Menschen. Es scheint auf den ersten Blick, als wären sie das exakte Gegenteil zu jenen Jüngern des neuen Zeitgeistes, die tagsüber das Stadtbild beherrschen. Und dennoch, sie alle haben eine Gemeinsamkeit: die gähnende Leere in ihrem Leben.