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Kontraste
Schwarz sei keine Farbe, hatte Heyser einmal gesagt. Und Weiß, das sei ebenfalls keine Farbe.
Ob man Weiß eigentlich neuerdings mit Doppel-S schreibe, hatte Klinkmann daraufhin wissen wollen.
Das wisse er nicht, hatte Heyser erwidert. Aber beides seien keine Farben.
Man schreibe Weiß weiterhin mit Ess-zet, hatte ich angemerkt.
Hm, hatte Klinkmann gemacht. Das seien doch so Schokoladenscheiben für aufs Brot, oder?
Ich hatte genickt. Schokolade. Ja.
Heyser hatte gesagt: Grau ist übrigens auch keine Farbe.
An einem sehr frühen, farblosen Morgen schritt ich den Gehsteig entlang. Die Straße lag in unauffälliger Leere da, die Fahrzeuge standen rechts und links auf dem Parkstreifen. Es war still, die Kühle der Nacht schwebte reglos, nur meine Sohlen schabten über die Betonplatten des Pflasters. Mich fröstelte, der morgendliche Tau kroch klamm an meinen Beinen empor. Ich blickte zu Boden, auf meine Schuhspitzen. Ich folgte meinen Schritten, rechts, links, rechts, links.
Fast wäre ich gegen etwas gelaufen.
Das Klavier. Ein altes Klavier stand vor mir. Schwarz lackiert. Der Lack war glatt, er glänzte. Schwarz war keine Farbe. Ich blinzelte. Ich hatte das Klavier nicht gesehen. Es stand an der Wand eines Hauses. Nummer 8. Ich war allein mit dem Klavier. Es war alt, aus schwerem Holz, solche Kästen baute man heute nicht mehr. Aber es sah nicht aus, als wäre es defekt. Zumindest der Korpus war intakt. Aber das Innenleben, natürlich konnte das Innenleben vollkommen hinüber sein. Bei einem Instrument zählt, was herauskommt.
Ein Klavier, würde Heyser jetzt gesagt haben, ist ein Saiteninstrument.
Und Klinkmann hätte vermutlich gefragt, ob man die Saiteninstrumente eigentlich neuerdings mit „ei“ schreibe.
Er wisse das nicht, würde Heyser darauf antworten. Aber es sei ein Saiteninstrument, weil die Töne durch schwingende Saiten erzeugt würden.
Man schreibe die Saiteninstrumente weiterhin mit „ai“, könnte ich zu einem solchen Gespräch beigetragen haben.
Aha, mochte Klinkmann dazu anmerken wollen. Das war doch so ein Spielberg-Film, oder?
Ich würde dazu nicken. Künstliche Intelligenz. Ja.
Heyser würde die Gelegenheit nutzen, uns mitzuteilen, dass Saxophone Holzblasinstrumente seien.
Ich öffnete den Deckel des Klaviers. Lange konnte es hier noch nicht stehen, die schwarz lackierte Oberfläche war glatt und trocken, keine Feuchtigkeit war darauf kondensiert. Außerdem wäre ein solches Klavier sicherlich nicht lange auf dem Gehsteig geblieben, irgendjemand hätte es mitgenommen, auch wenn man dafür einen Transporter bräuchte. Solche Stücke werden immer mitgenommen, Menschen in Transportern fahren die Straßen ab auf der Suche nach ihnen. Unter dem Deckel war es dunkel, ich öffnete ihn vollständig. Man konnte ihn nach hinten umklappen, ich tat es vorsichtig. Ich konnte nicht viel erkennen, aber ein grässlicher, scharfer Geruch stieg mir aus dem Korpus des Klaviers entgegen, nach verrottendem Holz und verblutendem Metall. Schwindel befiel mich, ich taumelte zurück, fiel auf die Knie, übergab mich neben das Klavier. Der Geruch des eigenen Erbrochenen brachte mich wieder zur Raison. Ich atmete tief und durch den Mund, spuckte kleine Bröckchen meines Frühstücksbrotes aus, die sich in den Zähnen gefangen hatten. Ich schmeckte Schokolade. Ich vernahm das Schaben.
Das Klavier verstellte mir den Weg. Zuvor hatte es an der Hauswand gestanden, nun stand es quer auf dem Gehsteig. Der Deckel war wieder geschlossen. Der Geruch der faulenden Eingeweide war wieder im Leib des Klaviers konserviert. Das Klavier klimperte. Ich wischte mir mit der Hand über den Mund. Ich brachte es nicht fertig, wieder auf die Beine zu kommen. Es war unwirklich. Die Straße, in graues Licht getaucht, diffus und unscharf, und vor mir das schwarze Klavier, welches mir den Weg verstellte. Es klimperte erneut, eine wahllose Folge von Tönen, die Stimmung des Klaviers war hinüber. Einige Tasten klapperten nur mehr, ihrer Töne beraubt, die in zerrissenen Saiten im Innern des schwarz lackierten Korpus’ ihr Grab gefunden hatten. Eine schwere Beklemmung befiel mich, sie umfasste mich mit kalten, leeren Schwingen in einer bedeutungslosen Geste. Das Licht erlosch um mich. Ich vernahm in der Finsternis das Splittern von Holz, das Scheppern von Metall, das hohe Singen der Saiten. Etwas nahm mir den Atem, ein farbloser Strudel erfasste mich. Es rauschte, ein Schrei ertönte. Einige verlorene Noten aus dem todgeweihten Klavier fanden ihren Weg in mein ertaubendes Ohr.
Es sei eine Tragödie, sagte Heyser später. Ein Jammer sei es.
Wie so etwas denn nur passieren könne, wollte Klinkmann wissen.
Dazu könne er nichts sagen, erwiderte Heyser. Manchmal passierten eben solche Dinge.
Klinkmann schwieg einen Augenblick, dann sagte er: Ich dachte, so etwas gibt es nur im Film. Mit Hunden. Da ist es dann immer lustig.
Diesmal ist es nicht lustig, sagte Heyser. Diesmal nicht.