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Konsequenzen
Im einen Moment war noch alles normal, er war zwar angespannt, vielleicht etwas ängstlich, aber es ging ihm gut und die Situation war durchaus normal. Und plötzlich waren seine Handknöchel zerschunden, kaum wiederzukennen, sein Atem wie nach einem Marathonlauf und die Frau tot neben dem Auto, von dem warmes Blut langsam über den roten Lack in ihr geöffnetes Auge tropfte.
Auf der Innenseite der Windschutzscheibe, dem Beifahrersitz, der Fußmatte und sogar dem Reifen klebte Blut und zeugte von einer eindeutigen Tat, zu der auch schnell ein Täter gefunden werden konnte, sah man sich nur seine Hände und sein verschmiertes Hemd an. Überall Blut. Noch nie hatte er so viel Blut gesehen.
Dabei hatte sie nur ihren Job gemacht. Wie konnte ihm das nur passiert sein?
Er schaute sich um. Noch hatte niemand etwas gemerkt, das Parkgelände war vollkommen leer. Was sollte er also tun? Wegrennen? Spuren verwischen und sich eine gute Geschichte ausdenken? Nein, dafür war es blutig und zu eindeutig. Dies war jetzt ein Tatort und er der offensichtliche Täter.
Dabei war alles so schnell gegangen. So wie einem etwas runterfällt und man sonst etwas kaputt machte. Es konnte nicht aktiv wahrgenommen werden und erst danach konnte man sich zusammenreimen, was geschehen sein musste. Sein Herz klopfte noch immer wie verrückt.
Genau wie vor seinem Ausbruch auch schon. Seine Beine und Hände hatten so sehr gezittert und sein Herz so stark geschlagen, dass er meinte es würde ihm gleich aus dem Körper fallen. Auf eine gewisse Weise war es das sogar, aber erst einige Minuten später. Die Angst, er könne so gar nicht Auto fahren, war ein wenig gewichen, nachdem er festgestellt hatte, dass es doch irgendwie ging. Er war vorsichtig und langsam gefahren, aber trotzdem nervös gewesen. Dann war es passiert. So plötzlich und so schnell, dass er es erst nicht verstanden hatte. Beim rückwärts Einparken. Ihm war ganz kalt geworden und die Frau hatte ihm gesagt er solle den Motor ausschalten, hatte etwas gekritzelt, etwas unterschrieben und ihm dann den Kugelschreiber gereicht. Er war durchgefallen. Sie hatte so gelangweilt, so ganz ohne jede Emotion, zu ihm gesprochen, dass plötzlich sein zuvor eiskaltes Gesicht feuerrot wurde. Dabei war es die extreme Gleichgültigkeit und Ignoranz in ihrer Stimme gewesen, die ihn so aufgeregt hatten. Und dann war es einfach passiert.
Er hatte den Kugelschreiber genommen und ihn ihr in die geistlose Fresse geschmissen, so wütend war er gewesen. Und als ihr Gesicht erschrocken und empört zusammengefahren war, hatte er sie geboxt. Wieder ins Gesicht. Mitten in diese dümmliche, ignorante Fratze.
Ihre Brille war zerbrochen und ihr heruntergerutscht, sie hatte gejapst und er hatte einfach weiter gemacht. Dann hatte er sich richtig auf sie gestürzt, sie nach unten gedrückt und auf sie eingeschlagen, wobei es ihr dabei gelungen war den Türknauf zu ertasten und die Beifahrertür zu öffnen. Er hatte ihr Klemmbrett gepackt und es immer wieder auf sie geknallt. Papiere und Dokumente waren umhergeflogen und Blut hatte überall hin gespritzt. Auch auf ihn. Warm und klebrig war es es auf seiner Haut gelandet, was ihn noch aggressiver gemacht hatte. Hass und Wut waren in ihm losgebrochen. Wie ein loderndes Feuer war es in ihm gewachsen, hatte sein ganzes Denken, den ganzen Körper übernommen und alles, was geblieben war, war glühender Zorn gewesen.
Immer und immer wieder hatte er auf sie eingeschlagen. Auf ihre Ohren, ihre Nase, in ihren Bauch, auf das Kinn und auch in den Hals. So sehr, dass sie erstickende Würgegeräusche von sich gegeben und er kurz innegehalten hatte. Noch hatte er nicht ganz verstanden, was passiert war, denn er war noch voller Energie und Wut, vielleicht sogar schon Angst, mitten im Rausch, dass er aus dem Auto gestiegen, um es gelaufen, den zuvor mit dem Auto berührten und damit für das Durchfallen ursächlichen Pfahl gegen das Rückfenster gedonnert und dann bei der aus dem Wagen kriechenden Frau angelangt war und auf sie eingeschlagen hatte. Wie lange, wusste er nicht mehr, aber irgendwann war ihr Hemd rot geworden und ihr Gesicht völlig entstellt und nicht mehr identifizierbar. Ein leichter, aber doch markanter Eisengeruch war aufgestiegen. Da hatte er von ihr abgelassen. Das Geschrei und Gejammer waren verstummt. Der Schmerz in seinen Händen hatte erst gut getan, wie ein Muskelkater, dann aber war ein Beißen eingetreten und er hatte die Glassplitter von der blöden Brille der Frau in seinem Fleisch stecken gesehen. In dem Augenblick realisierte er, was er gerade getan hatte.
Tränen kamen in ihm hoch. Er setzte sich neben die Frau ans Auto. Dann setzte die Angst ein. Gleich würde jemand kommen, ihn sehen, die Polizei rufen und man würde ihn festnehmen. Man würde ihn ins Gefängnis stecken, irgendwann anklagen, verurteilen und wegsperren. Für eine sehr lange Zeit.
Irgendwo dazwischen würde er seinen Eltern und seinem kleinen Bruder erklären müssen, was passiert war. Wenn sie überhaupt noch mit ihm sprechen würden.
Er war nicht der Typ fürs Gefängnis. War es nie gewesen. Er war dünn, schüchtern, freundlich, konfliktscheu, eher interessiert an guten Romanen als an Autos, hatte ein tolles Abitur und freute sich schon auf sein Studium. Nur der Führerschein fehlte und dann hätte er sein zuhause verlassen und sein Leben begonnen.
Weil er es nicht länger aushielt zu sitzen, zu warten, stand er auf. Noch immer rasten tausende Gedanken durch seinen Kopf und Tränen überströmten sein Gesicht. Warum war noch niemand gekommen? Hatte es wirklich noch niemand bemerkt? Sollte er also wegrennen? Wohin? Von seinem Fahrlehrer Tom, der im nahegelegenen Gebäude auf ihn wartete, würden sie sofort seinen Namen und Beschreibung bekommen. Die Tat war eindeutig und man würde ihm mit Hubschraubern und Hunden nachjagen, während er sich nur durchs Dickicht schlagen konnte. Schnell und weit. Vermutlich würde er bei irgendeiner Autobahn enden, welche zu überqueren er sich nicht trauen würde und dann festsitzen und schließlich doch verhaftet würde. Wenn nicht, was sollte er dann tun? Neue Identität und neues Leben? Dieser Gedanke war absurd und lächerlich, dachte er. Zugegeben genauso absurd wie der Gedanke, dass er heute jemanden umgebracht hatte. Wie verdammt noch mal, war das nur geschehen? Er war nie gewalttätig gewesen, hatte nie Anfälle oder Wutausbrüche gehabt, sondern war eher zurückhaltend und schüchtern. Hätte jemand ihm am Morgen gesagt, dass er heute einen anderen Menschen tot prügeln würde, hätte er mit ganzer Ehrlichkeit gelacht, wie es jeder tun würde.
Da hörte er Schritte. Ein Mädchen in seinem Alter, vermutlich die nächste Geprüfte, und ein Fahrprüfer kamen angelaufen. Da schrie sie plötzlich laut auf. Sie hatte die Frau am Boden gesehen und dann ihn angesehen. Der Mann trat näher, während sie weglief als wäre der Teufel hinter ihr, und beäugte die Situation. Seine Augen weiteten sich, als er das Blut sah. Dann sagte er etwas. Vielleicht war es auch eine Frage, das wusste er nicht, aber als seine Antwort ausblieb, trat der Mann wieder langsam zurück mit wachsamen Augen auf ihm. Mit einer Hand griff er in seine Tasche und holte sein Handy heraus. Er ging noch immer weiter, dann zurück ins Gebäude und verschloss die Tür. Er würde jetzt die Polizei rufen und in ein paar Minuten, vielleicht waren es fünf, vielleicht sogar 15, würden sie hier sein und ihm Handschellen anlegen.
Was sollte er also tun und was würde passieren? Um diese Frage kreiste sich jetzt alle seine Gedanken. Er würde alle seine Freunde und vor allem seine Familie verlieren. Wieviele Jahre gab es nochmal auf Totschlag? Er meinte sich zu erinnern, dass es zwar nicht lebenslänglich aber doch sehr lange war. Wenn er in vielleicht zehn Jahren wieder freikäme, wäre sein Leben ein völlig anderes.
Zwar mit Abi, aber ohne Studium, ohne Führerschein, ohne Geld, ohne Freunde und Familie, aber mit einem Gefängnishintergrund. Niemand würde ihn je einstellen, er würde obdachlos werden und sein restliches Leben damit verbringen irgendwo rumzusitzen, Müll aufzusammeln und zu betteln. Das war nicht das Leben, das er wollte.
Eigentlich musste er nur noch seinen Führerschein machen, hatte es lange vor sich hergeschoben aufgrund seiner Prüfungsangst und wollte dann zum Wintersemester Filmwissenschaft studieren, vielleicht irgendwann Drehbuchautor, eventuell sogar Regisseur werden, berühmt werden, eine Frau finden, mit ihr glücklich werden und Kinder kriegen. Doch diese Möglichkeit war von heute an ausgeschlossen. Für immer.
Weglaufen war auch keine Option. Und etwas anderes zu tun, fiel ihm nicht ein. Ratlos und verzweifelt setzte er sich ins Auto. Kurz überlegte er was er jetzt tun könnte, das ihn vor Gericht normaler aussehen lassen würde und ihm vielleicht ein paar Jahre im Gefängnis ersparen könnte. Ein Täter, der sich danach beim Tatort bleibt und ganz ruhig auf die Polizei wartet? Wirkt das wie eine angemessene Reaktion eines vernünftigen Täters, der verstanden hat, was passiert ist und was ihm noch bleibt, auf ein so brutales Verbrechen oder wie ein Psychopath, der glaubt, nichts mehr verlieren zu können? Weil er es nicht wusste, blieb er einfach sitzen. Sah sich noch einmal um. Er hörte noch immer keine Sirenen. Da kam in ihm plötzlich wieder Hoffnung auf. Vielleicht würde die Polizei nie kommen. Vielleicht würde morgen irgendwie alles wieder sein wie gestern. Das musste doch sein. Dies konnte nicht echt sein. Gleich würde er aus einem Traum aufwachen. Da hörte er sie.
Sie waren noch leise, kamen aber immer schneller, wurden lauter. Vielleicht würden sie ja an ihm vorbei fahren und waren garnicht seinetwegen da, hoffte er. Bis zu dem Punkt, wo er die Blaulichter tatsächlich sah, die Pistolen der Polizisten auf ihn zeigten und man ihm bedeutete aus dem Wagen zu steigen und die Hände hochzuhalten, sich hinzuknien und keinen Widerstand zu leisten, hatte er gehofft, dass noch alles normal sein würde. Dass sein Leben normal sein würde. Doch da traf ihn die Einsicht so hart, das jede Hoffnung auf ein besseres Leben ganz schnell und für immer verloren ging. Er war jetzt ein Schwerverbrecher, er verdiente kein besseres Leben. Seiner so plötzlichen Wut und anschließenden Verzweiflung war jetzt tiefer Angst gewichen.