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- 31.10.2003
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Konsekration
"Schön Sie zu sehen, Pater."
Der schwarze Hund bellt kurz, als der Geistliche lächelnd vor ihnen stehen bleibt.
"Lass ihn ein wenig laufen", sagt Sophie zu dem Mann an ihrer Seite.
Der Hund hechelt, dann rennt er davon auf die in einiger Entfernung liegende Wiese. Bäume wehen im Hintergrund. Der Hund bellt nicht mehr.
"Es ist mir ebenfalls ein Fest", sagt der Mann in der schwarzen Soutane. Er schüttelt der Frau die Hand, legt die andere ans Kinn und zieht die Stirn in Falten. "Sophia", er grübelt weiter, sieht den Mann an, der jetzt ebenfalls milde lächelt und einen Farbeimer abstellt. "Und Carlo!", ruft er erfreut. "Sie müssen verzeihen, aber es wird nicht mehr lange dauern, bis ich all meine Schäfchen beim Namen nennen kann."
Die Frau grinst. "Sophie, Pater."
"Principiis obsta!" Er lacht freundlich. "Sophie."
Der Mann runzelt die Stirn. "Ich verstehe nicht."
"Wehret den Anfängen. Ihre Frau tat Recht daran, mich auf meinen Fehler hinzuweisen. Aber Carlo ist richtig."
"Carlo ist richtig. Allerdings sind wir nicht verheiratet, Pater."
Es stinkt.
Nicht einzuordnen, wonach. Carlo keucht.
Schwere Luft, die den Eindruck erweckt, er würde Wasser einatmen. Jemand presst deine Lungen zusammen.
Irrtum.
Alles dröhnt. Tief in ihm. Ein stetig zunehmender Druck, der auf seinem Brustkorb lastet. Er will schreien - keine Kraft verschwenden - und lässt es. Irgendetwas stimmt an seiner Position nicht. Seine momentane Position ist es, die den Druck verursacht.
Er öffnet die Augen, versucht es zumindest. Seine Lider weigern sich, werden scheinbar von einer verborgenen Schwere unten gehalten. Irgendwann - kein Zeitgefühl - schafft er es. Doch es ändert nichts. Die Dunkelheit stagniert.
Sein Puls schlägt gegen die Schläfen; ein Stakkato, sich nähernden Schüssen gleich. Der Versuch, ruhiger zu atmen, macht es schlimmer. Du brauchst Sauerstoff! Mehr von dieser stinkenden Luft. Mehr von dieser schwarzen Luft, die in ihn eindringt wie Teer.
Etwas Bohrendes entsteht in seiner Schulter, Carlo hört es knirschen. Gleichsam weiß er, dass er es nicht wirklich hört. Aber er weiß, dass es knirscht. Spitz zwischen den Gelenken.
Er versucht, gegen das sich ausbreitende, nicht vorhandene Knirschen, anzukeuchen, will eigentlich gar nicht keuchen, weil das einen Würgereiz in ihm auslöst. Er keucht weiter. Würgt. Keucht. Als er sich wenig später übergibt, spürt er, wie die heiße Flüssigkeit seine nackte Haut hinunterläuft.
Das Bohren hört trotzdem nicht auf. Das Knirschen. Er realisiert, dass seine Arme in die Höhe gestreckt sind. Der Schmerz wird jetzt spitzer, fühlt sich an, als würde jemand eine lange Nadel in die Gelenkpfannen schieben und darin herumrühren. Ganz langsam. Mit äußerst viel Genuss. Doch ist die Nadel so wenig echt, wie das Knirschen. Er will die Arme sinken lassen, doch es geht nicht.
Seine Kehle ist ausgetrocknet als wäre sie mit Sand gefüllt.
„Hallo?“, krächzt er irgendwann. Oder war es nur Wunschdenken? Augenblicklich übertrifft das Brennen seiner Kehle das Bohren in der Schulter. Ein bisschen Speichel hat sich in seinem Mund gesammelt, vermengt sich mit dem Geschmack der erbrochenen Magensäure. Er schluckt gierig.
Unter seinen Füßen ist es kalt. Wie Stein.
Seine Beine ähneln Säcken, deren schwammiger Inhalt ihn nach unten zieht. Er will sich setzen, doch etwas hindert ihn daran. Etwas, das sich an seinen Handgelenken befindet.
Carlo hebt den Kopf. Hofft etwas zu sehen, obwohl alles dunkel ist, einen winzigen Lichtreflex nur. Und so, wie er das Knirschen in seiner Schulter gehört - nicht gehört - hat, sieht er seine Arme in Ketten an einer hohen Decke hängen. Alles ist schwarz.
Mit einer Intensität, die das Knirschen noch übertrifft, eröffnet sich ihm die Erkenntnis über seinen Zustand: Er ist aufgehängt. An den Handgelenken aufgehängt.
Er wird das Gefühl nicht los, dass etwas Schweres auf seinem Brustkorb lastet - das liegt nur an der verbrauchten Luft - und die Ausdünstungen seiner Achseln dringen zu ihm hinauf.
Niemals zuvor hat er nach Schweiß gestunken. Peinlichst darauf bedacht, seinen Körper sauber zu halten hatte er jeden Morgen geduscht. Abends noch einmal. Darüber hinaus gaben ihm Achtundvierzig-Stunden-Deos die Sicherheit, jeden Tag geruchsfrei zu überstehen.
Du stinkst wie ein Schwein!
Wie lange hängt er schon hier?
"Sehe ich Sie beide heute Abend in der Messe?"
Carlo winkt ab. "Leider nicht."
"Das ist schade. Doch wenn auch nicht körperlich anwesend, so ist es doch der Geist, der stets unserem Herrn huldigt."
"Er ist auf einer Besprechung, müssen Sie wissen, Pater." Sophie knufft ihrem Freund in die Seite. "Auf einer gaaanz wichtigen Besprechung, von der er mir nichts erzählen darf."
"Es ist wirklich wichtig. Und es verschafft uns die Reise, die du dir immer gewünscht hast."
Der Geistliche sieht sie an. "Et prodesse et delectare." Als niemand lacht: "Das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden."
Nur die Frau lächelt.
Der Hund bellt in einiger Entfernung. Als Carlo in diese Richtung schaut, sieht er die beiden sich nähernden Männer.
Nach einer Unendlichkeit gibt er den Versuch auf, seine Handgelenke von den Fesseln zu befreien. Er weiß, dass sich die Haut bereits gelöst hat. Spürt es an der Taubheit und spürt es an dem Kitzeln, das seinen Arm hinabläuft. Wie Honig, der zu lang in der Sonne gestanden hat. Es schmerzt nicht.
Es sind Metallschellen, mit denen man ihn aufgehängt hat. Er reckt sich und hört die Ketten, deren Glieder melodisch aneinanderschlagen. Kling - kling. Ein winziges Glöckchen, das sich stetig in seinen Verstand frisst. Bohrt. Und dabei unhörbar knirscht.
Er hängt an einer Decke irgendeines Raumes. Mit Ketten und Metallschellen, die sich übergeben, um seinen Verstand durch seine knirschende Schulter zu bohren. Nur Gestank um ihn herum. Und schwindender Verstand. Seine Tränen merkt er, als sie ihm salzig über die Lippen laufen und auf dem Weg in den Mund auf diesen verdunsten.
Ein Funke blitzt vor seinem Auge. Nicht echt. Nur in seinem Kopf. Stufen sieht er. Graue Stufen, die er hinabsteigt. Er winkt. Lächelt.
Eine Frau mit langen, dunklen Haaren steht am Treppenansatz und winkt ebenfalls. Sie lächelt. Eine Zeitung fällt zu Boden. Die Frau blickt hinab, hebt sie auf.
Ein Hund steht neben ihr und hechelt. Es ist sein Hund. Ein schöner Hund. Eine schöne Frau. Er weiß ihren Namen nicht.
„Ist hier … jemand?“ Der Satz kostet ihn Kraft. Carlo übergibt sich erneut. Schreit dabei, und das Brennen seiner Kehle schreit zurück.
Wie ist er hierhergekommen?
Wer ist diese Frau, deren Namen er kennen müsste?
Ein leerer Kopf ohne Erinnerung. Nur diese Zeitung. Und wochenlang dieselbe Headline. VERSCHWUNDEN! steht da. Das weiß er auf einmal.
Der Hund bellt. Sein Labrador. Carlo steigt in ein Auto, das nach Leder riecht. Es riecht gut. Es riecht so verdammt gut. Teuer. Er kann alles kaufen. Selbst guten Geruch.
Mach nicht zu lange, ruft die Frau.
Was für ein Gestank. Überdeckt seine eigenen Ausdünstungen.
Es riecht sauer. Schlimmer als Erbrochenes. Nicht zuzuordnen.
Seine Füße fühlen sich dick an. Geschwollen. Vorsichtig schiebt er einen Fuß nach vorn. Tastet mit nackten Zehen. Da ist unebener Boden. Grober Stein, oder schlecht verlegter Zement. Könnten auch raue Fliesen sein.
Noch ein bisschen weiter. Seine Handgelenke und seine Schulter schwellen an. Wie ein Ballon kurz vorm Platzen.
Sein Zeh berührt etwas. Es ist warm. Und weich. Ein Fuß!
Carlo verliert das Gleichgewicht und rutscht weg. Sein Schrei hallt durch den Raum - wirft ein Echo, sodass es klingt, als schreie er aus mehreren Kehlen gleichzeitig - und die Metallschellen zerreißen sein Fleisch. Haut löst sich vom Knochen, der so laut kracht, dass er es hört. Diesmal wirklich hört.
Es dauert lange, bis nur noch ein abgehacktes Stöhnen herankriecht und wieder verschwindet. Begleitet von harmonischem Klang der Ketten.
Noch nie zuvor konnte er Schmerz ertragen, selbst das Schneiden an einem Stück Papier verursachte in seinen Beinen ein heißes und gleichzeitig schwammiges Gefühl, gefolgt von einer andauernden Ewigkeit, bis der kalte Schweiß auf seiner Stirn verschwand und sein Puls wieder eine halbwegs normale Frequenz erreichte.
Carlo beginnt zu weinen, während er versucht, mit den Füßen wieder Halt zu finden. Nur den Druck der Schellen verringern. Nur das weitere Abschälen der Unterarmhaut eindämmen. Nie war sein Verstand so klar. Die Frau heißt Sophie!
Speichel rinnt über seine Lippen. So zäh, dass er sich nicht einmal mit den Tränen mischt. Dein Hals ist trocken, doch dein Mund produziert Speichel.
Wieder spürt er diesen Honig, der seinen Arm hinunterfließt, sich in seinem Achselhaar sammelt, um dann an der Seite seines Körpers seinen Weg fortzusetzen.
Carlo beginnt ein Kinderlied zu singen, das schäumende Blasen vor seinem Mund wirft. Er liebt seinen Labrador. Er liebt die Frau, die neben diesem steht. Sophie. Sie winkt. Und er riecht das Leder des Innenraums seines teuren Wagens.
Die Frau hat ein winziges Muttermal auf ihrer Stirn. Eher ein kleiner Leberfleck. Ganz klein. Genau in der Mitte. Carlo weiß, wie es sich anfühlt, wenn er sie darauf küsst. Er liebt den Geruch von Leder.
Äonen später schwindet der Schmerz endlich. Lauert wie ein Tier. Bereit, jederzeit wieder hervorzuspringen. In jeder Sekunde. Die ewig dauern kann.
In genau einer dieser ewig andauernden Sekunden hört Carlo ein Geräusch.
"Nihil fit sine causa", sagt der Geistliche.
Die beiden Männer - der hintere hat den Blick gesenkt, der vordere einen Anzug an - haben sie fast erreicht. Der Anzugmann winkt und ruft: "Hallo Pater!"
"Mein Latein liegt lange zurück, Pater," sagt Carlo. "Sie müssen entschuldigen."
"Nichts geschieht ohne Grund", lacht der Mann im Anzug, der jetzt neben ihm steht. Er schlägt Carlo freundschaftlich auf die Schulter, wendet sich dann der Frau zu und nimmt ihre Hand, auf die er einen Kuss haucht. "Sie müssen Sophie sein. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen." Dann: "Pater?"
"Kennen wir uns?", fragt Sophie.
Er hält den Atem an. Für einen Moment nur. Lauscht in die Schwärze, die ihn umschlingt und sich auf sein nasses Gesicht legt, wie ein heißer Lappen. Er würgt, weil er zu ersticken droht. Doch er macht es leise. Erneut das Geräusch.
Ein Schlagen gegen weiche Masse. Kurzes ersticktes Schreien. Gedämpft. Ein weiterer Schlag. Der gedämpfte Schrei wird länger. Ein Plätschern auf Stein.
Dann etwas, das sich wie Schmatzen anhört. Kurz darauf ein Reißen. Das gedämpfte Schreien verwandelt sich in gedämpftes Kreischen. Eindeutig geknebeltes Kreischen. Nackte Füße stampfen in schneller Folge auf nackten Boden. Das schmatzende Geräusch mutiert zu einem Schneiden. Wieder Reißen.
Carlo presst die Lider so fest zusammen, dass es brennt.
Er streicht zusammen mit der dunkelhaarigen Frau die Wände eines Zimmers. Mit Sophie. Weiße Farbe. Das winzige Muttermal auf ihrer Stirn ist dunkel. Sie klebt die Ecken ab. Reißt das Band von der Rolle, während der Labrador hechelnd daneben sitzt.
Schmatzen. Reißen. Hecheln.
Schritte.
Nackte Füße tapsen auf Stein. Schnell. Unkontrolliert. Keine gedämpften Schreie mehr.
Ein platschendes Geräusch auf Metall.
Es ist ein Putzlappen, der in einen Eimer geworfen wurde. Carlo weiß, dass dem nicht so ist. Scheiß klarer Verstand. Definitiv kein Putzlappen.
Die Erkenntnis, dass er in diesem Raum nicht der einzige an Ketten Aufgehängte ist, trägt nicht dazu bei, dass er sich besser fühlt. Nichts an dieser Situation trägt dazu bei, dass er sich besser fühlt.
Dann beginnt es von vorn. Schmatzen - Schneiden - Reißen. Jetzt auch kein Tapsen mehr. Und wieder der nasse Putzlappen - der kein Putzlappen ist -, der in den Metalleimer schlägt.
Eine Tür schlägt gegen eine Wand. Trotzdem bleibt es dunkel. Weit entferntes Murmeln dringt herein, ähnlich dem dumpfen Raunen einer Menschenmenge. Eine Menschenmenge in einer Halle oder einem großen Raum.
"Es ist wieder jemand verschwunden. Hast du gelesen?"
Er blickt von der Leiter hinab. Sieht den Labrador, in dessen schwarzem Fell einige weiße Farbflecken glänzen. Die Frau steht daneben.
"Du sollst die scheiß Zeitung nicht lesen, sondern den Boden damit auslegen". Er lacht.
"Sieh dir das Foto an. Ich glaub, ich kotz gleich. Drucken die ne Leiche ab."
"Wenn du nicht willst, dass der Teppich gleich aussieht wie der Hund, dann leg die Zeitung aus."
"Seit wann dürfen die Leichen abdrucken? Hör was hier steht: Sie war bis auf die Knochen entfleischt."
"Entfleischt?"
"Steht hier."
"Leg sie auf den Boden."
Sie hält die Rolle mit dem Klebeband in der Hand und blickt ihn an.
Erneutes Reißen. Kein Klebeband. Platschen. Kein Putzlappen. Dann Stille.
Carlo hört das Rauschen seines Blutes. Tief drin. Dort, wo es hingehört. Er versucht zu lauschen.
Das entfernte Raunen ist ebenfalls verstummt. An dessen Stelle tritt eine Stimme, laut und hallend und weit weg: "CREDO IN UNUM DEUM PATREM OMNIPOTENTEM FACTOREM CAELI ET TERRA ..."
Carlo stockt der Atem.
Ein Raunen. Weit entfernt. Dann wieder die Stimme: "DENN AM ABEND, AN DEM ER AUSGELIEFERT WURDE UND SICH AUS FREIEM WILLEN DEM LEIDEN UNTERWARF, NAHM ER DAS BROT UND SAGTE DANK."
Carlo atmet flacher.
Jemand flüstert irgendwo vor ihm. Dann eine andere Stimme. So leise, dass Carlo lediglich erkennt, dass es sich um zwei verschiedene Stimmen handelt.
Ein beißender Gestank erreicht seine Nase. Kot! Eine Walze schweren Fäkalgeruchs schwappt heran.
"NEHMET UND ESSET ALLE DAVON: DAS IST MEIN LEIB, DER FÜR EUCH HINGEGEBEN WIRD." Die schallende Stimme von außerhalb spricht das Hochgebet.
"Doktor Eschenbach. Es ist mir eine Freude." Der Pater schüttelt dem Doktor die Hand. Die zweite Person bleibt etwas zurück.
"Kennen wir uns?", fragt Sophie noch einmal.
Der Doktor verbeugt sich leicht. Carlo wird heiß. "Ich kenne Ihren Mann."
"Wir sind nicht verheiratet."
Der Labrador bellt und kommt herangerannt. Carlo geht in die Hocke.
"Schatz, ihr kennt euch?"
Carlo spürt, wie in seinem Magen etwas entsteht. Schluck es runter!
Er atmet flach durch den Mund.
Ein metallisches Poltern. Etwas ist umgefallen. Oder wurde hart auf dem Steinfußboden abgestellt.
Carlo zuckt zusammen. Niemals zuvor war sein Verstand klarer. Kein Schmerz. Kein Bohren. Nur Verstand, der sich noch immer weigert, die Puzzleteile zusammenzusetzen.
Ein Windhauch berührt seinen Körper. Er ist nackt. Erneut bricht Schweiß aus ihm hervor. Sein Herz rast. Das Flüstern ist verstummt. Nur noch Stille. So erstickend, wie die kotdurchtränkte Luft. Er möchte schreien: Macht weiter! Bitte macht weiter! Alles, nur nicht diese Stille.
Dann hört er Schritte.
Ganz leise. Kaum wahrnehmbar, aber Carlo hört eindeutig, wie sich jemand nähert. Er schließt die Augen, lässt den Kopf hängen - der Heiland am Kreuz.
Stell dich tot. Zumindest ohnmächtig.
Insgeheim möchte er weglaufen.
Du sollst die Zeitung nicht lesen, sondern den Boden auslegen.
Sie war bis auf die Knochen entfleischt.
Ein Atmen direkt vor seinem Gesicht. Carlo spürt den warmen Hauch auf seiner Haut. Der Atem stinkt faul, übertüncht sogar den Gestank nach Kot und Erbrochenem. Warum ist hier kein Licht? Etwas berührt seinen Hals, drückt leicht neben den Kehlkopf. Wie können die ihn hier sehen?
Carlo bleibt still. Seine Waden beginnen zu zittern, und er spürt einen pulsierenden Druck in seiner Blase. Nachtsichtgeräte? Aber wo liegt da der Sinn?
Es ist wieder jemand verschwunden. Hast du gelesen?
„Lebt er?“
Die Leiche war bis auf die Knochen entfleischt.
Nihil fit sine causa.
Mein Latein liegt lange zurück, Pater. Sie müssen entschuldigen.
Nichts geschieht ohne Grund.
"Ob er noch lebt, hab ich gfragt?"
„Ja.“ Der Atem schlägt ihm entgegen. Er stinkt nach verwestem Fleisch.
Carlo presst die Lider zusammen.
Die Berührung an seinem Hals verschwindet.
„Wann?“
Schweigen und stinkendes Hauchen.
„Frühmesse. Denk ich.“
Es ist wieder jemand verschwunden.
Schritte, die sich leise entfernen.
Bis auf die Knochen.
"Fass bei der Schüssel an!"
Kurzes Keuchen.
"NEHMET UND TRINKET ALLE DARAUS: DAS IST DER KELCH DES NEUEN UND EWIGEN BUNDES, MEIN BLUT, DAS FÜR EUCH UND FÜR ALLE VERGOSSEN WIRD ZUR VERGEBUNG DER SÜNDEN."
Die schwere Tür schlägt zu.
"Was wollten Sie mir sagen?"
"Ich bin wieder unschlüssig, Doktor."
Eschenbach legt einen Arm um die Schulter des Mannes, der neben ihm geht.
"Das ist völlig normal. Schließlich manipulieren wir Ihre Wahrnehmung."
"Es ist mein Hirn, das Sie manipulieren."
"Es sind bestimmte Hirnregionen, die ... sagen wir, speziell stimuliert werden."
"Es dient der Wissenschaft, Doktor?"
"Es dient Ihrem Portemonnaie." Eschenbach lacht. "Die Überweisung wurde heute früh getätigt. Pecunia non olet. Geld stinkt nicht. Habe ich Recht?"
"Ja, das haben Sie. Wird es wehtun?"
Der Doktor bleibt stehen. Jetzt nimmt er die Hände des alternden Mannes, dessen Blick gesenkt ist. "Wir haben das doch alles schon durchgesprochen. Ja, es kann Schmerzen verursachen. Aber es werden keine echten Schmerzen sein. Lediglich hervorgerufen durch bestimmte Stimulanzien, die die Aktivität der Nerven erhöhen."
"Wo liegt da der Unterschied. Wenn es wehtut, ist es mir herzlich schnuppe, ob es echt ist oder nicht. Was passiert, wenn es zu echt wird?"
"Wir holen Sie rechtzeitig zurück."
"Scheiße, Doktor, Ihr Wort in Gottes Ohr. Wie hieß der Spruch mit dem nicht stinkenden Geld noch mal?"
"Pecunia non olet." Eschenbach blickt den Weg hinunter. Ein Labrador rennt an ihnen vorbei. "Hey, sehen Sie. Dort drüben bei unserem neuen Pastor stehen Carlo und dessen Frau."
"Ich kenne keinen Carlo."
"Er nimmt ebenfalls an dem Experiment teil. Kommen Sie, ich stelle Sie ihm vor. Er wird Ihre Bedenken ausräumen." Der Doktor geht auf die kleine Gruppe zu. "Los, kommen Sie." Er winkt und ruft: "Hallo Pater!"
Carlo reißt die Augen auf.
Und sieht.
"Memento mori, Carlo."
"Mein Latein liegt lange zurück, Pater. Sie müssen entschuldigen."