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Konrad und der Traumballon
Am Sonntag regnet es so stark, dass es auch am Nachmittag noch gar nicht richtig hell draußen ist. Mama muss ihre Regenjacke anziehen und den großen, roten Schirm mitnehmen, als sie mit Ronny Gassi geht. Papa, Konrad und seine kleine Schwester Lexi liegen im Kinderzimmer auf dem Teppich und bauen eine Ritterburg aus Legosteinen. Als Konrad gerade die Fahne auf den letzten Turm gesteckt hat, springt Papa plötzlich auf und tritt beinahe auf Lexis Feuerwehrauto.
„So geht das nicht mehr“, sagt er und starrt an die Wand. Konrad schaut Lexi an und zuckt mit den Schultern. Was meint Papa denn? Der dreht sich zu den beiden um und sagt strahlend:
„Was sagt ihr? Soll ich die Wand neu tapezieren und wir malen sie dann alle zusammen an?“ Lexi springt vor Freude in die Luft. Sie malt sehr gerne, aber im Kindergarten dürfen sie das immer nur auf Papier und nicht auf weiße Wände.
Die Tapete im Kinderzimmer ist schon alt, viel älter als Lexi und sogar ein paar Wochen älter als Konrad. Sie ist dreckig, außerdem hat sie an einigen Stellen Löcher, Ronny hat sie mit seinen Pfoten an vielen Ecken abgerissen. Manchmal ist Papa ein bisschen verrückt. Er holt eine Leiter aus der Abstellkammer und Mamas Flasche, mit der sie die Blusen vor dem Bügeln immer nass macht, aus dem Schrank. Er sprüht das Wasser an die Wand und reißt die aufgeweichte Tapete mit all den schmutzigen Giraffen, Tigern und Löwen einfach ab. Konrad und Lexi schauen ihm staunend zu.
„Los, macht mit“, sagt Papa und drückt Konrad die Flasche in die Hand. Das lassen sich die beiden nicht zweimal sagen und helfen Papa, die Tapete von der Wand zu lösen.
Als Mama wieder nach Hause kommt, schaut sie verwundert zur Tür herein und fragt
„Ja, was macht ihr denn hier?“. Da ist eine Wand schon fast ganz kahl.
Papa wischt sich den Schweiß von der Stirn.
„Wir dachten, das Kinderzimmer könnte eine neue Tapete vertragen.“ Mama lächelt.
„Das ist eine gute Idee, das hätten wir schon längst machen sollen.“ Sie hebt Lexi auf ihre Schultern, damit sie an die Tapetenreste heran kommt.
„Tapezieren kann ich erst nächsten Samstag“, sagt Papa, als es Zeit fürs Abendessen wird.
Konrad, Lexi, Mama und Papa reden in dieser Woche oft über die Wände im Kinderzimmer. Am häufigsten sprechen sie darüber, wenn Mama und Papa Lexi und Konrad ins Bett bringen und sie zusammen auf die nackten Wände schauen.
„Was malen wir eigentlich, wenn Papa tapeziert hat?“, fragt Mama am Dienstag. Lexi krabbelt in ihr Bett und Mama deckt sie zu.
„Ein Schaf“, ruft sie, „ich will ein blaues Schaf malen!“ Konrad verdreht die Augen.
„Bist du dumm“, sagt er zu seiner Schwester. „Es gibt weiße Schafe, es gibt braune Schafe, manchmal auch schwarze. Aber Schafe sind nie blau.“
Lexi kuschelt sich ärgerlich in ihre Decke. Sie kann es nicht leiden, wenn Konrad solche Sachen sagt, nur weil er schon in die Schule geht. Sie ist auch schon groß, sie ist fünf Jahre alt und geht in den Kindergarten. Eigentlich heißt sie auch Alexandra und nicht Lexi.
„Mein Schaf ist wohl blau“, murmelt sie noch, bevor sie auch schon eingeschlafen ist. Mama macht das Licht aus und geht zu Papa ins Wohnzimmer.
Papa und Mama liegen auf der Couch und schauen sich den Krimi im Fernsehen an. Mama ist bereits eingenickt. Da kommt Konrad über den Flur ins Wohnzimmer getapst. Er bleibt in der Wohnzimmertür stehen, mit Bruno, seinem Teddy im Arm. Erst als Papa hoch guckt, sieht er Konrad.
„Konrad? Was machst du denn noch hier? Ab ins Bett, es ist schon spät.“ Da merkt er, dass etwas nicht stimmt. Er legt Mamas Kopf vorsichtig auf die Couch, steht auf und geht zu ihm.
„Was ist denn los?“, fragt er.
„Ich kann nicht schlafen“, jammert Konrad. „Ich will ja, aber es geht nicht.“
Konrad schaut auf den Boden und schaukelt Bruno hin und her. Er kann nicht schlafen, weil Tobi ihm heute seinen Kakao weggenommen hat und er nicht möchte, dass es morgen wieder passiert. Aber das will er Papa nicht sagen. Außerdem schreiben sie morgen in der Schule ein Diktat, und er weiß nicht, ob er alle Wörter richtig schreiben kann. Das will er Papa erst Recht nicht sagen.
„Komm, ich bring dich ins Bett“, schlägt Papa vor und wuschelt ihm durch die Haare. Sie gehen zurück ins Kinderzimmer.
„Und jetzt denkst du einfach an etwas Schönes. An den Urlaub mit Oma und Opa zum Beispiel, oder an das Sportfest nächste Woche. Dann schläfst du bestimmt gleich ein.“
Das glaubt Konrad nicht. Und wenn er an das Sportfest denkt, fürchtet er sich nur davor, dass er langsamer rennen wird als Michael und die anderen. Trotzdem lässt er sich von Papa ins Bett bringen. Lexi schnarcht ganz leise und Konrad versucht, an etwas Schönes zu denken. Irgendwann schläft er ein.
Auch die nächsten Nächte kann Konrad nicht schlafen, am Mittwoch nicht und am Donnerstag nicht. Konrad kann nicht einschlafen, weil er Angst vor dem Zahnarzt hat, der am Freitag in die Schule kommen wird und weil er ständig an Onkel Fred denken muss, der im Krankenhaus liegt. Aber das erzählt er niemandem. Manchmal sieht er richtig traurig aus, er redet kaum noch mit Lexi und noch nicht einmal das Fußballspielen mit Papa macht ihm Spaß.
Am Samstag Morgen fährt Papa ganz früh in den Baumarkt, um die Tapete, Kleister und viel bunte Farbe einzukaufen. Mama geht mit Lexi und Konrad ins Schwimmbad, während Papa und Opa tapezieren. Dafür brauchen sie ihre Ruhe. Als die drei nach Hause kommen, sitzt Papa bereits ganz erschöpft auf der Couch.
„Malen wir jetzt?“, fragt Lexi und klettert auf Papas Schoß.
„Morgen, mein Schatz, morgen. Der Kleister muss erst trocknen“, antwortet Papa müde.
Nach dem Abendessen gehen Lexi und Konrad schlafen. Mama und Papa haben sich schon längst hingelegt, als Konrad immer noch wach ist und darüber nachdenkt, wie traurig er wäre, wenn niemand zu seinem achten Geburtstag nächsten Monat kommen würde.
„Jetzt geht es los“, sagt Papa am nächsten Morgen nach dem Frühstück und ruft Mama, Lexi und Konrad ins Kinderzimmer. Papa sitzt auf Konrads Bett, auf dem Kopf hat er einen Hut aus Zeitungspapier, neben ihm liegen noch drei davon.
„Ich male ganz viele gruselige Monster“, stellt Konrad fest und will sich einen Pinsel nehmen. „Keine Monster“, jammert Lexi und klammert sich an Mamas Hand.
„Nein, wir malen keine Monster. Wir fangen auch noch nicht an. Setzt euch mal zu mir“, sagt Mama und klopft mit der Hand auf Konrads Bettdecke.
„Ich will jetzt malen“, meckert Konrad, aber er merkt schnell, dass es nicht losgeht, bevor er Mama nicht zugehört hat.
Mama legt die Arme um Lexi und Konrad, Papa sieht sie gespannt an.
„Wir malen einen großen Heißluftballon.“
„Warum das denn?“, fragt Konrad und stampft wütend mit dem rechten Bein auf den Boden.
„Was ist das? Ich will ein Schaf malen“, murmelt Lexi.
Papa guckt Mama neugierig an. Was hat sie sich da nur ausgedacht?
„Mit einem Heißluftballon kann man über die Häuser fliegen“, erklärt er Lexi.
„Genau“, sagt Mama. „Das müssen wir irgendwann mal zusammen ausprobieren. Wenn man in einem Heißluftballon fliegt, sieht von da oben alles ganz klein aus, die Häuser, die Menschen, alles was hier auf der Erde ist.“
„Und warum malen wir so ein Ding?“, nörgelt Konrad.
„Weil das euer Traumballon wird“, erklärt Mama, „damit ihr jede Nacht gut schlafen könnt.“
„So ein Blödsinn“, sagt Konrad und dreht den Zeitungshut in seinen Händen.
„Das ist überhaupt kein Blödsinn, das wirst du gleich sehen“, antwortet Mama. „So ein Heißluftballon an der Wand ist nämlich unheimlich praktisch. Jeden Abend zur Schlafenszeit steigt er in den Himmel und nimmt alles mit, was den Tag über passiert ist.“
„Er fliegt weg von der Tapete?“, fragt Lexi mit offenem Mund.
„Quatsch, natürlich nicht, bist du dumm“, antwortet Konrad.
„Deine Schwester ist nicht dumm, sondern ganz schön schlau. Im Prinzip fliegt er wirklich jede Nacht davon, aber er kehrt immer wieder zurück. Nur - er fliegt nicht leer weg. Er nimmt all das mit, was am Tag geschehen ist. Alles Schöne, aber auch alles Traurige und Ärgerliche. Das lässt er im großen Meer fallen und ist morgens leer wieder zurück. Und weil der Ballon jeden Abend alles aus euren Gedanken mitnimmt, könnt ihr wunderbar einschlafen.“
„Ich kann immer einschlafen“, sagt Lexi. Konrad sagt gar nichts.
Jetzt hat Papa verstanden, was Mama vorhat. Manchmal hat Mama so richtig gute Ideen. Papa gibt ihr einen Kuss.
„Das können wir heute Abend direkt ausprobieren. Aber jetzt geht’s erstmal mit dem Malen los“, sagt Mama und fängt an, mit einem Bleistift den Heißluftballon an die Wand zu zeichnen. Papa hofft ganz stark, dass es funktionieren wird. Weil er am größten ist, malt er den Himmel. Lexi stellt sich auf einen Stuhl und malt ein paar Wolken, Konrad traut sich auf die Leiter und malt den Heißluftballon aus. Er hat schlechte Laune, weil er keine Monster malen darf. Aber ob er heute Nacht wirklich wieder gut schlafen kann?
Mittags bestellen Mama, Papa, Lexi und Konrad Pizza, weil sie keine Zeit zum Kochen haben. Die große Wand soll schließlich bis abends fertig werden. Den Ballon kann man bereits richtig gut erkennen, auch ein paar Blumen hat Lexi bereits direkt am Boden gemalt. Papa hat bunte Striche im Gesicht, bei Mama klebt Farbe in den Haaren, Konrad hat sein altes Hemd bemalt und Lexi hat mit der grünen Farbe auf den Boden gekleckert, auf den Papa zum Glück vorher Zeitungspapier ausgelegt hat. Alle haben großen Spaß, und Konrad hat längst vergessen, dass er eigentlich sauer sein wollte. Als es draußen schon dunkel wird, ist die Wand endlich fertig. Der Heißluftballon sieht mit seinen roten, gelben, blauen und grünen Streifen ganz toll aus, um ihn herum ist eine richtige Landschaft und ein großer Himmel entstanden. Mama, Papa, Konrad und Lexi stehen begeistert vor der Wand und freuen sich, dass sie endlich wieder schön aussieht.
Als Konrad und Lexi keine Farbe mehr im Gesicht und an den Händen und ihre Brote gegessen haben, ist es schon richtig spät. Lexi kann es gar nicht erwarten, endlich ins Bett zu gehen und den Traumballon auszuprobieren. Ungeduldig hüpft sie in ihrem Nachthemd durch das Wohnzimmer. Konrad trödelt im Badezimmer beim Zähneputzen, er kann nicht glauben, dass der Ballon wirklich funktioniert. Als Lexi und Konrad schließlich im Bett liegen und Mama und Papa ins Kinderzimmer kommen, sind sie alle vier ein bisschen aufgeregt.
„Wer mag den Ballon zuerst ausprobieren?“, fragt Papa.
„Ich, ich“, ruft Lexi, und Konrad hat überhaupt nichts dagegen.
„Also, mein Schatz: Was hast du heute erlebt, was du dem Ballon mit auf die Reise geben möchtest? Irgendetwas, was raus aus deinem Kopf will?“, scherzt Papa und zieht Lexi ganz leicht an den Haaren. Lexi kichert und überlegt.
„Heute war alles schön“, sagt sie. „Malen ist lustig. Aber“, überlegt sie dann, „Freitag im Kindergarten war es doof.“
„Warum denn das?“, wundert sich Mama, die auf Konrads Bettkante sitzt. Davon hatte Lexi noch gar nichts erzählt.
„Stefan hat immer an meinen Zöpfen gezogen, das hat richtig wehgetan. Da hab ich einfach sein Bild mit der Schere zerschnitten.“
Etwas ängstlich schaut Lexi zu Mama und Papa.
„Ich weiß, das war blöd“, sagt sie dann schnell, bevor die beiden etwas sagen können.
„Da hast du Recht, Lexi, das war wirklich blöd von dir“, sagt schließlich Papa. „Vielleicht kannst du morgen besonders nett zu Stefan sein? Ihm vielleicht irgendetwas schenken?“
Lexi nickt ganz schnell.
„Ja, das mache ich.“ Sie ist erleichtert, dass Mama und Papa nicht geschimpft haben.
„Alles klar. Dann ab in den Ballon mit Stefan und dem Bild“, sagt Mama, formt in der Luft eine Kugel und wirft sie in Richtung Tapete. Papa und Lexi lachen. Konrad sitzt ganz gerade in seinem Bett und schaut die anderen mit großen Augen an. Lexi hat tatsächlich keinen Ärger bekommen.
„Jetzt du Konrad“, sagt Papa von Lexis Bett aus. „Was soll der Ballon heute Nacht mitnehmen, damit du gleich gut schlafen kannst?“
Konrad fallen sofort ganz viele Dinge ein, aber er schafft es einfach nicht, sie auszusprechen. Was, wenn Lexi lacht? Oder Papa?
„Nichts“, brummt er, legt sich hin und zieht die Decke über den Kopf. Mama streichelt Konrad über den Rücken, alle sind ganz still.
„Okay“, sagt Mama dann, „du hast natürlich Recht. Du brauchst uns nicht erzählen, was der Ballon von dir mitnimmt.“ Konrads Kopf bewegt sich ganz leicht unter der Decke.
„Er funktioniert trotzdem, weißt du? Du musst einfach an all das denken, was du loswerden möchtest.“
Mama und Papa wissen nicht, ob Konrad seine Sorgen dem Ballon mitgibt, aber sie drücken ganz kräftig die Daumen. Und Konrad linst unter der Bettdecke hervor und denkt richtig fest an Onkel Fred, seinen Geburtstag und das Sportfest.
„Wenn du dann soweit bist, alles zusammenschnüren, in den Ballon packen und ab in den Himmel damit“, sagt Papa. Konrad nickt ganz leicht unter der Decke. Lexi starrt an die Wand. „Der Ballon ist noch da“, sagt sie dann enttäuscht.
„Ja, natürlich“, schmunzelt Mama, „er fliegt erst los, wenn ihr eure Augen zu gemacht habt.“
Das macht Lexi dann ganz schnell, auch Konrad versucht zu schlafen und Mama und Papa gehen aus dem Zimmer.
Am nächsten Morgen ist Konrad so gut gelaunt, dass Mama und Papa ihn gar nicht fragen brauchen, ob er gut geschlafen hat. Erleichtert strahlen sie sich an. Der Traumballon hat tatsächlich gewirkt.
Als Konrad mittags aus der Schule kommt, singt er leise vor sich hin. Es ist bisher ein schöner Tag für ihn gewesen. Beim Weitsprung in der Sportstunde war er gar nicht so schlecht und in der Pause hat er mit den anderen Fußball gespielt. Kein Wunder, er war ja schließlich auch ausgeschlafen. Nur im Diktat, das Frau Franke ihnen zurückgegeben hat, da waren wirklich viele Fehler drin. Konrad hat sich bereits in der Schule überlegt, Mama und Papa abends davon zu erzählen und es dem Traumballon mitzugeben. Das mit dem Sportfest will er ihnen auch sagen. Lexi hatte ja gestern auch keinen Ärger bekommen, außerdem würde Papa dann vielleicht mit ihm üben und sogar mit ihm auf dem Sportplatz für das Sportfest trainieren, ganz alleine, ohne Mama und Lexi. Nur, dass Konrad nicht weiß, wie er Laura zu seinem Geburtstag einladen soll, das will er Mama und Papa nicht erzählen.
„Der Ballon wird trotzdem dafür sorgen, dass ich heute gut schlafen kann“, denkt sich Konrad und hüpft auf einem Bein die Straße nach Hause entlang.
Als Konrad an der Tür klingelt und Mama ihn hereinlässt, malt Lexi im Kinderzimmer heimlich ein blaues Schaf auf die Blumenwiese.