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Konrad und das tropfende Dach
Karlotta Knesebeck schaute auf die Uhr. Es war bereits Zwanzig vor acht am Abend. In 20 Minuten fing ihre Spätschicht an. Vor 2 Jahren war ihr Mann Knut über Nacht spurlos verschwunden. Seitdem arbeitete sie in zwei Jobs, um ihre Rechnungen bezahlen zu können. “Konrad, bist du schon bettfertig?” rief sie und zog hastig ihren Mantel an. Konrad war ihr 9 jähriger Sohn. Karlotta wollte am liebsten nach oben gehen und Konrad eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen. Aber es war viel zu spät dafür. In letzter Zeit war sie mehrfach zu spät auf der Arbeit erschienen. Karlotta öffnete die Haustür und rief hinter sich her: “Schlaf gut, mein Schatz! Und mach nicht mehr so lange!”
Im ersten Stock des Hauses saß Konrad nachdenklich auf seinem Bett. Er hatte gehört, wie seine Mutter sich verabschiedet und das Haus verlassen hatte. Aber er war viel zu sehr in Gedanken versunken, um ihr antworten zu können. Konrad dachte über die wichtigste Erfindung der Menschheit nach. Konrad war ein Erfinder. Er war überzeugt, eines Tages jedes Problem auf der Welt gelöst zu haben. Genau davon hatte auch sein Vater geträumt. Und sein Opa und sein Ur-Opa. An der Wand von Konrads Schreibtisch klebten zahllose Fotos und Zeitungsartikel von den Erfindungen all seiner Vorfahren. Zum Beispiel erfand sein Ur-Opa Karl Knesebeck das erste Fahrrad mit runden Rädern. Vorher gab es nur welche mit eckigen Rädern, hatte Papa ihm erzählt. Daneben klebte ein uralter Zeitungsartikel von seinem Opa Klaus Knesebeck mit einem komischen blinkenden Hut auf dem Kopf. Der Hut zeigte durch verschiedene Farben an, in welcher Laune ein Mensch gerade war. Auf dem Foto blinkte der Hut in lila und orange. Konrad war sicher, dass das ein Zeichen für gute Laune war. Welche Laune sollte es auch sonst gewesen sein, wenn man gerade für die Zeitung fotografiert wurde?
Seine eigene Laune war aber momentan aber alles andere als lila und orange. Seit Tagen grübelte Konrad darüber nach, welche Erfindung ihn wohl in die Zeitung bringen würde. “Platsch” hörte er wieder hinter sich. Das nervige Platschen lenkte ihn ständig ab. Auf seinem Kopfkissen stand ein blauer Plastikeimer. Über dem Eimer bildete sich langsam ein weiterer Wassertropfen, der ebenfalls platschend in den Eimer fiel. Auf seinem Nachttisch daneben lag ein gelber Regenhut. Der Regenhut sah aus wie ein Fischerhut. “Ich glaube, heute wird das nichts mehr mit meiner Erfindung. Ich gehe lieber ins Bett”, sagte Konrad und setzte den gelben Regenhut auf. Er stellte den Plastikeimer auf den Boden und legte sich in sein Bett. “Es könnte das gemütlichste Bett der Welt sein, wenn da nur nicht dieses Loch im Dach wäre!”. Und schon platschte der nächste Tropfen von der Decke hinab. Dieses Mal traf es nicht den Eimer, sondern Konrads Kopf (besser gesagt den Regenhut). “Platsch” war das Einzige, an was er jetzt noch denken konnte. “Noch ein Platsch und ich werde ich wahnsinnig!”, sagte Konrad und richtete sich im Bett auf. “Oh, Moment, mein Kissen.” Er warf seinen Regenhut auf das Kissen, damit der nächste Platsch es nicht erwischen konnte. Konrad beschloss, das Platschen zu beenden. Bestand darin nicht eh sein Ziel? Jedes Problem der Welt zu lösen? Ein undichtes Haus war definitiv ein Problem.
Seiner Mama hatte Konrad bisher nichts von dem Loch im Dach erzählt. Er wusste, dass sie sich eine Reparatur eh nicht leisten konnte. Damit Mama sich nicht schlecht fühlte deswegen, behielt er das Problem lieber für sich.
Zum Glück arbeite Mama neuerdings auch am Abend. Denn so konnte Konrad sich frei im Haus bewegen, auch in den verbotenen Bereichen. Die verbotenen Bereiche des Hauses waren so ziemlich alles außer den beiden Schlafzimmern, dem Badezimmer, Wohnzimmer und Küche. Alle anderen Räume, der Keller, die Garage, die Gartenlaube, ja selbst der Garten, waren von Papa für seine Experimente benutzt worden. Alles war vollgestellt mit irgendwelchen Geräten, Materialien, Büchern, Notizen, Werkzeugen und wer weiß was noch alles. Mama hatte Konrad verboten irgendwas davon auch nur anzufassen. Sie hatte Angst davor, dass Konrad genauso ein verrückter Erfinder wie sein Vater und dessen Vater und dessen Vater werden könnte. Noch mehr befürchtete sie, dass Konrad ebenfalls eines Tages bei einem Experiment verschwinden würde (von der Mini-Explosion im Keller vor 3 Wochen ganz zu schweigen).
Konrad guckte auf die Uhr, es war halb neun. “Noch 4 Stunden Zeit das Dach zu reparieren, bis Mama wieder da ist. Nichts leichter als das!” Er zog seinen Helm mit der Kopfleuchte auf. Auf dem Weg in die Garage überlegte er, was er alles bräuchte. Irgendwie musste er auf das Dach kommen. Und irgendwie musste er das Loch stopfen. In der Garage leuchtete Konrad mit seiner Kopfleuchte umher. Neben der großen Leiter standen 2 Pümpel. “Das ist es!”, schnellte es aus Konrad hervor. “Die Pümpel klebe ich mir irgendwie an die Füße und laufe einfach die Wand hoch. Und zum Thema kleben fällt mir auch direkt etwas ein!” Er ging zurück ins Haus, dieses Mal Richtung Kellertür. Im Keller hatte er vor einiger Zeit einen Kanister mit einer grünen glibberigen Flüssigkeit gefunden. Auf dem Etikett stand in Großbuchstaben “SUKLEGLIB”. Darunter war ein schwarz-gelbes Warndreieck aufgemalt mit dem Hinweistext “Super-Klebriger Glibber. Sehr glibberig und sehr klebrig.” Konrad suchte schon lange nach einem Grund, dieses Zeug auszuprobieren.
Sein ganzes Material schleppte er nach draußen, auf die Rückseite des Hauses. Von den beiden Pümpeln zog er die Holzstiele heraus und klebte die Saugglocken mit Panzerband unter seine Hausschuhe. Die Ränder der Saugglocken schmierte er ein bisschen mit Sukleglib ein. Zum Testen setzte er einen Fuß an die Hauswand. Es funktionierte, sein Fuß klebte an der Wand! Mit dem Sukleglib-Kanister unter dem Arm wanderte Konrad die Wand hoch, bis er auf dem Dach angekommen war. Auf dem Dach fand er dank seiner Kopflampe schnell das Loch über seinem Zimmer. Er öffnete den Kanister und schüttete einen extra-großen Tropfen grünen Glibber auf das Loch. Der Tropfen war wohl ein bisschen zu extra-groß. Der Sukleglib floß langsam am Dach herunter. Konrad wollte zur Seite treten, aber seine Füße rührten sich nicht mehr. Der Glibber unter seinen Saugglocken war bereits getrocknet. Vor Schreck verlor Konrad das Gleichgewicht und fiel auf das Dach. Der Kanister landete ebenfalls auf dem Dach. Der komplette Glibber floß jetzt in Zeitlupe das Dach herunter und riss Konrad mit. Das Zeug war so zähflüssig, dass es eine Stunde dauerte, bis Konrad den Rand vom Dach erreicht hatte. Jetzt hing er kopfüber an der Hauswand und floß im Schneckentempo nach unten. Was würde Mama denken, wenn sie von der Arbeit nach Hause käme und ihr Sohn hätte sich selbst kopfüber ans Haus geklebt? Zum Glück stoppte der Fluss nicht. Zwei Stunden später war Konrad endlich am Boden angekommen. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig zurück in sein Zimmer, bevor er Mamas Auto in der Einfahrt hörte. Problem Nummer 1 in Konrads Welt war gelöst: Das Dach war repariert. Und den grünen Glibber an der Hauswand würde Mama hoffentlich nicht bemerken…