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Komplizen
Seine Sicht wurde klarer, je länger er ihn anstarrte.
Als er soweit war, jede einzelne Pore auf seinem Gesicht zählen zu können, trat er ein Stück nach hinten zurück, denn diese Nähe war ihm doch zu unangenehm.
Beide wichen nicht dem Blick des jeweils anderen aus, sie stierten sich an. Beide nass, beide blass, beide blutgetränkt und sichtlich gekränkt.
"Musste es denn so weit kommen?", fragte er sein Gegenüber schließlich. Es sah einen Moment so aus, als wollte der etwas erwidern, denn seine Lippen bewegten sich, aber es kam kein Ton heraus. Beschämt senkte er seinen Kopf und schloss die Augen. Was hätte er denn sagen können?
Die Sonnenstrahlen fielen von hinten auf seinen Haarschopf. Er wurde im Licht heller und er sah, wie sein Haaransatz golden strahlte. Er lachte. Es passte nicht.
"Was wirst du jetzt machen?", fragte er ihn diesmal.
Doch sein Gegenüber blieb wieder stumm, obwohl es so aussah, als ob er was sagen wollte. Wieder wich er seinem Blick aus.
Die Uhr tickte und, hörte nicht auf. Sie hatte kein Erbarmen, setzte beide Männer immer weiter unter Druck. Man hätte meinen können, dass man jede einzelne Verkrampfung unter der nackten Haut erkennen zu können. Beide Männer waren sich noch nie so nackt begegnet.
Er wusch die getrockneten Blutflecken auf seinem Handrücken ab und sah, als er aufblickte, dass der andere das ebenfalls getan hatte.
Ohne ihn aus den Augen zu lassen roch er an seinen Händen.
"Riecht immer noch", stellte sein Gegenüber fest.
Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Ihm war kalt. Das würde er sich merken, dass die Mischung aus Regen und Blut nicht gut riecht. Aber hoffentlich würde er nie wieder von diesem Wissen Gebrauch machen müssen.
"Wasch dir deine Hände nochmal. Der Geruch wird sicherlich verschwinden", riet ihm sein Gegenüber. Die Seife fühlte sich wie eine sanfte Berührung auf seinem Handrücken an. So hatte ihn immer seine Mutter berührt. Er durfte nicht weinen. Er durfte nicht die Sicht verlieren. Er durfte ihn nicht aus den Augen verlieren.
Das rote Shirt, das mal weiß war, und seine Jeans lagen zusammengeknüllt in der Ecke vom Badezimmer. Es waren Beweise. Sie mussten vernichtet werden.
"Aber meine Hände riechen immer noch. Immer noch. Riech doch. Sie riechen."
Der andere roch nicht an den Händen, die er ihm entgegengestreckte. Stattdessen spiegelten seine Augen die gleiche Verwirrung wieder, die er im selben Moment empfand, als er an seinen Händen schnüffelte.
Seine Mutter hatte an ihn geglaubt. Sie hatte ihn wahrgenommen. In ihren Augen war er unersetzlich. In der Fabrik aber von den Maschinen kaum zu unterscheiden.
Nein! Seine Augen wurden feucht. Er biss sich auf die Zunge und schmeckte Blut. Als er seinen Mund öffnete, tropfte es auf seine nackten Zehen.
"Was soll ich jetzt tun? Du hast mich in diese Angelegenheit verwickelt."
Der andere antwortete mit einem vorwurfsvollen Blick.
"Okay, ich habe die Waffe besorgt. Aber du hast gedrückt. Du hast ohne zu blinzeln einfach abgedrückt. Woher hätte ich wissen können, dass du es ernst meintest? Ich bin unschuldig. Ich bin das Opfer meiner Umstände. Ich brauchte das Geld."
Bei jedem Wort verwandelte sich das Lächeln auf seinem Gesicht mehr eine Grimasse. Der Spott in seinem Blick war nicht zu verkennen.
Endlich brach er sein Schweigen :
"Für dich ist die Welt nur schwarz und weiß, oder? Schuldig und unschuldig. Täter oder Opfer. Mach dir nichts vor. Wir beide sitzen im gleichen Boot. Wir sind beide Komplizen, du und ich."
"Nein, du hast abgedrückt. Du warst es. Aber deine Hände riechen nicht."
"Meinetwegen. Meinetwegen kann ich der Täter sein. Ich dachte du könntest wenigstens ehrlich sein. Wenigstens zu dir selbst."
Risperidon. So hieß das Gift, was seine Mutter ihm jeden Tag zu verabreichen versuchte. Seine Mutter dachte, dass er verrückt sei. Sie hatte ihren Glauben in ihn verloren. Hinter geschlossenen Türen redete sie über ihn, als sei er ein Fremder. Weil er ein Nichtsnutz war und unendlich elend, wollte sie ihn loswerden.
Das hätte sie nicht tun dürfen. Er hätte das Spielchen mit den "Medikamenten" aufrechterhalten können, hätte weiterhin lügen können aber er hätte niemals dieses Haus, den einzigen Ort, wo er er selbst war, für eine Anstalt verlassen können. Ein Leben lang.
"Meinetwegen kann ich der Täter sein, aber du bist kein Opfer. Vergiss das nicht. Während du nach Blut riechst, werde ich keine Spuren hinterlassen. Ich werde dich ein ganzes Leben lang verfolgen. Im Fenster, im Teich, im dunklen Display von deinem Handy werde ich dich anstarren und du wirst immer derjenige sein, der den Blick senken wird. Weil ich dich an diesen Tag erinnern werde und weil ich ein Geheimnis kenne, was uns für immer verbinden wird. Wie ein Schatten werde ich dir folgen und du wirst mich nicht zertreten können, obwohl ich dir so nah bin."
"Es reicht!"
Ein lauter Knall und tausende Splitter auf seiner Faust. Frisches Blut.
"Es reicht!"
Er weinte, ging auf seine Knie und hielt sich am Becken fest, weil er drohte, umzukippen.
Langsam, als er wieder zu sich kam, kroch er zu dem Kleiderhaufen, hob sein einstmal weißes T-Shirt auf und fasste die kalte Hand, die es verdeckt hatte.
"Es tut mir leid, Mama. Es tut mir leid."