Kompensierung
Als Viona aufwachte spürte sie noch immer den stechenden, aber ihr wohlbekannten Schmerz. Sie hatte sich daran gewöhnt. Viona kroch aus ihrem alten quietschenden Bett und stapfte mit halbgeschlossenen Augen über ihre Klamotten, die auf dem Boden verteilt lagen, ins Badezimmer. Samstag. Schulfrei. Während sie ihre Zähne putzte betrachtete sie sich im Spiegel. Sie fragte sich, ob sie wirklich die Gestalt war, die ihr da gegenüberstand und als sie ihre verfilzten Haare nach hinten kämmte, musste sie unweigerlich an Blondinenwitze denken. Manchmal trafen sie wohl wirklich zu, dachte sie und wandte sich vom Spiegel ab. Von unten hörte sie die Stimmen von Horst und Andrea, die wohl schon am Frühstückstisch saßen. Viona zog sich ihren BH über ihre kleinen Brüste, schnappte sich den Bademantel und begab sich nach unten.
„Na Vini, ausgeschlafen ?“, begrüßte ihre Mutter sie, gefolgt von Vaters
„Morgen Hasi.“, wie er sie immer nannte.
„Müsst ihr morgens immer so fröhlich sein ?“, antwortete Viona, rieb sich die Augen und griff nach einem Brötchen. Ihre Eltern sahen sich an.
„Warst du noch lange unterwegs gestern ?“ Viona sah ihre Mutter nur kurz an und zuckte mit den Achseln. Horst starrte aus dem Fenster und suchte in dem vielen Grün einen Punkt, an dem er sich festsehen konnte. Als Viona mit hastigen Bewegungen ihr Brötchen halbierte, setzte Andrea nach.
„Du kannst mir ruhig erzählen, was...“
„Ach Mama, ich bin keine zwölf mehr !“, unterbrach Viona ihre Mutter kopfschüttelnd und klatschte die Butter auf ihr Brötchen.
„Stimmt, mit fünfzehn ist man reif genug um sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, ich vergaß Madame...“
Viona streckte mit geschlossenen Augen ihren Rücken und atmete tief durch.
„Was ist nur mit dir los Viona ?“, bohrte ihre Mutter nach, während Horst noch immer in die Ferne blickte und an seinem Zeigefinger knabberte.
„Dein Deutsch-Lehrer hat gestern wieder angerufen und...Horst! Kannst Du dich nicht auch mal dazu äußern ? Es geht hier schließlich...“
„Mama !“ keifte Viona und schmiss ihr Brotmesser auf den Boden. Horst stand ohne ein Wort zu sagen auf und ging ins Wohnzimmer, gefolgt von den besorgten Blicken seiner Frau, die unruhig mit ihren Fingern spielte. Andrea mochte Mettbrötchen.
An diesem Morgen biss sie nur einmal ab.
Viona lag in ihrem Bett und starrte an die Decke. Sie drehte sich auf die Seite und lauschte der Musik der Vögel, während in unregelmäßigen Abständen der Atem des Windes über ihren nackten Körper glitt. Die Zimmertür öffnete sich. Sie schloss die Augen und merkte wie eine Träne über ihre Nase lief. Viona lief über einen großen, wiesebedeckten Hügel. Es war so angenehm warm und kleine Wölkchen zierten den strahlend blauen Himmel. Sie rannte barfuß den Hügel hinauf, an dessen höchstem Punkt ein kleiner Apfelbaum stand. Ihr weißes Sommerkleid tanzte unter den leichten Windböen. Sie sah den Mann, der sich mit verschränkten Armen an den Baum anlehnte und in den Himmel sah. Er bemerkte Viona und sie sprang ihm in die ausgebreiteten Arme, die sie sogleich umschlossen. Sie fielen in das weiche Gras, und der blumige Duft umgab sie. Augen begegneten sich. Sie küssten sich. Der Mann streichelte ihre Waden und seine Hand glitt immer höher, so hauchzart, dass es ihr eine Gänsehaut bescherte. Sie spürte seine Erregung und zitterte, als er in sie eindrang.
Die Zimmertür stand noch offen, als sie am späten Nachmittag aufwachte. Der Schmerz war wieder da, er ließ sie nicht los. Er begann zwei Jahre zuvor und war seitdem ein treuer Gefährte von Viona. Er nistete sich bei ihr ein, verschmolz mit ihr, war ein Teil von ihr. Er war wie eine Zecke, die man nicht loswurde, dachte Viona. Sie kratzte sich an ihren Beinen und Armen, bis rote Striemen erschienen. Sie stand auf, schüttelte ihr Kissen aus und betrachtete das Küchenmesser. Sie hob es schon seit längerer Zeit unter ihrem Kopfkissen auf. Viona zögerte kurz und ließ das scharfe Metall unter ihrer Matratze verschwinden. Sie verließ ihr Zimmer.
Horst hatte Spätdienst und Andrea saß wie jeden Abend im Wohnzimmer und löste Kreuzworträtsel. Viona setzte sich auf den schwarzen Ledersessel. Die Ruhe war ihr unangenehm und sie schaltete den Fernseher an. Sie starrte auf den Bildschirm, aber eigentlich interessierte, was sie sah. Sie hatte das Gefühl, als ob ihre Mutter sie beobachten würde.
„Wir müssen Reden Vini“, vernahm Viona auch sogleich, ignorierte es jedoch. Andrea stand auf und schaltete den Fernseher aus. Nur das Ticken der Wanduhr war noch zu hören. Viona wartete darauf, dass ihre Mutter endlich beginnen würde, ihr endlich sagen würde, dass es so nicht weiter gehen könne, dass sie sich Sorgen um die Schule mache, und dass das Taschengeld gekürzt werde, wenn sie sich nicht ändert. Aber Andrea sagte nichts, starrte sie bloß mit großen Augen an. Erst jetzt bemerkte Viona die geröteten Augen und die verlaufene Schminke in Andreas blassem Gesicht. Viona saß einer Frau gegenüber, die binnen weniger Stunden um Jahre gealtert war. Diese Erscheinung, das Bild ihrer starken Mutter, die immer über den Dingen stand und nun zerbrochen war, machte ihr Angst. Es erschütterte sie.
„Mama, das mit der Schule...“, fing Viona zögerlich an, bevor sie von Andrea unterbrochen wurde.
„Ja, das mit der Schule ist schlecht, aber das biegen wir ganz bestimmt wieder hin. Das machen wir schon.“
Andrea versuchte zu lächeln, aber es war eher eine Grimasse. Die Schule scheint sie gar nicht zu interessieren, dachte Viona. Es musste etwas passiert sein, aber worauf wollte ihre Mutter hinaus ? Viona rutschte auf dem Sessel hin und her und vermied jeden Augenkontakt mit ihrer Mutter.
„Weißt du Viona,“, begann Andrea und griff nach einem Taschentuch,“
ich wusste es nicht, habe es nie gemerkt. Horst hat mir heute gesagt und ich weiß nicht wie ich...“.
Andrea sah auf den Boden, als ob sie dort nach Wörtern suchen würde. Was hatte ihr Vater plötzlich mit Andreas Zustand zu tun, fragte sich Viona. Wusste Andrea vielleicht über Dinge bescheid, die für sie längst Gewissheit waren ? Die Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie überlegte, ob sie nicht einfach aufstehen und rausgehen sollte, aber sie tat etwas, was für sie untypisch war. Sie setzte sich neben ihre Mutter auf die Couch, legte einen Arm um sie und streichelte sanft ihre Schulter.
Andrea ergriff Vionas Hand, sah kurz auf und wandte den Blick schnell wieder ab.
„Ich weiß es, Viona, ich weiß es.“, flüstere sie und drückte Vionas Hand so fest, das es ihr Schmerzen bereitete.
„Nein Mama...“, schluchzte Viona.
„Es wird nie wieder so sein wie früher, das kann es nicht, aber er ist krank.“, fuhr ihre Mutter fort und ihre Hand lockerte sich ein wenig.
„Mein Gott, zwei Jahre schon...Er wird das nie wieder tun. Er hat mir versprochen, dass er sich behandeln lässt. Er wird sich ändern. Dein Vater ist kein schlechter Mensch, nein, das ist er nicht...“, stotterte Andrea, aber Viona schien es, als ob ihre Mutter selbst an ihren Worten zweifelte.
Viona sah aus dem Fenster.
Die Wanduhr tickte.
Die Sonne schien.
Der Schmerz war da.
Es war spät. Der Samstag neigte sich dem Ende zu. Vionas Mutter schlief bereits. Viona lag in ihrem Bett und lauschte dem Prasseln der Dusche. Ihr Vater duschte immer sehr lange. Sie drehte sich um und zog sich ihre Bettdecke bis über die Ohren, als der quietschende Duschhahn abgedreht wurde. Sie hatte den Eindruck ein Schluchzen zu hören, welches aus dem Bad kam. Das Wimmern verstummte. Jemand ging durch den Flur. Die Zimmertür öffnete sich. Viona schloss ihre Augen.
Sie lief barfuss den Hügel hinauf und genoss das angenehme Kribbeln der Wiese unter ihren Füßen. Sie trug wieder ihr Lieblingskleid, das Weiße. Als sie auf dem höchsten Punkt am Apfelbaum ankam begrüßte sie der frische, wohltuende Wind, der mit ihrem Haar spielte. Der Mann, der sie sonst mit offenen Armen empfangen hatte, war nicht dort. Sie vermisste auch den Duft der Blüten. Sie betrachtete die große Eiche auf der anderen Seite des Hügels und glaubte, eine Bewegung gesehen zu haben. Sie ging langsam auf die Eiche zu. Die angenehme Wärme war nicht mehr zu spüren. Wolken zogen auf. Sie war sich jetzt sicher, dass sie jemanden hinter der Eiche gesehen hatte. Das musste er sein, dachte sie. Sie zog ihr Kleid aus und verschwand kurz darauf hinter dem großen Baum. Augen begegneten sich. Sie küssten sich. Er streichelte sie am ganzen Körper, wie er es täglich getan hat, schon seit zwei Jahren. Sie zitterte als er in sie eindrang und sie verspürte einen starken Schmerz. Sie wollte sich von seiner Umklammerung befreien, aber er drückte sie nur noch fester. Sie schlug um sich. Es zeigte keine Wirkung. Der Mann begann zu stöhnen immer schneller. Sie suchte etwas, an dem sie sich festhalten konnte, um sich aus seiner Umklammerung herauszuziehen. Sie fand ein großes Metallstück und umklammerte es fest. Die Bewegungen des Mannes wurden immer schneller. Sein Körper bebte und er sagte gequält „Gleich, Hasi, gleich...“
Viona schlug mit dem Metallstück zu. Immer wieder. Das Stöhnen des Mannes verstummte. Es war ruhig. Viona bemerkte die Flüssigkeit, die an ihrem Bauch herunterlief.
Sie öffnete ihre Augen, immer noch nach Luft ringend. Mit weit aufgerissenen Augen flüsterte sie „Mama...“. Sie zitterte, ließ das Messer fallen und stand langsam auf. Sie sah auf ihr Bett und wollte nach ihrer Mutter rufen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Während sie sich rückwärts durch ihr Zimmer bewegte wich ihr Blick nicht von ihrem Bett ab. Horst lag nackt, mit offenem Mund und seltsam verrenkt in ihrem Bett und starrte an die Decke. Dünne Blutfäden rannen aus seinem Mundwinkel.