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Eine Geschichte im "Neu-Bielefeld-Universum". Wen das Worldbuilding überfordert, dem empfehle ich vorher "Wenn ihr das hier lest, ist es zu spät", zu lesen. :-)
Kommissar Zufall und die Pandamie
Montag
Dem Megafon entfuhr ein Quietschen, das in den Ohren schmerzte.
»Herr Sunderkamp, kommen Sie mit erhobenen Händen raus … und mit geschlossener Hose! Es ist vorbei!« Rainer Zufalls Stimme tönte blechern aus der Flüstertüte. Eine leichte Brise trug den Befehl des Kommissars über den kleinen Teich, am Ufer schreckte eine Entenfamilie aus dem Schilf auf.
Rainer senkte das Megafon und ließ den Geräteschuppen in weiter Entfernung am Hang nicht aus den Augen, seine Hand lag lose auf dem Griff der Dienstwaffe.
Nichts geschah. Stille senkte sich über den menschenleeren Stadtpark, abgesehen vom Gemurmel und Geschnatter hinter ihm.
Schulterblick. Die Menge an Gaffern hinter der simplen Absperrung aus Flatterband war beträchtlich gewachsen. Gereckte Hälse, grinsende Gesichter, gezückte Mobiltelefone.
In die Schaulustigen kam Bewegung, sie wandten sich ab und zeigten auf einen Punkt am Himmel, der rasch an Größe gewann. Als viele von ihnen das grüne Kostüm erkannten, brandete Applaus auf.
Greenkeeper schwebte an Rainers Seite herab und winkte den Passanten selbstbewusst zu, bei seiner Landung federte der Superheld leicht in den Knien: »Guten Morgen, Kommissar Zufall! Hätte nicht damit gerechnet, Sie hier zu sehen. Was haben wir?«
Rainer zeigte auf das Häuschen am Rande des Parks: »Erwin Sunderkamp, 57 Jahre alt und Frührentner. Auch bekannt als: Der Rasensprenger. Hat sich im Schuppen verschanzt und droht damit, die gesamte Grünfläche in die Luft zu jagen.«
»Sunderkamp …«, murmelte Greenkeeper, »ist das der, dessen Fäkalien ...«
»… explodieren, wenn er es will. Ja, das ist der Kerl«, bestätigte Rainer. Er zeigte auf die Parkanlage. »Glaubt man seiner Drohung, so hat er hier letzte Nacht, nach einem späten Abendessen aus Chili con Carne und mexikanischem Bier überall dicke Haufen verteilt.«
»Da kriegt der Begriff ›Scharfer Sprengsatz‹ eine ganz neue Bedeutung«, sagte Greenkeeper und holte ein kompaktes Fernglas aus dem Allzweckgürtel an seiner Hüfte. »Yep. Ich sehe die Haufen.« Er stieß einen anerkennenden Pfiff durch die Vorderzähne aus. »Mein lieber Scholli, wie viel Chili hat der Schurke denn verdrückt? Das muss ein neuer Weltrekord …«
›Plopp‹
Die Menschenmenge hinter ihnen stöhnte in kollektivem Verzücken auf.
Rainer sah über die Schulter. Alle Schaulustigen hatten sich abgewandt und schossen Fotos von einem ausgewachsenen Pandabären, der wenige Meter entfernt auf dem Fahrradweg saß.
»Was zum …« ›Plopp‹ Rainer wirbelte herum.
Mitten im Park war ein weiterer Panda aufgetaucht. Kleiner als der erste, doch eindeutig echt und lebendig. Greenkeeper hatte es nicht mitbekommen, er suchte noch immer mit dem Fernglas die sanft geschwungenen Grashänge nach explosiven Kothaufen ab. Der Bär auf der Wiese drehte den Kopf in Rainers Richtung.
Rainer blinzelte.
›Plopp‹ … ›Plopp‹ … ›Plopp‹ … ›Ploppploppploppploppplopp‹ Aus dem Nichts erschienen um sie herum eine Unzahl schwarzweißer Fellknäuel in der Luft, die Bären plumpsten aus geringer Höhe in den Park.
Die Gaffer jubelten. Sie ignorierten die Absperrung und liefen aufs Grün, den Tieren entgegen. Rainer hob das Megafon: »Hier spricht die Polizei, verlassen Sie umgehend das Gelände! Der Park ist nicht sicher, ich wiederhole …!«
Sie schenkten ihm keine Beachtung, strömten links und rechts an ihm vorbei. Einer der Schaulustigen, ein schnauzbärtiger Mann mit großem Sombrero, drehte sich im Laufen um, bildete aus Daumen und Zeigefinger eine ›Pistole‹ und ›schoss‹ auf Rainer. Der Schütze grinste hämisch, dann tauchte er wieder in der nach vorn drängenden Menge unter.
›… el parque no es seguro!«, endete Rainer seinen Satz auf Spanisch. Verdutzt senkte er das Megafon. »Hey!«, schrie er der Menschentraube zu, »No es divertido! Hay mierda explosiva por todas partes!« Wütend schleuderte er die Flüstertüte beiseite. »Puta Mierda!«
Greenkeeper schwebte empor. »Kommissar, das kommt mir Spanisch vor. Halten Sie die Leute zurück, ich kümmere mich um den Rasensprenger!«, rief er und flog in Richtung des Gerätehäuschens. Auf halber Strecke knallte die Tür des Schuppens mit Wucht nach außen und Erwin Sunderkamp taumelte ins Freie. Sein Schurkenkostüm war schlicht und zweifarbig. Auf der Brust prangte ein gelbes Dreieck, darin das stilisierte Warnzeichen für explosive Stoffe. Hinter dem Rentner machte Rainer einen fetten Panda im Halbdunkel des kleinen Gebäudes aus, der Lichteinfall ließ die Augen des Tieres aufleuchten.
Greenkeeper landete unsanft auf seinem Widersacher, verpasste ihm einen saftigen Schwinger ans Kinn und setzte ihn so außer Gefecht.
Rainer atmete durch. Gefahr gebannt. Sein Blick strich über die Passanten. Sie hatten sich im gesamten Park verteilt, streichelten die Bären, versuchten, sie mit Grashalmen zu füttern. Fast alle machten Selfies mit den Pandas, die Stimmung war ausgelassen. Rainer suchte die Menge nach einem großen Sombrero ab. Wo zum Teufel steckte dieser Pistolero?
Dienstag
»… sind wir zu der Erkenntnis gekommen, dass es sich bei den Pandas in unserer Stadt tatsächlich um den weltweiten Bestand aller noch lebenden Exemplare handelt. Es müssen mittlerweile so um die 1500 sein … und es werden stetig mehr«, schloss Der Polizeichef seine Ankündigung auf dem Podium.
Der Typ war nicht wirklich Chef der Polizei, er hatte sich selbst, wie so viele andere nach den Ereignissen rund um den Überflug des Kometen, dessen Staub vor zwei Jahren nahezu allen Bürgern in Neu-Bielefeld besondere Kräfte gebracht hatte, eine ›Super-Identität‹ verliehen. Sein Polizeikostüm sah aus, als hätte er es einem Stripper geklaut.
»Ich habe eine Frage!«, rief Investigativo. Der Superheld im Trenchcoat saß in der vordersten Reihe der spontan anberaumten Pressekonferenz und hatte seinen Arm zum Handzeichen erhoben.
»Ja?«
»Woher kommen die Bären?«
Das Gemurmel im Raum verstummte, sämtliche Blicke richteten sich aufs Rednerpult.
»Tja … ähm … also, ehrlich gesagt, wir wissen es noch nicht. Aber …«
»Eine Quelle von mir behauptet, dass die Chinesen dahinterstecken. Offenbar gab es einen Unfall in einem Geheimlabor, der dazu geführt hat, dass ...«
»Wer ist Ihre Quelle?«, fragte Der Polizeichef barsch.
»Er … möchte unerkannt bleiben. Nennen wir ihn einfach … Den Querdenker …«
Zahlreiche Stimmen plapperten durcheinander, unter den anwesenden Pressevertretern entbrannte eine hitzige Diskussion über den Wahrheitsgehalt dieser Theorie.
Rainer seufzte. Er lehnte an der Eingangstür des Konferenzraums und kämpfte den anschwellenden Kopfschmerz nieder.
»… das alles bringt uns nicht weiter«, beendete Der Polizeichef die Debatte, »Es ist doch völlig egal, wo die Viecher herkommen. Wichtig ist, dass sie wieder verschwinden. Und zwar auf ›Nimmerwiedersehen‹! Daher habe ich beschlossen, in Übereinstimmung mit dem Zoowärter eine Super-Sonderkommission ins Leben zu rufen, die sich dem Problem annehmen und dafür sorgen wird, dass die Bären schon bald nicht mehr da sind.«
»Wie ist der Name dieser Task Force?«, fragte Investigativo.
Der Polizeichef beugte sich nah an das Mikrofon heran und lächelte selbstbewusst: »SoKo: Bärmudadreieck!«
Mittwoch
»Haben Sie das gelesen?« Der Polizeichef klatschte die Tageszeitung auf seinen Schreibtisch. Rainer legte den Kopf schief. ›PANDAMIE IN NEU-BIELEFELD‹ titelte die Schlagzeile.
»Dieser verdammte Investigativo«, wetterte der uniformierte Superheld. »Der kann sich auf was gefasst machen, wenn …«
»Wie läuft’s mit der Sonderkommission?«, fiel ihm Rainer ins Wort.
»Oh, … äh … gut. Wir hoffen tatsächlich, heute einen Durchbruch zu erzielen. ›Operation: Lockdown‹ steht kurz vor ihrem Beginn.«
Rainer runzelte die Stirn. »›Lockdown‹?«
»Eine Idee des Zoowärters.« Der Polizeichef fläzte sich in den Ledersessel und überkreuzte die Füße auf der Tischplatte. »Was wissen Sie über Pandabären, Kommissar?«
Rainer musste nicht lange überlegen: »Chinesisch. Schwarz-Weißes Fell, putziges Auftreten. Glaubt man den Fritzen in Hollywood, beherrschen manche von ihnen Kung-Fu.«
Der Superheld fiel beinahe vom Stuhl, er riss die Hände hoch und konnte gerade noch seine Balance halten. »Das wird ja immer schlimmer! Wollen Sie etwa sagen, die Dinger beherrschen Kampfsport?«
»Das war ein Scherz.«
Der Polizeichef setzte sich wieder gerade hin und positionierte den Tacker auf dem Schreibtisch rechtwinklig zur Kante. »Über eine Pandamie macht man keine Witze! Der ›P-Wert‹ liegt jetzt schon bei 0,55!«
»Der ›P-Wert‹ …?«
»Prozentualer Anteil aller gesichteten Pandas im Verhältnis zur Bevölkerungsanzahl. Sie wissen nicht besonders viel, wenn ich das sagen darf.«
Rainer schwieg.
Der Superheld nahm den Faden wieder auf: »Na schön … ›Operation: Lockdown‹. Kommissar, was fressen Pandas am liebsten?«
»Eukalyptos?«
»Hab ich bis gestern Abend auch gedacht. Aber das ist falsch. Wovon Sie reden, sind Koalas. Und wissen Sie was? Der Zoowärter meint, das sind nicht mal richtige Bären. Sondern Beuteltiere … wie Kängurus.« Er nickte ernst, um seine Aussage zu unterstreichen. »Also … Pandas fressen Bambus. Und zwar jede Menge. Daher klappern meine Leute in diesem Moment die Gartencenter und Baumärkte ab, um die größtmögliche Menge davon aufzukaufen. Dann legen wir daraus eine Spur in der Stadt aus und locken die Bären damit runter ins Twellbachtal.«
»Warum gerade dorthin?«
»Nun, erstens, weil der Name der Operation ansonsten wenig Sinn ergibt. Und zweitens, es ist weit ab vom Stadtkern, dort können die Tiere …«
Die Tür zum Büro flog auf und Der Praktikant stolperte in den Raum: »Chef! Wir haben ein Riesenproblem!«
Der Polizeichef sprang auf. »Ist etwas mit den Bären?«
»Nein, mit dem Bambus!«, schnaufte der Junge im Spandexkostüm.
»Nun reden Sie schon, Mann!«
»Offenbar haben sich vier Superschurken zusammengeschlossen, um ›Operation: Lockdown‹ zu vereiteln! Sämtliche Gartencenter und Blumengroßmärkte wurden soeben in Schutt und Asche gelasert. Der Zoowärter hat versucht, es allein mit ihnen aufzunehmen. Er ist tot.«
Der Kopf des Polizeichefs lief bei dem Bericht rot an, seine Stimme überschlug sich: »Was? Welche Schurken? Von wem reden wir?«
Der Praktikant fuddelte ein zerknittertes Stück Papier aus der Hosentasche. »Soweit wir wissen, handelt es sich dabei um … Dr. Ecksack, Chauvinist, Baron von Chaos und Mistress Menopause«, las er vom Zettel ab. »Doch … das ist noch nicht alles. Sie haben sich unter einem neuen Namen formiert!«
Selbst Rainer hielt die Luft an. Ein Bündnis verschiedener Superschurken hatte es in Neu-Bielefeld bislang noch nicht gegeben.
»Sie nennen sich die … ›Pandastic Four‹.«
Donnerstag
Rainer lief durch die menschenleere Fußgängerzone. Er kam sich vor wie in einer Geisterstadt, wären da nicht die sterbenden Pandas gewesen, die zu Dutzenden auf dem Kopfsteinpflaster herumlagen. Man hatte die Tiere nicht versorgen können, das superschurkische Bündnis erstickte sämtliche Bemühungen im Keim. Niemand schoss mehr Selfies.
Die Erschütterung einer Explosion, einige Querstraßen entfernt, ließ Rainer aufhorchen. Seine Hand fuhr zur Dienstwaffe, doch es schien keine Gefahr in Sicht und erneut drifteten seine Gedanken davon.
Der Polizeichef war zurückgetreten und von der Bildfläche verschwunden. Das dynamische Heldenduo Captain Cool und Sergeant Super hatte die Führung übernommen. Kurzerhand verhängten sie den Ausnahmezustand über die Stadt und befahlen der Bevölkerung, bis auf Weiteres in ihren Wohnungen zu bleiben. Zu gefährlich seien die hinterhältigen Terrorangriffe der ›Pandastic Four‹, die überall und zu jeder Zeit erfolgen konnten. Die beiden Militärs absolvierten regelmäßig Patrouillenflüge, während die Menschen zahlreich auf ihren Balkonen standen, ihnen zuwinkten und applaudierten.
Ein leierndes Quietschen riss Rainer aus seinen Gedanken, ein Stück voraus kam ihm eine kostümierte Gestalt entgegen. Sie schob einen vollen Einkaufswagen vor sich her, dessen Räder schon bessere Zeiten gesehen hatten. Als sich der Abstand verringerte, erkannte Rainer das braune Kostüm mit dem weißen Ausrufezeichen auf der Brust. Innerlich stöhnte er auf: Nicht auch noch diese Durchgeknallte!
»Ah, Kommissar Zufall! Schön Sie zu sehen«, grüßte die Blondine im schlammfarbenen Jumpsuit. Ihre Augen verbarg sie unter einer verspiegelten Sonnenbrille.
»Klugscheißerin.« Rainer deutete ein Nicken an und wollte bereits weiterziehen, doch die Superheldin schob den Einkaufswagen in seinen Weg. Klopapier und Nudelpackungen türmten sich darin.
»Wussten Sie, dass es auf zwei Dinge ankommt, wenn man in eine Pandamie gerät?«, fragte die Blondine. »Kontrolle des eigenen Kohlenhydrathaushalts und regelmäßiger Stuhlgang.«
›Niemand kann Sie leiden‹, lag Rainer auf der Zunge, doch dann kam ihm eine Idee. »Was wissen Sie über Pandabären?«, fragte er und wappnete sich auf einen Schwall Belehrungen.
»Ailuropoda melanoleuca … große Bären-Katze«, begann die Klugscheißerin, »Wussten Sie, dass der gemeine Panda vier Daumen besitzt?«
»Äh …«
»Erstaunlich, nicht wahr? Und seine Speiseröhre ist von Natur aus mit Horn ausgekleidet, sodass ihn die scharfkantigen Stücke der enormen Mengen an Bambus nicht kratzen.«
»Enorm?«
»In der Tat. Ein ausgewachsener Panda benötigt bis zu achtzehn Kilogramm Bambus pro Tag. Zehn davon scheidet er im Laufe besagter Zeit wieder aus.«
Rainers Blick glitt unwillkürlich zum Monatsvorrat an Toilettenpapier.
»Und hören Sie dieses Geräusch? Dieses ›Hupen‹?«, fragte die Klugscheißerin. Sie drehte den Kopf und legte einen Zeigefinger an die Lippen.
Rainer lauschte. Tatsächlich vernahm er aus einer Seitengasse ein schwaches, tief kehliges Geheul. Es klang fast wie eine alte Autohupe. »Ja. Was ist damit?«
»Nun, diese Geräusche machen sie, wenn es ihnen nicht gut geht. «
»Kein Wunder. Sie sterben.« Rainer lupfte die Augenbrauen.
»Na, das erklärt aber einiges. Haben Sie sonst noch Fragen, Kommissar?«
»Nur eine: Was sollte man Ihrer Meinung nach gegen das Problem unternehmen?«
»Wenn Sie ›Man‹ sagen, meinen Sie sich selbst?«
»Ja.«
»Dann … nichts.«
»Wie jetzt? Wir sollen einfach nichts tun?«, fragte Rainer verwirrt.
»Das habe ich nicht gesagt.« Die Klugscheißerin erhob mahnend den Zeigefinger. »Ich sagte, ›Sie‹ sollten nichts unternehmen. Sie sind kraftlos, Kommissar. Bloß ein gewöhnlicher Mensch.« Sie klopfte auf die oberste Packung Klopapier. »Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram und sitzen Sie die Sache aus. Wir Helden werden das schon regeln. So wie immer. Alles andere wäre ein Bärendienst.« Damit ließ sie ihn stehen und schob den quietschenden Einkaufswagen die Fußgängerzone hinunter.
Rainer sah ihr nicht nach. An seiner Peripherie sackte ein Panda offensichtlich tot zusammen, vom Ende der Innenstadt trug der Wind neben dem Wimmern der verendenden Tiere einen süßlichen Verwesungsgeruch herbei.
Freitag
Rainer seufzte unter seinem ›Mund-Nasen-Schutz‹ und drückte auf die Türklingel.
Mund-Nasen-Schutz, was für ein Schwachsinn, dachte er. Aber es einfach ›Maske‹ zu nennen, ging ja auch nicht. Sie hatten es ausprobiert. Die Rate der Raubüberfälle war exponentiell angestiegen, nachdem sämtliche Läden und vor allem die Sparkassen bloß noch mit ›Maske‹ zu betreten waren. Und es wurde noch schlimmer, denn das Bündnis der ›Pandastic Four‹ rief etliche Nachahmer auf den Plan. Die Situation spitzte sich zu, als eine neue, böse Organisation namens ›Megalomanische Anarchisten für interdisziplinäre Angelegenheiten‹, kurz: M.A.F.I.A. die städtische Abfallentsorgung kaperte. Ihr Anführer, ein Schurke, der sich selbst Professor Pirat nannte, machte mit seiner Flotte orangefarbener Müllwagen die Straßen unsicher.
Die Menschen blieben verunsichert in ihren Wohnungen, nur noch wenige kamen auf die Balkone, um den Helden zu applaudieren.
Rainer rückte das Gummiband hinter seinem Ohr zurecht und klingelte ein zweites Mal. Dann also Mund-Nasen-Schutz. Wobei die Dinger nicht wirklich schützten. Der Mief der verwesenden Bärenkadaver kam durch, egal, was für ein Modell man trug. Die Stadt stank zum Himmel.
Es musste etwas passieren, und zwar schnell.
Er drückte erneut auf die Klingel. Die cremefarbene Tür der noblen Stadtvilla dämpfte den schellenden Ton und von drinnen hörte er, wie seine Ex-Frau flötete: »Ja-ha … ich komm-e!«
Er atmete tief durch. Die Tür ging auf. Sie trug ihr Kostüm. Marineblaue Seide, weißes Cape. Auf der Brust ein emporgestreckter Daumen. Lady Like®. Ihre Rehaugen weiteten sich bei Rainers Anblick: »Schnubbi? Was machst du denn hier? Und was ist das auf deinem Gesicht? Sag bloß, du hast endlich Kräfte entwickelt? Gehört die Maske zu deinem Kostüm?« Jetzt beäugte sie ihn von Kopf bis Fuß. Ihre Überraschung erschien ihm echt. Ihr Lächeln war wie immer umwerfend, ihre brünetten Locken perfekt gedreht.
»Hallo Monika. Bitte nenn mich nicht so. Darf ich hereinkommen?«, fragte er und schob sich an ihr vorbei.
»Na klar, komm rein, Schnub … Rainer.«
Das Weiß der Wände blendete ihn. Eine einzelne langstielige Lilie in einer Porzellanvase auf einem filigranen Kirschholztischchen fing die Blicke im Raum.
Rundherum hingen Ölgemälde des Neu-Bielefelders Superkünstlers Captain Komplementär, die allesamt epische Szenen aus Monikas Karriere darstellen: Lady Like® im Faustkampf gegen den Rechten Ritter, Lady Like® verfolgt im Sturzflug Professor Proletariat, Lady Like® reckt den Daumen in die Höhe für 200.000 Klicks auf ›Supertube‹.
Rainer nahm den Mund-Nasen-Schutz ab. Monika schloss die Haustür und sah ihn erwartungsvoll an. Seine Augen glitten über ihre Aufmachung: »Trägst du dein Kostüm jetzt schon in der Freizeit?«
»Hm?« Sie sah an sich herab. »Ach so, … das. Nein, ich hab …« Ihr Blick huschte zur angelehnten Tür, hinter der Rainer das Wohnzimmer wusste. »… noch … gearbeitet. Social Media, kennst du ja.«
Sie war gut. Fast hätte er ihr das Lächeln abgekauft. Erst jetzt nahm er den schwachen Geruch nach Sex wahr, der wie ein unsichtbarer Schleier über ihr hing. »Oh ja, klicken bis der Arzt kommt, kenne ich. Monika, ich komme direkt zu Sache. Ich brauche deine Hilfe bei dem Bärenproblem.«
»Bären?«
Nun waren es Rainers Augen, die sich reflexartig weiteten. »Willst du mich verarschen? Da draußen wütet eine Pandamie! Es regiert das Chaos! Sag mir nicht, du weißt nicht, wovon ich rede?«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn an: »Schn … Rainer, ich hab die letzten vier Tage hinter verschlossenen Türen mit meinem neuen Freund verbracht, wenn du’s genau wissen willst. Bitte entschuldige, wenn ich die Stadt nicht durchgehend 24 Stunden beschütze! Auch meine Kräfte müssen sich mal erholen. Das wüsstest du, wenn …«
»Fang jetzt nicht so an, Monika! Nicht schon wieder!«
Die Wohnzimmertür ging auf. Im Rahmen stand ein kostümierter Mann im schwarzen Körperpanzer, übersät von kleinen gelben Emoticons. Auf seinen Schultern und zu seinen Füßen hockten und wuselten kleine metallene Wesen, kugelrund mit Armen und Beinen, in etwa eine Handbreit groß.
»Kann ich vielleicht helfen? Moderation ist schließlich meine Spezialität«, sagte er und lächelte schief.
Rainers Blick wechselte von dem Unbekannten zu seiner Ex-Frau. Sie seufzte auf.
»Rainer, das ist mein neuer Freund … Chatman.« Ihre Hand wedelte zwischen den Männern umher. »Schatz, das ist mein Ex-Mann, Rainer.«
»Ah, Kommissar Zufall! Ich habe schon so viel von Ihnen gehört.« Der Superheld grinste und machte zwei Schritte auf ihn zu, streckte ihm die Hand entgegen. Die Roboter auf seinen Schultern hielten gerade so die Balance.
Rainer ließ ihn eiskalt stehen, macht sogar einen halben Schritt zurück. »Was sind das für Dinger?«
Chatman senkte die Hand, das Grinsen verschwand. »Das sind bloß meine Bots. Absolut harmlos, Kommissar. Quasi meine kleinen Helferlein. Was hörte ich da eben über … Pandabären?«
Samstag
Lady Like® und Chatman versprachen zu helfen. Sie nutzten ihre mediale Reichweite und riefen zum Kampf gegen die ›Pandastic Four‹ und M.A.F.I.A. auf.
Es funktionierte. Dutzende von Superhelden fanden sich zusammen, sie formierten sich als geschlossene Front, um fortan gemeinsam für grundlegende Gerechtigkeit zu streiten.
Das ›3G‹-Bündnis war geboren.
Die Stadt glich einem Kriegsschauplatz. Luftkämpfe und erbitterter Häuserkampf ließen zahlreiche Gebäude einstürzen, viele Kämpfer auf beiden Seiten ließen ihr Leben. Der Konflikt endete, als die Schurken einen Sturm auf die Treppen des Rathauses wagten. Es kam zum epischen Duell zwischen Lady Like® und dem Chauvinisten, das Titelfoto der Zeitungen zeigte schließlich Rainers Ex-Frau, wie sie triumphierend einen Fuß auf dem Rücken des am Boden vor dem Rathaus liegenden Superschurken platzierte und dabei ihren Daumen siegreich nach oben reckte.
Es war vorbei.
Am Ende war es die Superheldin Fräulein Wunder aus dem ›3G‹-Bündnis, die eine zündende Idee für das noch immer schwärende Pandaproblem hatte.
Sonntag
Die Sonne schien. Die Vögel sangen. Das Leben war wieder in Ordnung.
Rainer spazierte mit einer Zeitung unter der Achsel durch den gut besuchten Stadtpark. Er kratzte sich am Arm, dort, wo die Ärzte ihm die Injektion gesetzt hatten, juckte es ein wenig.
Rainer atmete tief durch die Nase ein, er sog die frische Luft regelrecht in seine Lungen. Nichts. Daran würde er sich erst gewöhnen müssen.
Die Lösung gegen den Gestank war so simpel wie erfolgreich: Auf Wunsch erhielten alle Bürger ein in Rekordzeit entwickeltes Serum, das den Geruchssinn ausschaltete.
Am Rande des Ententeichs bot ein Straßenhändler eisgekühltes Importbier an. Rainer kaufte zwei Flaschen, in deren Hälse je ein Limettenschnitz steckte und steuerte eine Parkbank im Halbschatten an. Während der kühle Gerstensaft durch seine Kehle rann, beobachtete er die Menschen, wie sie einen weiten Bogen um die verrottenden Bärenkadaver machten. Frei nach dem Motto: ›Was ich nicht rieche, existiert nicht‹. Er nahm einen weiteren Schluck Bier und schlug die Zeitung auf:
ABHOLZUNG DES TEUTOBURGER WALDES ERREICHT NEUES HOCH – FLEDERMAUSPOPULATION IN ERNSTER GEFAHR.