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Kolpje unter Kieselsteinen
Am Anfang gab es nur Kolpje und einen leeren Magen. Wenig später trafen sie auf einen leeren Kühlschrank. Kolpje kramte seinen Kalender aus der Schublade hervor und rief: „Mittwoch.“ Mittwoch war Einkaufstag. Nichts wie in die Jacke, Türe auf, Treppe runter, Treppe wieder rauf, Türe zu und gleich mit einem gewagten Satz über die Stufen weg und auf die Straße raus. Der Herr Nachbar auch schon munter, guten Morgen allerseits, der Nachbar hört nichts, er schnallt sich an und fährt gleich los.
Kolpje flink auf den Beinen weicht ihm aus, lächelt flüchtig und im Allgemeinen ohne Zielobjekt. Nachts gilt es den Sternen und am Tag vielleicht den Schatten, die sie werfen. Kolpje ist frisch wie Gemüse und fühlt sich stark genug für eine Reise oder Flucht, irgendwohin, Mexiko klingt wunderbar. Aber davor noch schnell zum Supermarkt und eingekauft, was alle ist.
Auf einmal heißt es Stop, weil klar ist, dass es hier nicht weiter geht. Es steht da was, was da nicht hingehört und blockiert frech den Gehsteig. Das ist ein kleiner Bretterzaun mit roten und weißen Streifen, einer, wie sie ihn auf Baustellen haben, damit die Arbeiter nicht abhauen oder damit man nicht in das Loch fällt, das sie gebuddelt haben.
Aber der Zaun hat nichts mit einer Baustelle zu tun, weil es keine gibt. Da hat einfach einer einen Zaun hingestellt, ohne sich was dabei zu denken. Kolpje sieht genau hin, es gibt kein Loch und eigentlich auch keinen Grund für eine Baustelle, die Straße ist wie neu und glänzt sogar ein bisschen. Man hat sich einen Spaß erlaubt, denkt Kolpje, da will ihm jemand Streiche spielen.
Kolpje pfiffig wie ein Mäuschen lässt sich nicht aufhalten. Der Zaun ist ein Ärgernis, aber kein Hindernis. Kolpje ist ein Hürdenlaeufer, ein paar Schritt zurück gemacht, Anlauf genommen und los wie der Blitz, den Wind im Rücken und den Schwung in den Beinen. Beine wie ein Jagdhund keine hat. Eine Freude, das zu sehn, diese Wucht und diesen Mut. Schnell schnell, nur hurtig ran an die Gefahr, nur rasch voran im Sauseschritt.
Kopje zögert nicht und springt, der Boden unter ihm erzittert und verschwimmt, Kopje in Anmut, etwas wie ein Schwan, in der Luft. Sein Körper gespannt und Eins mit dem Wind, einen Moment lang in der Schwebe ueber dem Zaun, die Beine weit gestreckt, endlich dann, nach einer Sekunde oder Weile langsames Sich neigen, im Sinkflug wie ein Bussard. Bei der Landung keinen Laut, Kolpje merkt fast nichts, er landet wie auf Wolken, seine Fueße spüren nur ganz leichten Widerstand, welch Gefühl in Schaum zu tauchen.
Kolpje wieder unten und mit einem Lächeln im Gesicht. Plötzlich wird er misstrauisch. Wo sind seine Füße, sind nicht da und nicht zu finden. Wenig später sind sie immer noch verschwunden, aber Kolpje erkennt den Sachverhalt. Er steckt bis zu den Knöcheln in Zement und es geht nicht gut voran. Genau genommen geht es keinen Schritt voran, die Einzelheiten spielen jedoch im Augenblick keine besonders große Rolle, da Kolpje andere Sorgen hat.
Das ganze ist eine zähe Sache und er entkommt nur mit Mühe, dafür aber ohne seine Schuhe. Das Opfer musste gebracht werden, das sieht er ein, für die Schuhe gab es keine Hoffnung. Irgendwie wehmütig blickt er noch einmal auf zwei graue Umrisse, die in diesem Moment langsam im Zement versacken und ihn nur noch entfernt an seine Schuhe erinnern. Vielleicht ein bisschen Titanic. Kolpje macht sich auf die Socken und nimmt sich vor, neue Schuhe zu besorgen. Kurz darauf hat er es bereits wieder vergessen, da ihm das Laufen nicht sehr schwer fällt.
Kolpje lebhaft wie ein Känguruh macht große Sprünge um die Socken zu schonen und ist schnell unterwegs, wird erst von einer roten Ampel und wild hupenden Autos gestoppt. Mit einem Satz ist er auf dem Gehsteig und wartet bis es weitergeht. Neben ihm eine Frau, alt, klein, mit Sorgenfalten und noch anderen im Gesicht. Die Beine dürr und wackelig, alles in allem scheint sie sich nicht sicher zu sein, was zu tun ist. Kolpje wach wie selten weiß sofort, was sie will.
Er sieht die Szenerie, sieht in Gedanken, wie es ihr mühevoll gelingt, den halben Weg ans andere Ufer hinter sich zu bringen und wie sie dann vor Angst vergeht, weil das rote Männchen wieder schneller war. Da ist es doch kein Wunder, dass sie so bibbert, denkt sich Kolpje und nimmt sie an die Hand.
Das kleine Ding blickt ängstlich an ihm hoch und seufzt erleichtert oder ratlos auf. Kolpje mit Heldenblick wartet auf das Zeichen. Dann geht’s los, du Tarzan, ich Jane, er sieht das grüne Männchen und stürmt los. Fest im Blick das Ziel, die Augen starr nach vorne wirft sich Kolpje in den Wind. Irgendwas, das kreischt und zerrt an seinem Arm, ist aber nicht sehr schwer und wird einfach mitgeschleift. Kolpje nicht zu halten fegt ueber den Asphalt, er ist außer Rand und Band, jenseits aller Schwerkraft, den Wind reißt er noch mit und bremsen tun die andern.
Kurz vorm Ziel, zwei Schritte bis zum Bordstein, schaltet die Ampel plötzlich um. Kolpje auf alles vorbereitet macht den Panther, setzt zum Sprung an und, vorneweg ein wilder Schrei, segelt er zum Rand. Ein kurzer Ruck und auch die Fracht ist drüben. Mit einem dumpfen Ton klatscht sie auf den Bürgersteig. Das war im Lehrbuch anders, denkt sich Kolpje, aber ist ja einerlei. Gerettet ist gerettet. Die Alte widerspricht ihm nicht, sie liegt einfach da und macht im Wesentlichen nicht mehr viel. Kolpje fühlt, dass sie zufrieden ist, er ist bescheiden wie ein Held, wartet nicht auf Dank und geht gleich munter weiter.
Endlich ein Geschäft mit Schuhen, leider handelt sich´s um eine Schusterei. Kolpje ist das schon egal, als er in der Nähe laute Stimmen hört. Es sind überraschend viele und er beschließt, der Sache nachzugehn. Ein paar Schritte weiter weiß er mehr. Demonstranten mit Plakaten stehen auf der Straße dicht gedrängt. Sie rufen durcheinander, pfeiffen oder drohen mit den Fäusten. Kolpje bleibt abseits und sieht sich alles an.
Gegenüber ist ein Supermarkt, da muss er noch hin. Nur gibt es da ein Problem, das Gewimmel und Gewusel ist bedrohlich. Die Stimmung ist gereizt, die Masse ist schon aufgebracht. Gegen die Regierung wird geeifert, Steuern sollen weg und der Kanzler gleich dazu, Kolpje denkt sich, das wird eng.
Er begibt sich in die Menge, nicht ganz ohne Zweifel, Kolpje ist ein Realist. Schwimmerqualitäten sind gefragt, mit kräftig Rudern geht’s voran. Die Massen wälzen leider ueber seine Socken, Kolpje schwitzt und stöhnt kurz auf. Wie ein Taucher paddelt er voran, macht ein Gesicht wie ein Nilpferd und bewegt sich zentimeterweit. Irgendwann hat es Kolpje, völlig aus der Puste und rot wie ein Hummer, endlich geschafft. Vor ihm liegt die Eingangstür vom Supermarkt. An der Türe hängt ein Schild, geschlossen. Verdammt, denkt Kolpje und kratzt sich am Kopf. Er hat nicht lange dort gestanden als sich jemand seinen Arm schnappt.
Heute gibt es nichts zu kaufen, weil alles auf der Straße ist und demonstriert, wird ihm da gesagt. Kolpje findet das bedauerlich, was soll das denn. Ausgerechnet heute, sagt er, heute ist doch Einkaufstag, Mittwoch ist der Einkaufstag. Der Herr, der Kolpjes Arm hat, schüttelt bloß den Kopf und grunzt ärgerlich, hierbei dreht sich´s um die Politik und das geht ja jeden an, was er sich denn dabei denkt. Kolpje denkt, es ist enttäuschend.
Da stimmt der andere ihm gleich zu, die Regierungsarbeit ist enttäuschend. Kolpje will berichtigen, was er meint ist mehr was anderes, enttäuscht ist er weil´s nichts zu Kaufen gibt, eigentlich ist Einkaufstag, die ganze Woche schon gewartet und dann sowas. Hatte er doch vor, sich neue Schuhe zu besorgen, nichts ist, das Aufstehn in der Frühe ganz umsonst.
Die erstaunten Blicke seines Gegenübers, als er auf die Socken blickt, mildern Kolpjes Unbehagen nicht. Stattdessen wird jetzt losgepoltert. Politik hat keine Öffnungszeiten, Politik ist jederzeit. Politik ist jetzt und hier, drücken gibt’s da nicht, du kommst mit und fertig. Kolpje hält sich in den meisten Fällen raus, hat doch nichts am Hut mit Demonstrieren. Durchs Wettern wird der Kühlschrank auch nicht wieder voll. Die Demokratie war sowieso noch nie sein Fall, immer ist er Minderheit.
Aber man müsse doch was tun, gegen all die Parasiten, all die Steuerfresser, an die Arbeit all die Faulen, Alten und das Pennerpack. Alle packen an, heißt die Devise, die Pflicht liegt nun bei der Regierung, gibt ja noch entsetzlich viel zu tun.
Kolpje wendet ein, doch selbst vom Staat zu leben, Arbeit braucht er keine, zufrieden sein geht ja auch ohne. Wer will, der kann ja, Arbeitsplätze gibt’s in Massen, er hat doch selbst gesagt, da sei noch viel zu tun, alles in allem in Butter. Der andere ist verwirrt, wird rabiat und schreit in Kolpjes Ohr Dinge wie Krieg, der drohend über allem schwebe, den müsse man verhindern, wir demonstrieren für den Frieden, keinen Krieg steht auf der Fahne. Schlechterdings hat Kolpje nichts davon gehört, der Krieg geht ihn nichts an, ist doch irgendwo im Hinterland von nirgendwo, in Ländern, die im Allgemeinen keine Namen haben.
Kolpje fühlt, das war zuviel, der feste Griff um seinen Arm wird enger und schon sieht er sich reingezogen ins Getümmel. Nur zeitweilige Bewegung möglich, Kolpje nutzt die Zeit zum Atmen, steckt aber gleich darauf schon wieder fest. Die Unruhe nimmt stetig zu, alles nicht mehr überschaubar, irgendjemand schreit was von oder nach Polizei, bald darauf Sirenen.
Ein Stein fliegt knapp an Kolpjes Ohr vorbei, die Kriegsgegner rüsten auf. Auf einmal lautes Stimmgewirr gleich oben an der Kreuzung, Uniformen blitzen flüchtig auf, aus Lautsprechern tönen Worte oder Durchsagen. Ein bisschen Flughafen, denkt Kolpje und weicht gerade noch rechtzeitig einem weiteren Geschoss aus, diesmal nur ein Plastikteil, nicht besonders schnell und sieht aus wie ein halbes Telefon.
Am Straßenrand klirrt es, jemand macht sich einen Spaß daraus, die Fensterscheiben einzuwerfen. Dann Trillerpfeiffen, Durchsagen erneut, der Nachdruck wachsend. Kolpje meint, es kann kein Fehler sein, sich langsam fort zu machen. Die Läden in den äußeren Bezirken sind vielleicht noch offen, denkt er, und es wurde wirklich Zeit für neue Schuhe.
Das Gedränge tut den Füßen gar nicht gut, wenn man außer Socken nichts mehr trägt. Springerstiefel tanzen über Kolpjes Füße und bringen sie zum Schmerzen. Kolpje hat die Ahnung, dass nicht alles läuft wie es geplant war, mittlerweile streiten und beschimpfen sich die Demonstranten gegenseitig, Hiebe ohne Ziele, aufgestaute Wut auf Polizisten, die sich am Rande stehend zieren, da sie lieber debattieren. Irgendwo ein Taschenspiegel oder eine Messerklinge, gleich gefolgt von Angst und Kreischen wie von Sinnen.
Kolpje mit Gleichmut wie ein Opfer denkt sich bloß noch weg und endlich neue Schuhe kaufen. Der immerwährende Versuch, sich wegzuwühlen, scheitert. Kolpje offensichtlich nicht gemacht zum Wühlen. Wenn er nicht aufpasst ist er eins zwei drei platt wie ein Fisch und das fände er nicht gut. Kolpje lässt sich nicht platt machen, ganz entschieden nicht, einkaufen will er, einfach nur einkaufen, der Kühlschrank ist doch leer, und sein Hunger lediglich durch den Gestank gemindert, Moment, wundert Kolpje sich, der Gestank, woher kommt denn der Gestank. Die Antwort schnell bekannt, Kolpje sieht den Mann, ein Wirbelwind, mit Obst oder Chemikalien um sich werfend, losgelöst von allen Sitten.
Gemeinsam abgesprochen oder nicht, plötzlich geht was vor sich, Kolpje nicht ganz sicher, was tatsächlich, aber mit dem Vorbehalt, dass es etwas Schlechtes ist. Eine junger Mann gerade eifrig, die weinende Begleiterin zu trösten, dahinter ein bisschen Gerangel, ein bisschen Gefecht. Die Polizei scheinbar nicht darin verwickelt, natürlich gab´s die Möglichkeit, dass die Beamten nicht erkennbar waren, weil die Mützen fehlten. Zumindest ein Gedankengang, wenn man die Jugendlichen mit den Mützen im Gedränge sah.
Irgendwo wird Kichern zu Lachen. Verhältnismäßig hemmunglos die Stimmung. Ein bisschen Volksfest in den Ecken. Woanders bricht eine Frau in Gewimmer aus, schlägt die Hände vors Gesicht, aus dem Männlein neben ihr tropft Blut. Kapitän, ein Leck in unserm schönen Boot, geben sie unverzüglich Befehl zum Auftauchen. Der Mann vielleicht am Ohr verletzt, der Befehl missverstanden, ein Abtauchen in die falsche Richtung ist erfolgt und der Mann schon unsichtbar, nur sein Arm ist noch kurz da und wieder weg. Kolpje allmählich nachdenklich fragt sich ob das Absicht war, der Plan scheint lückenhaft zu sein, diese Antikriegsdemonstration ist nicht im Mindesten erfolgreich.
Die ersten Leute kommen zu dem selben Schluss und beginnen, sich genauso durchzuwühlen. Wenig später nur noch Wühlen überall, Nutzen nicht erwähnenswert, ein Hauch von Panik. Kolpje resigniert stellt fest, dass noch keine Rettung naht, alles in allem glaubt er nicht mehr an ein gutes Ende.
Mittlerweile setzen Polizisten Wasserwerfer ein, nichts ist überschaubar, alles nass, Wasser auf den Kleidern auf der Haut. Bald der Wunsch, eine Schildkröte zu sein. Kolpje setzt sich auf den Boden, sieht nichts, hört nichts und stellt sich vor, eine Schildkröte zu sein, eine Weinbergschnecke, ein Kieselstein oder einfach woanders, vielleicht in Mexiko, vielleicht noch gar nicht richtig aufgestanden.